Neues Kapitel im Naturschutz: Wiederherstellung als Weckruf
Als im Jahr 2024 die europäische Wiederherstellungsverordnung (WVO) in Kraft trat, hat die EU ein neues Kapitel im Naturschutzrecht aufgeschlagen. Gehandelt werden muss ohnehin, denn gut zwei Drittel der FFH-Lebensraumtypen befinden sich in einem ungünstigen Erhaltungszustand. Umso schockierender, dass sich unionsgeführte Agrarministerien jüngst mit Briefen an die EU-Kommission und den Bundeslandwirtschaftsminister gewandt haben, in denen eine Fristverschiebung und die Demontage der Verordnung gefordert wird.
Naturschutzverbände kritisierten das scharf. Erfreulicherweise sprachen sich viele Umwelt- und Landwirtschaftsminister*innen kurz danach bei der EU-Kommission für eine ambitionierte und zügige Umsetzung der WVO aus.
Die Verpflichtung zur Wiederherstellung von Lebensräumen ist übrigens nicht neu: Sie besteht bereits seit 1992 durch die FFH-Richtlinie. Neu ist jedoch, dass die WVO nun konkrete Fristen vorgibt. Ein entscheidender Schritt, da Deutschland in den vergangenen Jahren mehrfach wegen unzureichender Umsetzung von der EU verklagt wurde. So konkretisieren die in der Wiederherstellungsverordnung gesetzten Fristen die Umsetzung der FFH-Richtlinie. Die Maßnahmen dienen zudem der Umsetzung übergeordneter Strategien wie der EU-Biodiversitätsstrategie 2030 und dem globalen Weltnaturabkommen.
Die WVO als rechtlicher Weckruf
Im Herbst 2023 verurteilte der Europäische Gerichtshof Deutschland, weil Erhaltungs- und Entwicklungsmaßnahmen in einigen FFH-Gebieten nicht ausreichend waren, um den günstigen Erhaltungszustand für geschützte Arten und Lebensräume zu sichern.
Ende 2024 folgte eine weitere Klage, diesmal wegen des voranschreitenden Verlusts artenreicher Grünland-Lebensräume und unzureichender Schutzmaßnahmen. Dieses Urteil dürfte sinngemäß auch auf andere bedrohte Lebensraumtypen (LRT) in Deutschland übertragbar sein (siehe auch Naturschutz und Landschaftspflege 11/24).
Nicht zuletzt, um Strafzahlungen zu vermeiden, ist es im Interesse Deutschlands, die Defizite bei der Umsetzung der FFH-Richtlinie zügig zu beheben. Bleiben Fortschritte aus, drohen weitere Vertragsverletzungsverfahren.
Lebensraumtypen in einen guten Zustand versetzen: Zielvorgaben und Umsetzungsschritte
Artikel 4 der WVO stellt deshalb die Wiederherstellung der im Anhang I gelisteten LRT in den Mittelpunkt. Ziel ist es, diese Land-, Küsten- und Süßwasserökosysteme in einen guten Zustand zu versetzen. Die Umsetzung soll stufenweise erfolgen:
- bis 2030: Wiederherstellungsmaßnahmen auf mindestens 30 Prozent der Flächen, die sich nicht in gutem Zustand befinden,
- bis 2040 auf 60 Prozent und
- bis 2050 auf 90 Prozent der Flächen.
Vorrangig sollen diese Maßnahmen in Natura 2000-Gebieten stattfinden. Für Deutschland bedeutet das: Alle LRT des Anhangs I der Fauna-Flora-Habitat (FFH)-Richtlinie finden sich auch in Anhang I der WVO, insgesamt sind das in Deutschland 93. LRT sind definierte Lebensräume die Anhand bestimmter Strukturen und Arten kartiert und systematisch gruppiert werden können, diese Lebensräume sind für den Erhalt der Biodiversität in Europa besonders wichtig.
Zusätzlich ist die Etablierung neuer Flächen vorgesehen, um die günstige Gesamtfläche (Erklärung siehe unten) aller LRT zu erreichen. Wenn LRT also nicht mehr in ausreichender Ausbreitung existieren, müssen diese auf geeigneten Flächen wieder angelegt bzw. deren Wiederentwicklung gefördert werden. Hier müssen Wiederherstellungsmaßnahmen in Umfang und Zeitabschnitten wie folgt begonnen werden:
- bis 2030 müssen auf mindestens 30 %,
- bis 2040 auf 60 % und
- bis 2050 auf 100 % der Flächen.
Um die Messung dieser Ziele (guter Zustand aller LRT) möglich zu machen, müssen die Mitgliedsstaaten spätestens bis 2030 den Zustand von 90 Prozent und bis 2040 den Zustand aller LRT erfasst haben.
Begriffe mit Tragweite: Guter Zustand und günstige Gesamtfläche
Zwei zentrale Begriffe prägen Artikel 4 der WVO: der gute Zustand und die günstige Gesamtfläche.
- Die Definitionen des „guten Zustand“ (zu finden in Art 3 (4) WVO) ähnelt auf den ersten Blick stark der des schon aus der FFH-Richtlinie bekannten “günstigen Erhaltungszustand”“. Beide legen den Fokus auf den langfristigen Fortbestand von Struktur, Funktion und charakteristischen Arten (vergleich Art. 3 e) FFH-RL). Diese Ähnlichkeit ist auch sinnvoll, denn die Wiederherstellungsverordnung soll mit den durch sie gesetzten Fristen die Umsetzung der FFH-Richtlinie verbessern. Im Unterschied zum „günstigen Erhaltungszustand“ der FFH-Richtlinie bezieht sich der „gute Zustand“ nicht auf den gesamten Lebensraumtyp, sondern einzelne Flächen. Auch hier wird also eine Lücke geschlossen, damit langfristig auch wirklich die Gesamtheit eines Lebensraumtyps bewahrt wird.
- Allerdings kann es sein, dass von einem Lebensraumtyp nicht mehr genug Flächen vorhanden sind als für seinen langfristigen Fortbestand nötig sind. Dieses Konzept einer nötigen Mindestfläche drückt die „günstige Gesamtfläche“ aus. Auch dieses Kriterium ist nicht neu und bereits aus der Berichterstattung zur FFH-Richtlinie. Für einen „günstigen Erhaltungszustand“ nach FFH durfte auch bisher die vorhandene Fläche eines LRT nicht kleiner als die „günstige Gesamtfläche“ sein. Die Wiederherstellungsverordnung setzt hier nun lediglich einen neuen Schwerpunkt, indem sie dieses Kriterium mit eigenen Fristen unterlegt. Maßstab ist dabei mindestens die Fläche, die der Lebensraumtyp 1992 – bei Inkrafttreten der FFH-Richtlinie – eingenommen hat. Wo belastbare Daten fehlen, greifen Schätzmethoden („Operatoren“).
Grundlage für Planung: Daten aus der FFH-Berichterstattung
Um also festzulegen auf wieviel Prozent der Flächen Deutschlands Wiederherstellungsmaßnahmen für LRT bis wann begonnen werden müssen, kann man den FFH-Bericht zu Rate ziehen. Dort wird der aktuelle Erhaltungszustand der vorkommenden LRT für jede biogeographische Region angegeben.
Das für die WVO erforderliche Monitoring zu Artikel 4 entspricht weitgehend der bestehenden Berichtspflicht unter der FFH-Richtlinie. Für die für Artikel 4 relevanten Teile des Wiederherstellungsplans können sich die Mitgliedstaaten auf die laufende FFH-Berichterstattung stützen. Deutschland wird dabei auf die Daten der letzten Berichtsperiode oder auf den für 2025 erwarteten neuen Datensatz zurückgreifen können. Gefordert sind folgende Angaben für Deutschland:
- eine Schätzung der Gesamtfläche aller vorkommenden LRT
- den Anteil der Flächen mit ungünstigem oder unbekanntem Zustand
- den Flächenbedarf zur Erreichung der günstigen Gesamtfläche
- die Flächen, auf denen Maßnahmen zu starten sind – inklusive Zeit- und Finanzierungsplan
Wo die neue Verordnung ansetzt
Für die Bewertung des Erhaltungszustands setzt Deutschland auf ein etabliertes Monitoringverfahren. In jeder biogeografischen Region werden alle sechs Jahre Daten auf 63 Stichprobenflächen für jeden LRT erhoben. Bei LRT mit geringer Verbreitung, wie beispielsweise Alpinen Flüssen mit krautiger Ufervegetation, erfolgt ein Vollzensus. Erfasst werden u.a. Habitatstrukturen, Artinventar sowie bestehende Beeinträchtigungen. Ergänzend fließen Daten der Biotopkartierung der Länder sowie Expert*innen-Einschätzungen ein.
Die folgenden Grafiken stammen aus dem letzten Bericht zur Lage der Natur von 2020 (Die Lage der Natur in Deutschland), der auf den Daten des Vogelschutz- und FFH-Berichtes basiert. Hier zeigt sich, wie der Erhaltungszustand der LRT-Gruppen und auch der LRT zusammengefasst für die biogeographischen Regionen bei der letzten Messung im Jahr 2019 war. Neue Daten werden noch dieses Jahr veröffentlicht.
Im letzten FFH-Bericht wurden 195 Bewertungen für 93 LRT erstellt. Das Ergebnis: Rund 70 Prozent der Lebensraumtypen befinden sich in einem ungünstigen Erhaltungszustand – besonders kritisch in der atlantischen und kontinentalen Region.
Ein Trend zur Verschlechterung ist auch über die Zeit deutlich erkennbar, insbesondere bei artenreichem Grünland. Viele der Treiber der Verschlechterung sind laut dem Bericht auf die Art und Intensität der Landnutzung zurückzuführen, einschließlich der Nutzungsaufgabe.
Der Erhaltungszustand in den meisten LRT-Gruppen überwiegend ungünstig ist. Am schlechtesten geht es den Gletschern, dem Grünland sowie den Binnengewässern.
Maßnahmen, Planung, Finanzierung – was jetzt zu tun ist
Der nationale Wiederherstellungsplan muss neben den konkreten Flächenzielwerten konkrete Maßnahmen umfassen – inklusive Wirkungskontrolle, räumlicher Verortung, Kostenschätzung und Finanzierung. Das FFH-Handbuch des Bundesamts für Naturschutz (BfN)(NaBiV Heft 172 (2.2): Das europäische Schutzgebietssystem Natura 2000 | BFN) bietet dabei eine praxisnahe Orientierung: Für jeden Lebensraumtyp liefert es Empfehlungen zu Pflege, Nutzung, Gefährdungen und Erhaltungsstrategien. Wünschenswert wäre daher, dass sich die Länder, die die Wiederherstellungspläne für ihr Bundesland erstellen daran bedienen.
Was noch nicht geklärt und wofür größere Unterstützung notwendig ist, sind Mechanismen zur Umsetzung dieser Maßnahmen sowie zu deren Finanzierung. In der bisherigen Umsetzung der FFH-Richtlinie sehen wir bereits, dass die Planung und Umsetzung von Managementmaßnahmen häufig verschleppt wurde. Es fehlt häufig an gebietsbezogener Planung und es gibt zu wenig Personal in den Behörden, um die Umsetzung der Maßnahmen zu koordinieren und zu kontrollieren.
Dabei sehen wir an vielen Beispielen auch, dass gezielte Maßnahmen Wirkung zeigen. Zum Beispiel das Naturschutzgroßprojekt „Untere Havelniederung“ in dem in den letzten Jahrzehnten neue Sandbänke, Inseln und Uferwälder geschaffen wurden – mit sichtbarem Erfolg: Arten wie Weißstorch, Kiebitz, Bekassine und Sumpfdotterblume kehren zurück.
Ausblick: Verantwortung und Potenziale
Die WVO markiert eine bedeutende Chance, die besonders wertvollen Lebensräume der FFH-Richtlinie nach über 30 Jahren endlich langfristig auch für zukünftige Generationen zu erhalten. Ihre verbindlichen Fristen lassen den Mitgliedsstaaten dabei immer noch ausreichend Flexibilität und Planungszeiträume und aus Naturschutzsicht wäre auch mit Blick auf den fortschreitenden Klimawandel eigentlich eine Übererfüllung des Artikel 4 ratsam. Für Deutschland bedeutet das: Bestehende Daten und Strukturen jetzt konsequent nutzen und gegebenenfalls ausbauen, Datenlücken gezielt schließen und Maßnahmen effektiv umsetzen. Der Handlungsdruck ist groß – aber ebenso das Potenzial, echte Fortschritte für den Schutz und die Wiederherstellung unserer Lebensräume zu erzielen.



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1 Kommentar
mario viggiani
21.07.2025, 17:52Ein Wandel im Bewusstsein – und das ist gut so Früher wurden Naturschutz und Rodungen im Wald oft als gegeben hingenommen. Kaum jemand stellte Fragen, noch weniger hinterfragte man die Konsequenzen. Heute sieht das anders aus: Unsere Gesellschaft ist sensibler geworden – für Naturzerstörung, Artensterben und die Folgen des Klimawandels. Viele Menschen informieren sich aktiv und setzen sich für den Schutz unserer Lebensgrundlagen ein. Dieser Beitrag greift genau diesen Bewusstseinswandel auf – vielen Dank dafür! Wer selbst Gedanken, Erfahrungen oder Fachwissen zu diesen Themen teilen möchte: Auf regenwald.online besteht die Möglichkeit, einen Gastbeitrag zu veröffentlichen. Ich freue mich über jede Stimme, die sich für den Erhalt unserer Natur stark macht. Herzliche Grüße aus Karlsruhe Mario (https://www.regenwald.online)
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