Zusatzkrisen als Katalysator für Transformation!

Slogan für Klimaschutzdemo 2022. Foto: Raphael Weyland

Ein persönlicher Jahresrück- und -ausblick aus Brüssel

Seit fast 8 Jahren arbeite ich für den NABU in Brüssel. Gemeinsam mit einem kleinen Team sowie einer Handvoll Kolleg*innen unserer Brüsseler Dachverbände und unserer Bundesgeschäftsstelle in Berlin kämpfe ich seitdem für effektive Vorgaben zum Schutz von Natur-, Klima und Umwelt in der Europäischen Union (EU). Dies, um positive Impulse zum Erhalt unserer Lebensgrundlagen in den 27 Mitgliedstaaten, auch in Deutschland, zu setzen.

Wie schon die letzten Jahre nutze ich den Jahreswechsel für einen kurzen Rückblick auf die Schwerpunkte unserer Arbeit 2022 und einen Ausblick auf das, was ich für das Jahr 2023 an umweltschutzrelevanten Entwicklungen erwarte. Die Zusatzkrisen der vergangenen Monate und Jahre haben die Arbeit in besonderem Maße geprägt. Deswegen ist diese Bilanz sicher auch eine persönliche.

Das Jahr 2022 war für mich vor allem durch die Feststellung dominiert, dass selbst der von mir stets gegen etwaige Kritik verteidigte „Europäische Green Deal“ als politische Prioritätensetzung auf EU-Ebene nicht in trockenen Tüchern ist. Nicht nur, weil die allen bekannten Zusatzkrisen der Pandemie und des Angriffskriegs auf die Ukraine die EU-Institutionen in einen Krisenmodus katapultierten, der allerorten Arbeitskapazitäten gebunden und von den großen Dauerkrisen unseres Planeten – Klima und Natur – abgelenkt hat. Sondern vor allem, weil diese Zusatzkrisen von all denen, die weiterhin Profit auf Kosten von Natur, Klima und Umwelt machen möchten, schamlos ausgenutzt wurden und werden.

Deswegen wünsche ich uns allen für 2023, dass wir endlich den Krisenmodus beenden, und die Krisen zu dem Katalysator machen, um die nötigen Transformationen „jetzt erst recht“ einzuleiten. Weg von fossilen Energien, weg von immer mehr Autos und Straßen, weg von einer natur- und klimaschädlichen Intensivlandwirtschaft. Hin zu Suffizienz, also einem Lebensstil- und Wirtschaftswandel. Hin zu „Go-to-Gebieten“ nicht nur für Erneuerbare, sondern mit gleicher Verve vorangetrieben auch für die Natur. Mit echtem Raum für Moore, strengen Schutzgebieten und Seegraswiesen, in denen die Fischerei verboten ist. Und einer Raumplanung als Schlüssel zum Erfolg, die sowohl die Klima- als auch die Naturkrise adressiert.

In diesem Sinne: Viel Spaß bei der Lektüre und alles Gute für 2023!

 

2022: Nichts ist in trockenen Tüchern

Die letzten Jahre habe ich in der Gesamtbewertung die aktuelle EU-Umweltpolitik und insbesondere den „Europäischen Green Deal“ von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stets verteidigt. Klar, es gab und gibt Lücken, zum Beispiel bei der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Aber alles in allem war und ist diese politische Schwerpunktsetzung einzigartig. Sie ist außerdem ansatzweise untermauert von einer entsprechenden Steuerungs-„Governance“, die hilft, Nachhaltigkeitsziele auch in bisher einseitig agierenden „Nutzerressorts“ zu verwirklichen. Beispiele guter Initiativen sind aus NABU-Sicht unter anderem die hier ausführlich behandelte EU-Biodiversitäts- und Farm-to-Fork-Strategie sowie ganz konkret der Verordnungsvorschlag zur Wiederherstellung der Natur. Dieser bildete einen meiner Arbeitsschwerpunkte des Jahres 2022 in Brüssel.

Insgesamt hatte sich die Kommissionspräsidentin bisher aus Umweltsicht nur wenige Schnitzer erlaubt. Das Grünwaschen von Gas und Atom im zweiten delegierten Rechtsakt zur EU-Taxonomie vor genau einem Jahr (Silvester 2021) gehört sicherlich dazu (siehe hierzu auch meinen Jahresausblick auf 2022 von vor einem Jahr). In den letzten Wochen aber häuften sich die Kritikpunkte, und Gespräche mit Kommissionsmitarbeitern bestätigen mein Gefühl: Ursula von der Leyen scheint im Vorwahlkampf zu sein, also bereits an einer erneuten Ernennung durch die Mitgliedstaaten nach ihrer ersten Amtszeit zu arbeiten, und an der Wiederwahl unter anderem durch die mitgliederstärkste Fraktion der konservativen Europäischen Volkspartei (die Parteienfamilie EVP, zu der die CDU/CSU gehört). Anders lässt sich nicht erklären, dass sie diese Wählerschaft derzeit so stark hofiert.

Dieses augenscheinliche Umgarnen fing an mit der Vorstellung des Arbeitsprogramms der EU-Kommission für 2023 am 18. Oktober. Das Jahr 2023 ist dabei insofern wichtig, als alle neuen Gesetzesvorschläge, die nicht bis zu einem gewissen Zeitpunkt vorgelegt sind, absehbar der „Diskontinuität“ zum Opfer fallen werden, also nicht mehr vom Parlament bis zum Ende der Legislatur behandelt werden können und damit beerdigt sind. Unserer Erfahrung nach haben neue Gesetzesvorschläge, die später als Mai 2023 vorgelegt werden, kaum mehr Chance auf Verabschiedung.

  • Beispiel REACH-Verordnung: Mit am stärksten kritisiert wurde die Behandlung des Vorschlags zur Überarbeitung der Chemikalien-Verordnung REACH durch die EU-Kommission. Die Veröffentlichung des Kommissionsvorschlags war ursprünglich für Dezember 2022 vorgesehen, und wird im Arbeitsprogramm nun für das vierte Quartal 2023 genannt. Angesichts der technischen Komplexität und der politischen Bedeutung des Vorschlags wäre dies eindeutig zu spät. Pikant ist, dass die EVP-Fraktion genau dieses Gesetzesvorhaben nannte, als sie ein Regulierungs-Moratorium forderte.
  • Beispiel Wald-Monitoring: Ebenfalls nicht (mehr) im Arbeitsprogramm der EU-Kommission für 2023 genannt ist das geplante und in der EU-Waldstrategie angekündigte Gesetz für ein gemeinsames Wald-Monitoring. Gegen das Gesetz haben vor allem Finnland und Schweden, aber auch Österreich Druck gemacht. Bleibt abzuwarten, inwieweit die Generaldirektion Umwelt trotzdem am Thema arbeitet. Auch das Exportverbot von in der EU verbotenen Chemikalien findet übrigens im Arbeitsprogramm keine Erwähnung mehr.
  • Beispiel Pestizid-Reduktion: Jenseits des Arbeitsprogramms zu nennen ist außerdem die Verordnung zur nachhaltigen Nutzung von Pestiziden (SUR), die wir hier schon öfters beleuchtet haben (siehe zuletzt diesen Naturschätze.Retten-Beitrag). Nachdem die Mitgliedstaaten im Agrarrat (mit wenigen Ausnahmen, unter anderem Deutschland) und konservative Europaparlamentarier im Agrarausschuss den Gesetzesvorschlag und insbesondere das Verbot in Schutzgebieten attackierten, lancierte die EU-Kommission am 15. November ein Non-Paper mit einem Alternativvorschlag für „sensitive areas“, der die Regelungen aufweichen würde. Die Agrarlobby fordert indes eine zweite Gesetzesfolgenabschätzung, obgleich die SUR ein entsprechendes Impact Assessment enthält. Ziel ist auch hier, den Prozess zu verzögern, um das Gesetz komplett zu verhindern.
  • Beispiel Wolf: Und schließlich könnte auch das stets wieder aufgewärmte Thema Wolf ein Fall werden, in dem die Kommissionspräsidentin gegenüber der konservativen Wählerschaft einknickt. In einer den Umweltausschuss übergehenden direkten Plenar-Resolution forderten Europaparlamentarier kürzlich erneut die Überprüfung des Schutzstatus des Wolfs, auch wenn der günstige Erhaltungszustand dieser streng geschützten Art noch nicht erreicht ist. Ursula von der Leyen antwortet den Abgeordneten mit Schreiben vom 25. November. Darin verweist sie auf die bestehenden Ausnahmemöglichkeiten nach Art. 16 der FFH-Richtlinie und eine Überprüfung der Datengrundlage, die ihre Kommissionsmitarbeiter durchführen sollen. Damit ist hier in der Sache zwar noch nicht entschieden, die Gefahr eines Einknickens entgegen den Erkenntnissen des 2015/2016 durchgeführten Fitness-Checks der FFH-Richtlinie besteht aber.

Eine der grundlegenden Fragen ist also: Bekennt sich die EU-Kommission (und hoffentlich auch das Europäisches Parlament und der Rat) ohne Wenn und Aber zu dem noch immer gültigen „Europäischen Green Deal“, oder geht die Vorwahlkampfzeit weiter?

 

2023: Krisen als Katalysator nutzen

Klar, noch steht 2023 Einiges auf der Agenda. Zum einen gehen die sich bereits im Gesetzgebungsverfahren befindenden Dossiers weiter. Aus NABU-Sicht besonders relevant sind dabei die Arbeiten am „Nature Restoration Law“, also der Verordnung zur Wiederstellung der Natur. Diese war Gegenstand einer Aussprache beim Umweltministerrat am 20. Dezember. Die am 1. Januar begonnene Schwedische Ratspräsidentschaft strebt die formale Ratspositionierung beim Umweltrat im Juni 2023 an. Ob die oben erwähnte SUR mit ähnlichem Zeitplan vorangetrieben werden soll, ist noch unklar. Anfang des Jahres 2023 dürften außerdem die Triloge zur Änderung der Erneuerbaren-Energien-Richtlinie (mit den von uns kritisierten Eingriffen ins EU-Umwelt- und Naturschutzrecht und nur halbherzig ausgeführten planerischen Ansätzen) beginnen, und das Gesetzgebungsverfahren auf EU-Ebene dann abschließen. Die EU-Notverordnung zur Beschleunigung von Erneuerbaren dürfte indes zeitnah ab Beginn des Jahres 2023 ohne weitere Umsetzung in allen EU-Mitgliedstaaten in Kraft treten. Kritikpunkte hierzu finden Sie (hier) in meinem NABU-Blog.

Basierend auf dem Arbeitsprogramm der EU-Kommission kommen 2023 weitere Dossiers hinzu. So soll im dritten Quartal das „Sustainable Food Systems Law“ veröffentlicht werden. Hier rechnen wir nicht damit, dass dieses Gesetz rechtzeitig durchs Gesetzgebungsverfahren kommt, und sehen den Gesetzesvorschlag eher als Auftakt einer breiteren Debatte, auch über die Ausrichtung der zukünftigen Förderpolitik der GAP. Außerdem plant die EU-Kommission, ein „Soil Health Law“ vorzustellen – dies könnte rechtzeitig vor Ende des ersten Halbjahrs erfolgen. Die Überarbeitung der Richtlinie zur Umwelthaftung, die in Deutschland durch das Umweltschadensgesetz umgesetzt ist, ist indes erst gar nicht vor Ende des Jahres vorgesehen. Hier beteiligte ich mich im November an einem Experten-Workshop der EU-Kommission und referierte unter anderem zum NABU-Fall der Trauerseeschwalbe auf Eiderstedt (siehe diesen Naturschätze.Retten-Beitrag).

Gerade weil ein ständige Hinterher-Hecheln im Krisenmodus anstrengend ist und nur unzureichende Lösungen produziert, plädiere ich dafür, die Zusatzkrisen als Katalysator zu nutzen, und 2023 befriedigende Antworten auch auf die Dauerkrisen unseres Planeten zu geben. Hierfür braucht es ein „jetzt erst recht“ mit grundlegenden Lösungen, die Suffizienz und eine Transformation auch unserer Wirtschafts- und Lebensweise nicht ignorieren. Wenn also behauptet wird, wir hätten ein Ernährungssicherheitsproblem, dann muss die Lösung das Problem angehen, dass bisher ein Großteil unserer Lebensmittel im Trog und im Tank statt auf dem Teller landen. Wenn unterstellt wird, wir hätten eine Energiekrise, muss gesetzlich verordnetes Einsparen von Energie oberstes Gebot sein, und darüber hinaus die Chance ergriffen werden, fossile Energieträger durch Erneuerbare zu substituieren.

Jenseits der laufenden Gesetzgebungsarbeit wird 2023 auch im Zeichen der für Mai 2024 angesetzten Europawahl stehen. Aus NABU-Sicht ist es wichtig, die Transformationsprozesse auch nach der Wahl durch eine Art „Green Deal 2.0“ mit Mut fortzusetzen. Hierzu sollte auf EU-Ebene meiner Meinung nach ein stärkerer Fokus auf Verbesserungen von Querschnittsthemen gelegt werden, welche die Nachhaltigkeit insgesamt fördern. Dies bedeutet zum Beispiel, bestehende Umweltgesetze konsequent um- und durchzusetzen (Vorschläge für effektivere Vertragsverletzungsverfahren hatte ich hier vorgelegt), Verfahren vor allem im Rat transparenter zu gestalten, und Lobbyismus zu regulieren und beschränken. Zu diesen Querschnittsthemen gehört auch, nach all den Ankündigungen umweltschädliche Subventionen abzuschaffen und den nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen der EU (MFR) konsequent am Europäischen Green Deal auszurichten. Was neue Gesetze angeht, sind vor allem bisher wenig mit der Nachhaltigkeitsbrille beachtete Bereiche in den Blick zu nehmen, beispielsweise die GAP. Mit anderen Worten: auch wenn nach all den Juncker-Jahren so viel liegen geblieben war, dass das aktuelle „Gesetzesfeuerwerk“ nötig scheint – nach der Europawahl darf es vermutlich etwas weniger sein, wenn wir dafür die weiterhin bestehenden Probleme grundlegender angehen, und uns außerdem den Vollzug der bereits bestehenden bzw. in der Verhandlung befindlichen guten EU-Gesetze ernst nehmen.

 

Raphael Weyland
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