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Stille

Während des Studiums habe ich einmal neben einer vierspurigen Straße gewohnt. Nach vier Jahren in einem Studentenwohnheim, das architektonisch ungefähr den Charme einer stalinistischen Arbeitersiedlung in Nowosibirsk versprühte, freute ich mich über die erste „richtige“ Wohnung und schlug einfach zu, als ich die Gelegenheit hatte, zumal ich mir im Labor inzwischen etwas Geld dazu verdienen konnte. Die Wohnung lag im Hochparterre. Fünf Meter daneben raste der Berufsverkehr durch Münster, nur unterbrochen durch die Einfahrt der Rettungswagen, die sich Tag und Nacht mit Blaulicht und Martinshorn ihren Weg bahnten. Nach zwei Jahren war ich nervlich ziemlich runter. Und das lag nicht an den Klausuren. Lärm macht kaputt.

Und jetzt? Als ich heute Morgen aufwachte, fiel ich geradezu in die Stille. Über Nacht war auch der Wind völlig eingeschlafen, und offensichtlich war ich vor ihm aufgewacht. Gedanken machen keine Geräusche. Und da sich in der Hütte nichts regte, befand ich mich in einem, tonal betrachtet, luftleeren Raum. Aber da war doch etwas: Denn das Fehlen von Geräuschen ist in unserer Welt so ungewöhnlich, dass es den Charakter eines eigenen Klangs bekommt: Man kann die Stille hören.

Das erste Tappen der nackten Füße auf den Holzdielen, das Aufgießen des Kaffees, schließlich das Flattern einer Hausmutter am Fenster, die sich nachts in die Hütte verflogen hatte – ganz langsam begann die Sinfonie des Tages anzuheben. Wenig später stand ich vor der Tür und lauschte, was die Insel heute zu erzählen hatte. Und dann ist es wirklich ein bisschen wie bei Ravels berühmtem Bolero. Ein Ton kommt zum anderen. Und zum Rhythmus von Gezeiten, Sonne und Mond verdichtet sich nach und nach die Klangwelt. Hoch in der Luft quätschen Bekassinen. Es klingt wirklich, als würde man Gummistiefel aus dem Matsch ziehen. Und das Gummistiefelgeräusch kündigt passenderweise den Herbst an. Ich liebe es! Im Lockgebüsch sitzen tschackend Gartenrotschwänze, die die Nacht auf die Insel getragen hat. Zwei Fitisse stimmen mit sanftem „hüüüit“ ein. Eine Gartengrasmücke schaut aufmerksam zu und bleibt still. Etwas später lausche ich, ausgerüstet mit Parabolspiegel und Kopfhörer, in den Himmel, der erfüllt ist von den Rufen der Schafstelzen und Baumpieper, die es gen Süd zieht. Unentwegt rufen sie sich zu: „Hier bin ich! Wo bist du?“ Da oben lebt eine ganze Welt von deren Existenz wir kaum ahnen. Erst die Stille der Insel gibt ihr den Raum, sich in meinem Leben abzubilden.

Stille kann aber auch andere Ausmaße, bis hin zur Gewalt, annehmen. Einige kennt jeder, andere sind privat oder einfach sehr speziell: Der Moment, wenn jemand etwas gesagt hat, das alles ändert. Der Moment, kurz bevor man fällt. Wenn man bei der Auskultation mit dem Stethoskop nur noch die Beatmungsmaschine hört. Wenn man reden möchte, aber nicht kann. Wenn niemand da ist, der zuhört. Stille kann manchmal auch sehr schwer zu ertragen sein. Gestern zog gegen Nachmittag ein schweres Gewitter auf. Es sah aus, als würde jemand am Himmel riesige Tintenpatronen in ein Glas Wasser entleeren. Ich stand da wie gebannt. Irgendwann merkte ich, wie ruhig es war. Nur in der Ferne flötete ein Brachvogel. Schließlich kam jedes Geräusch zum Erliegen. Und dann brach der Donner sich Bahn, mit der Kraft eines brüllenden Ungeheuers aus grauer Vorzeit. Es war, als hätten alle anderen Töne Platz gemacht, damit er sich entfalten kann. Und dann versank die Welt im Rauschen des Regens.

Warum empfinden wir das Dröhnen einer Autobahn als unangenehm, das Plätschern eines Baches aber als schön? Ich finde das sehr rätselhaft und habe keine Antwort. Wahrscheinlich ist sie irgendwo tief in der Struktur unseres Gehirn niedergelegt. Ich finde auch, dass man mit dem gleichen Recht, mit dem jemand sagt: Ich muss hier eine Straße haben! sagen kann: Ich möchte hier keine Straße haben. Man muss das im Einzelfall ausdiskutieren, denn natürlich brauchen wir einen Weg für Rettungswagen. Aber eine Diskussion muss man führen. Man darf nicht einfach unwidersprochen dem Lärm das Feld überlassen. Ich weiß, dass es gut tut, der Stille Raum zu geben. Das kann erschütternd sein, aber auch heilsam. Und es öffnet die Sinne für die Existenz des Anderen: Ob das nun ein Mensch ist, der sich aussprechen muss, oder ein Goldregenpfeifer, der hoch am Himmel tütet: „Ich bin da. Hörst du mich?“

Trifft ein Einsiedler einen anderen…

Eigentlich ist sie ja ziemlich schön. Ich mag ihren Olivton, der an Jade erinnert und von schwarzen und beigen Sprenkeln durchsetzt ist. Die Oberflächenstruktur der Schale sieht aus wie die Strahlen einer kleinen Sonne. Trotzdem kann ich mich nicht so recht an dem freuen, was ich da gerade aus dem Watt gebuddelt habe. Aber dazu später mehr.

Es ist Anfang September. Und das heißt: Wattkartierung. Pünktlich zum Eintreffen der Zugvögel aus der Arktis ist das Watt um diese Jahreszeit randvoll mit Leben. Einen ganzen Sommer lang hatten Abermilliarden Organismen Zeit zu wachsen und sich zu vermehren. Über Millionen Jahre Evolution und etliche tausend Generationen hinweg haben Lebewesen ihren Lebensrhythmus nach und nach so aufeinander abgestimmt, dass für alle eine mindestens brauchbare – also das Überleben und Vermehrung ermöglichende – Gesamtlage dabei herausspringt. Und deswegen landet der Alpenstrandläufer hier, wenn der Tisch auch wirklich gedeckt ist. Ich staune jedes Jahr wieder über die synchronisierten Abläufe in der Natur.

Wattkartierung heißt aber nicht nur staunen, sondern auch schwitzen. 15 Kartierpunkte auf zwei insgesamt fast 10 Kilometer langen Strecken muss ich ablaufen. Kluge Leute nehmen sich ein paar Kolleginnen oder Freunde und, wie in der Anleitung empfohlen, „Motivationsschokolade“ mit. Ich habe allerdings auch schonmal von Motivationsbier gehört (Sie ahnen sicherlich, auf welche Idee man bei 15 Kartierpunkten kommen kann – ich halte die Story aber für erfunden..). Auf Trischen sieht’s anders aus. Hier heißt es: Du und das Watt. Und so ziehe ich denn los. Auf meinem Wagen schaukeln ein zur Probeentnahmeröhre umfunktioniertes altes Rohr, ein Spaten und eine Kiste mit dem unabdingbaren Kleinkram. Das GPS-Gerät halte ich in der Hand. Zwischen glucksenden Spüllöchern und stochernden Watvögeln führt es mich zu den vorgesehenen Punkten. Da im gesamten Wattenmeer seit Anfang der 90er Jahre solche Kartierungen vorgenommen werden, lassen sich auf lange Sicht sehr präzise Aussagen über die Dynamik von Populationen verschiedenster Arten treffen. Das ist ein Datenschatz, den sich viele andere Wissenschaftler nur wünschen können.

Aber ich merke einmal mehr: Puh! Wissenschaft ist anstrengend! Die Sonne brennt. Der Schweiß läuft in Strömen. Ich wette, der Salzgehalt der Nordsee liegt um mindestens einen Prozentpunkt höher, wenn Mitte September alle Kartierteams ihre Arbeit verrichtet haben. Das Watt in der Südostbucht ist ausgesprochen schlickig, denn hier kommt das Wasser zur Ruhe. Feinste Teilchen sedimentieren und lassen meine Beine bis zum Knie versinken. Der Wagen sammelt den Schlamm, ihm fehlen die Kotflügel. Alle hundert Meter muss ich ihn vom durch die Räder heraufgeworfenen Schlick befreien. Schließlich gibt sich das Problem, da sie sich irgendwann ohnehin nicht mehr drehen – jetzt habe ich einen Schlitten. Ich zähle Oberflächenspuren, bohre mit der Proberöhre, grabe mit dem Spaten. Als ich nachhause komme, bin ich fix und alle und sehe aus wie das Ding aus dem Sumpf.

Aber jetzt müssen die Proben sortiert werden. Und da fällt mir die Hübsche von oben entgegen. Es handelt sich um eine Teppichmuschel der Gattung Ruditapes. Sie stammt aus dem Pazifikraum und wurde durch Menschen sowohl wissentlich eingebürgert, da sie als Speisemuschel dient, als auch versehentlich eingeschleppt. Leider ist inzwischen belegt, dass sie durch ihre ungeheure Filtrationsleistung die Entwicklung heimischer Muschelarten beeinträchtigen kann. Dennoch, eine Muschel ist ein faszinierendes Wesen: Zwischen den Schalen lebt etwas, das fast nur aus Muskel und ein bisschen Verdauungstrakt besteht. Wenn man daran ein wenig herumphilosophiert (und vielleicht einen kleinen Sonnenstich hat), kommt man auf interessante Gedanken.

Der zweite Tag geht leichter von der Hand. Im Nordwesten ist das Watt sandiger, da hier viel stärkere Strömung vorherrscht. Im Vergleich zum Vortag habe ich das Gefühl, über das Watt zu fliegen. Und dann finde ich noch einen possierlichen kleinen Einsiedlerkrebs, der auf meiner Hand für einen Fototermin posiert. Schön!

Zurück in der Hütte falle ich fast vom Glauben ab: Mit noch schlammigen Füßen lese ich eine Mail. Und in der Mail steht, ich möge doch bitte nach dem invasiven Einsiedlerkrebs Pagurus longicarpus Ausschau halten, der sich inzwischen in hiesigen Gefilden ausbreitet… Pagurus longicarpus erkennen Sie an einem grün-bläulichen Schimmer auf der Schere. Außerdem ist das Glied dahinter verlängert und wirkt gestreckter als beim heimischen Einsiedlerkrebs. Und jetzt schauen Sie sich mal die Fotos an.

Die Zeiten ändern sich also. Arten, die früher noch häufig waren, verschwinden. Neue stellen sich ein. Oft konkurrieren sie miteinander um Ressourcen, zum Beispiel um Plankton, wie Muscheln es aus dem Wasser filtern, oder Gehäuse von Strandschnecken als Behausung, wie Einsiedlerkrebse sie nutzen. Wie die Sache ausgeht, ist nicht immer einfach zu sagen. Manchmal kommt es zur Koexistenz, manchmal können sich Arten etablieren, während andere sich nicht mehr halten. Fest steht, dass der Mensch durch Einschleppungen und vor allem die durch ihn bedingten klimatischen Veränderungen stark zu diesen Prozessen beiträgt. Ich bin gespannt, wie die Ergebnisse der Wattkartierung in zwanzig Jahren aussehen.

In diesem Zusammenhang habe ich noch eine Anmerkung: Manchmal werden grobe Analogieschlüsse von der Natur auf den Menschen genutzt, um politisch Stimmung zu machen. Es ist mir deshalb wichtig zu betonen, dass wir Menschen alle zu einer Art gehören, ob das nun dem Einzelnen passt oder nicht. Abgesehen davon sind Sie und ich, anders als die Teppichmuschel, an moralische Maßstäbe gebunden. Das macht uns zu Menschen. Wer immer das nicht begreift, dem können Sie also gerne sagen, dass er offensichtlich nicht viel mehr Gehalt hat als, nun ja, ein paar Muskeln und einen erstaunlich langen Verdauungstrakt.

 

Ornithologische Fein(st)arbeit

Denken Sie mal an irgendeine beliebige Krankenhausserie. Da geht es ja ständig drunter und drüber, ein Rettungswagen jagt den nächsten, verständnisvolle Ärztinnen sprechen schwerwiegende Diagnosen aus, meistens brennt neben den Herzen der Protagonisten auch noch ein Kindergarten oder wenigstens ein Tierheim und sorgt für noch mehr Drama. Und irgendwer reanimiert eigentlich immer. Das hat mit der Realität natürlich nur bedingt etwas zu tun. Aber manchmal gibt es solche Tage im Krankenhaus tatsächlich. Nun bin ich ja aktuell in anderer Funktion tätig. Aber ich kann Ihnen sagen: Gäbe es eine Emergency-Ornithologen-Serie, wäre heute solch ein Tag gewesen!

Früher Nachmittag. Ich stehe etwa 100 Meter neben der Hütte am Rande der Südostbucht. Die Flut läuft auf. Gerade habe ich den schlickigen Hafenpriel durchwatet, um mich in eine günstige Position zu bringen. Denn das Wasser wird die Watvögel auf mich zu treiben, wenn sie gerade eben vor der Wasserkante konzentriert nach Nahrung suchen und mich nicht bemerken. Ich bin gewappnet: Fernglas und das bis zu 60-fach vergrößernde Fernrohr sind im Anschlag. Schon eine halbe Stunde später ist das Wasser heran – und mit ihm die Vögel. Auf der kleinen Landzunge bin ich umgeben von leise tschirpenden Alpenstrandläufern, Sanderlingen, Sand- und Kiebitzregenpfeifern. Über den Kopf sausen Dunkle Wasserläufer. Und dann geht alles sehr schnell. Plötzlich landet neben zwei Alpenstrandläufern eine kleine Seeschwalbe, die mir allerdings nur den Hintern zustreckt. Rote Füße, dunkle Kappe, die Federsäume verraten ein Jungtier – und dazu die langen Beine – das ist etwas Besonderes! Aber was? Es gibt zwei Möglichkeiten, doch wahrscheinlich nur wenige Sekunden Zeit eine Entscheidung zu treffen. Und schon beginnt das innerliche Flehen, Betteln und Fluchen: Bitte dreh dich zur Seite. Ja, noch ein Stückchen! Verdammt, jetzt steht der Alpi davor! Bitte flieg nicht weg. Hektische Finger suchen nach dem Handy, um schnell ein paar Fotos durchs Fernrohr zu schießen. Jeder Moment, in dem ich versuche, das Telefon vor die Linse zu kriegen, ist einer, in dem ich nicht beobachten kann. Die Wahl fällt schwer, aber wenn der Vogel gleich doch abfliegt, habe ich weder einen Beweis noch die Möglichkeit, die Details zu begutachten, um sicher zu sein. Und schon ist es passiert. Alle Vögel fliegen hoch. Weg ist sie. Immerhin: Ein paar Fotos sind gelungen. Der Schweiß steht auf der Stirn.

Und jetzt beginnt die ornithologische Feinarbeit. War es doch „nur“ eine junge Trauerseeschwalbe – oder die hier sehr viel seltenere Weißflügelseeschwalbe? Als der Vogel aufflog, ist mir der weiße Bürzel aufgefallen. Das unterscheidet die beiden Arten im Jugendkleid. Ich hatte mich zufälligerweise vor einigen Tagen mit einem Freund über genau dieses Detail unterhalten. Aber genau das ist auf dem Bild nicht zu erkennen, denn da sitzt die Seeschwalbe und der Bürzel ist nicht sichtbar. Die Brustseite, die bei der Weißflügelseeschwalbe heller ist, war leider gar nicht zu sehen. Allerdings sprechen die langen Beine sehr für diese Art. Und jetzt ist es tatsächlich ein bisschen wie in der Medizin: Wenn’s kritisch wird, lieber eine Zweitmeinung einholen. Und zwar am besten von einem erfahrenen Kollegen. Mein ornithologischer Oberarzt heißt in diesem Fall Martin Kühn. Martin, Nationalparkranger und absolutes Schwergewicht in Sachen Vogelbestimmung, sichert die Diagnose ab: Weißflügelseeschwalbe! Ich freue mich. Diese Art wurde vor 21 Jahren zuletzt auf Trischen beobachtet. Es ist hier die vierte Sichtung seit Beginn der Aufzeichnungen.

Wenig später am Weststrand. Ich habe mich bis auf zwanzig Meter an einen emsigen Trupp Steinwälzer und Alpenstrandläufer herangepirscht. Die Freude ist groß, denn gerade ist mir gelungen, bei einem Alpenstrandläufer einen Ring, den er ums Bein trägt und auf dem klitzeklein ein Code steht, abzulesen. Wenn ich zuhause bin, kann ich nachvollziehen, woher der Vogel stammt, wie alt er ist und mit der Beobachtung auf Trischen einen kleinen Teil zur Erforschung dieser Art beitragen. Doch dann blitzt ein paar Meter weiter plötzlich etwas in der Sonne. Da ist ja noch einer! Dieser Vogel trägt allerdings keinen Farbring mit Code, sondern nur einen winzig kleinen Aluminiumring. Diese Ringe werden eigentlich nur abgelesen, wenn man den Vogel in der Hand hält, also bei einem Wiederfang oder Totfund. Der Ring ist nur einen Millimeter weiter als der Durchmesser eines Beins des kaum starengroßen  Vogels… Aber jetzt ist mein Ehrgeiz geweckt. Über eine Stunde später ist der Vogel nahezu umrundet. Ich bin kaum noch fünf Meter von ihm entfernt. Natürlich hat er nicht stillgestanden. Natürlich war die Sonne entweder viel zu hell und der Ring gleißte unablesbar im Licht. Oder das Gegenlicht war zu stark und er lag unergründlich im Dunkeln. Und selbstverständlich hüpften, als würden sie es absichtlich machen, permanent andere Vögel in die Sichtachse. Es ist eine Zitterpartie. Ich muss an meine Zeit in der Neurochirurgie denken, wo ich manchmal bei Operationen assistieren durfte, bei denen es auch auf den Millimeter ankam und der Operateur sich keinen Ausrutscher leisten durfte. Anderer Kontext natürlich, aber für mich beides ziemlich aufreibend. Und dann ist es tatsächlich doch geglückt: Mit sehr viel Geduld und noch mehr Behutsamkeit, mit Zeitlupenbewegungen und einer inneren Anspannung zum Zerplatzen: Der Code auf dem Ring lautet JT8407 Poland. Operation geglückt. Das klappt lange nicht immer alles so wie heute. Letzten Sonntag hatte ich nach einer längeren Durststrecke noch ein Gesicht gemacht wie sieben Tage Regenwetter.

Wenn keine Ziffer fehlt, wissen wir in ein paar Tagen mehr über den Vogel (der Patient ist also sozusagen noch nicht ganz über den Berg). Unten habe ich Ihnen einmal ein paar Ringe abfotografiert. Der große ist der Farbcodering einer Silbermöwe, der nächstkleinere der Aluminiumring einer Silbermöwe, der kleinste gehörte zu einer noch kleineren Brandseeschwalbe. Halbieren Sie die Größe des letzten, und sie landen bei der Ringgröße des Alpenstrandläufers. Darunter die Bilder vom Vogel und seinem Ring.

Im Bild darunter die Weißflügelseeschwalbe (die erwachsenen Tiere sehen übrigens ganz anders aus. Googeln sie ruhig mal, es lohnt sich!).

 

 

 

 

 

Wo sind all die Blumen hin?

Und jetzt ist Spätsommer. Diesen Satz hier stehen zu sehen überrascht mich selbst. Denn diese Jahreszeit kommt nicht mit wilden Stürmen oder krachendem Eis übers Land. Es stehen auch nicht, wie über Nacht aus einem Farbeimer verschüttet, frisches Grün, Weiß und Violett in der Landschaft, wie manchmal an einem März- oder Aprilmorgen. Und der erste Schnee, der das Gefühl von einem Tag auf den anderen auf „Winter“ umstellt, fällt auch nicht. Nein, der Spätsommer sickert ganz langsam in die Landschaft ein. Über Tage und Tage durchwirkt er die Pflanzen, legt sich Schicht für Schicht auf die spiegelnden Wattflächen und erscheint schließlich auch in einer ganz langsamen Verschiebung der Blautöne des Himmels. Die Salzwiese wirkt an manchen Stellen wie ein goldgelbes, erntereifes Feld. Ähren pendeln schwer im Wind, dazwischen taumeln mit dem Ostwind herangewehte Admirale und Tagpfauenaugen. Der Boden hat die Sonne der letzten Wochen aufgesaugt und gespeichert wie ein Wärmereservoir. Wenn ich nach Sonnenuntergang noch einmal den Weg zum Strand gehe, sinken die Füße in warmen Sand, aus dem die Hitze der letzten Wochen jeden Tropfen Wasser gesaugt hat. Ganz fein rieseln die Körner zwischen die Zehen und schmeicheln der Haut. Und das Meer scheint selbst das Licht zu speichern: In der Dunkelheit blinkt es geheimnisvoll grünlich im leisen Wellengang. Die Schritte im Wasser hinterlassen eine Spur glimmernder Funken. Meeresleuchten! Es sind winzige Geißeltierchen, in denen bei Berührung eine chemische Reaktion abläuft, die sich in Licht entlädt. Es wirkt eher, als hätten sich einige Funken Licht im Meer verirrt und würden nun wieder herausfinden wollen.

Sie spüren es vielleicht in meinen Worten: Mit dem ausklingenden Sommer passiert auch mit mir etwas. Ich habe mich verändert, genau wie die Salzwiese: Die Haut ist so braun wie seit etlichen Jahren nicht mehr, die Haare darauf golden. Durch Wind und Salz und Licht ausgebleicht, kann ich mir meine grauen Haare nun wieder als blond verkaufen. Und das ist natürlich nur die Hülle. Der Gang der Jahreszeit lässt mich auch innerlich nicht unberührt. Wie naiv ist die Annahme, dass die Kräfte, die eine ganze Insel formen, nicht auch einen Menschen prägen sollten! Aber die Sandbänke und Priele der Seele sind eben nicht besonders gut zugänglich. Schutzzone 1 gewissermaßen, hier hat nur einer Zutritt (und der bin in diesem Fall ich).

Und deshalb erzähle ich Ihnen nun von einigen nachdenklich stimmenden Strandfunden: Patronenhülsen. Keine Sorge, es sind nur Hülsen. Manchmal findet man eine am Strand. Gefährlicheres liegt zuhauf im Meer, Nord- und Ostsee sind immer noch voller Mordinstrumente. Die Kriege der Menschheit erstrecken sich leider weit über ihr offizielles Ende hinaus. Das ist gefährlich für Menschen – jeder kennt ja die schrecklichen Bilder von Landminenopfern. Aber auch Seeminen haben schon manchen Kutterkapitän das Leben gekostet! Doch auch für die Natur ist es natürlich Mist, wenn tonnenweiser explosiver und giftiger Sprengstoff ganze Lebensräume verseucht, der langsam seinen Weg durch rostendes Metall findet. Wir kriegen normalerweise nicht viel davon mit. Aber jetzt liegen sie hier vor mir: Drei Patronenhülsen. Kein Schrot für die Gänsejagd. Es sind MG-Patronen. Die Jahresstempel sind 1943, 1943 und 1944. Vielleicht aus einem Flugabwehrgeschütz, vielleicht aus einem Flugzeug. Ich weiß nicht, ob sie abgefeuert wurden oder ob Ladung und Projektil von der Nordsee herausgelöst sind. Ist Ihnen jemand zum Opfer gefallen? Wurden sie mit der Absicht, einen Menschen zu töten, abgefeuert? Ich muss wohl davon ausgehen. Und auch wenn ich natürlich weiß, dass genau das vielmillionenfach passiert ist, ist die Unmittelbarkeit in der dieser vergangene Moment hier vor mir liegt, doch irgendwie würgend. Dass der Raum, in dem ich mich aufhalte, nicht nur Natur- sondern auch Menschengeschichte atmet, wird leider nicht nur durch die zahlreichen Ziegelsteine des alten Luisenhofes hier am Strand, sondern auch durch solche unappetitlichen Funde belegt.

Irgendwie ist es ja etwas kitschig, aber ich muss an das bekannte Antikriegslied von Pete Seeger denken: „ Where have all the flowes gone?“ Ich hebe die Hülsen also auf und stecke ein paar gelbe Distelköpfe hinein. Mit ein paar Tropfen Wasser sind die Mordinstrumente zur Blumenvase umfunktioniert, wenn auch zu spät.

Mittags sitze ich auf der Bank in der Sonne. Plötzlich ertönt ein Geräusch in der Luft, das mich polternd aufspringen lässt – meine Hände suchen nach dem Fernglas, während ich bereits um die Hütte herumlaufe und versuche, den schwarzen Punkt, der am Himmel auf mich zurast, zu fixieren. Und dann ist sie schon über mir: „QUOORRK“! Eine Raubseeschwalbe! So wie ich auf der Hütte poltere, poltert sie durch die Luft, für eine Seeschwalbe ist der Vogel ein ziemlicher Brecher, und der riesige Schnabel sieht so aus, als hätte man einem Schneemann eine Möhre ins Gesicht gesteckt. Ich weiß nicht, was der seltene Gast aus dem Ostseeraum hier suchte; nach kaum zwei Minuten war der Vogel gen West verschwunden. Aber die Begegnung hinterlässt in mir ein Gefühl tiefer Dankbarkeit. Ich bin so froh, nach Seeschwalben Ausschau halten zu dürfen. In der Luft die Schönheit und nicht den Tod wittern zu müssen. Ich denke an die Menschen, früher und heute, denen es anders geht. Und wenn auch der Halliglfieder nun verblüht ist – mit jeder Pore von Körper und Geist sauge ich das Leben in mich auf.

 

Limikolophilie

Jede Welle bringt sie ein Stück näher an mich heran. Barfuß im nassen Sand, die Knöchel immer wieder überspült von einem Schwall Wasser, stehe ich am Strand vor der Hütte und erwarte, was jedem Vogelbeobachter das Herz hüpfen lässt wie einen kleinen Sanderling im Sand: Limikolen!

Limikolen sind Watvögel. Etliche verschiedene, oft schwer unterscheidbare Arten zählen zu dieser illustren Gruppe. Ihre Namen erzählen von abgelegenen Sehnsuchtsorten, von der Musik der Wildnis und von sehr flinken, sehr langen Beinen: Alpenstrandläufer. Terekwasserläufer. Anadyrknutt. Sandregenpfeifer. Rot-, Grün- und Gelbschenkel! Meine Namens-Favoriten: Goldregenpfeifer und Einsamer Wasserläufer. Pure Poesie!

Aber ich möchte nicht nur über ihre Namen sinnieren. Ich möchte sie sehen, und zwar möglichst nah. Die Zeit ist gerade in gleich zweifacher Hinsicht genau richtig: Einerseits hat der Vogelzug seine Richtung inzwischen wieder geändert. Seit vor ein paar Tagen der Himmel ganz kurz eine verräterische Nuance von Septemberblau aufleuchten ließ, trudeln jeden Tag neue Schwärme auf der Insel ein. Und andererseits läuft jetzt die Flut auf. Das treibt die Vögel langsam, aber sicher vom nahrungsreichen Watt auf den Strand. Und damit direkt auf mich zu. Wenn ich ganz still stehe, bemerken sie mich in der Hektik des Pickens, Rennens und Schwirrens nicht. Es gibt wohl kaum eine schonendere Art des Beobachtens. Davon zeugt auch, dass die Sanderlinge schließlich kaum drei Meter vor meinen Füßen herumflitzen. Als die Flut ihren höchsten Punkt erreicht, nicken einige von ihnen sogar ein.

Das Gros der kleinen Gestalten machen Alpenstrandläufer aus. Die Vögel sind nicht einmal so groß wie eine Amsel, aber ihre schiere Masse ist überwältigend: Wenn Tausende von ihnen übers Watt in eine Richtung trippeln, wirkt das wie eine vorrückende Legion aus einem Hollywoodfilm, zumal in diesem Fall ich die Vogelperspektive innehabe. Dass viele von ihnen noch immer einen Teil des Prachtgefieders tragen, dass also zweitausend Winzlinge, allesamt mit schwarzbefiederten Bäuchlein und somit gewissermaßen uniformiert, auf mich zu rennen, verstärkt diesen Eindruck noch. Erst bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass bisweilen schon die helleren Federn des Schlichtkleides hindurchlugen und einige Vögel etwas scheckig erscheinen. Den einen zieren bereits zwei, drei weiße Flecken, ein anderer strahlt noch im vollen Ornat des Brutgeschäftes: Eigentlich sehen sie doch alle unterschiedlich aus. Jeder ist ein wundervoll arrangiertes Federmosaik aus Beige, Rostbraun, Tintenschwarz und Dünensandweiß und damit ein Kunstwerk für sich. Dazwischen saust immer mal wieder ein Wicht entlang, der den „Alpi“ wie einen Riesen erscheinen lässt: Ein Zwergstrandläufer. Das winzige Federbällchen brütet im allerhöchsten Sibirien, wo er zwischen Schneeeule und Rentier sein klitzekleines Nest baut. Seine Küken sind kaum daumennagelgroß. Ich kann mich nicht sattsehen.

Inzwischen stehe ich auf einer kleinen Sandbank. Der Strand vor der Hütte wird bei hoch auflaufendem Wasser zu einer großen, flachen, Pfütze, die durch einen einige Zentimeter höheren Sandrücken vom Meer getrennt ist – ideal für Watvögel, hier lässt sich prima im Boden stochern und anschließend geschützt rasten. Meine Zehen graben sich fest in den Sand. Ich stelle das Spektiv gerade, es ist durch einen kräftigen Wasserschwall verrutscht. Plötzlich schwirrt die Luft. Ein weiterer Schwarm saust über meinen Kopf. Das „chrüüi“  aus vielen Kehlchen verrät mir, dass es Sandregenpfeifer sind, noch bevor sie sich, vielleicht fünfzehn Meter vor mir, aus vollem Schwung auf butterweichen Schwingen niederlassen. Anders als ein Alpenstrandläufer, der wie eine Nähmaschine durchs Watt stochert und mit seinem Schnabel Würmer ertasten kann, ist der Sandregenpfeifer auf seinen Gesichtssinn angewiesen: Kurz stehen, gucken, rennen, picken – repeat. Das ist der Lebensrhythmus dieses Vogels. Und der Grund, warum sie einfach verdammt niedlich sind. Denn damit das funktioniert, ist Freund Pfeifer mit großen, großen dunklen Augen ausgestattet.

Und so geht es weiter. Eine Pfuhlschnepfe landet. Zwischen den Alpenstrandläufern vagabundieren im rostroten Wams langbeinige Sichelstrandläufer. Cremefarbene Federsäume verraten mir, dass die beiden dicken Knutts in der Mitte der Versammlung erst dieses Jahr geschlüpft sind und zum ersten Mal die Reise ins ferne Westafrika antreten. Hoch in der Luft tönt das klagende Flöten der Kiebitzregenpfeifer: „Fiiühhhiiie, fiiühhiiie!“. Es klingt, als würden sie vergangenem Liebesglück hinterherpfeifen. Noch immer treffen in langen Ketten Austernfischer und die langschnäbeligen Großen Brachvögel von weiter außen liegenden Sandbänken ein. Und immer wieder bin ich beim Mustern der Schwärme plötzlich wie elektrisiert: War das da gerade nicht doch ein Sumpfläufer? Aber wo ist er nun hin im Gewusel? Oder womöglich ein noch seltenerer Gast aus Amerika? Am Ende finde ich keinen davon. Aber dafür kann ich einen farbberingten Alpenstrandläufer ablesen, dessen Markierung mir verrät, dass er in Ungarn beringt wurde. Als mir das Meer mit einigen im Wellenrauschen klirrenden Sandklaffmuscheln noch ein paar weiße Sanderlinge, wie Schneeflocken im Sommer, vor die Füße trägt, bin ich glücklich.

Aber der komischste Vogel steht wohl mittendrin im Gewusel. Vielleicht haben Sie ein Bild von mir in markigen Outdoorklamotten, gewissermaßen immer mit Fahrtenmesser, Kompass und Camouflagedress ausgerüstet. Ich muss mit dieser Vorstellung – zumindest für heute – aufräumen: Kurz zuvor war ich noch baden, die Hütte ist hundert Meter weiter hinter der Düne…wozu also der Tand? Bademantel, Boxershorts und Sonnenbrille reichen zum Vögel beobachten doch völlig aus. Und auch wenn ich wahrscheinlich aussehe wie König Koks oder ein missglückter Hugh Hefner-Verschnitt – was soll’s! Die Sanderlinge hat’s jedenfalls nicht gestört…

 

Bild 1: Sanderlinge und Alpenstrandläufer.

Bild 2: Auf der Sandbank: Alpenstrandläufer – und finden Sie den Sichelstrandläufer (rostbraun, etwas größer..)?

Bild 3: Links Kiebitzregenpfeifer, rechts Sandregenpfeifer.