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Ein letztes Geschenk vom Meer

Ich sitze auf gepackten Koffern. Die meisten Klamotten werde ich erst am Festland wieder tragen, nur eine letzte Garnitur ist noch parat für die Insel. Vieles hängt lediglich noch an ein paar Fäden, mancher Knopf ist auf Nimmerwiedersehen verschwunden und meine Brille sieht aus wie mit dem Sandstrahler bearbeitet. Meine Lieblingsmütze hat das Meer sogar mit sich genommen, sie ist mir irgendwann bei Windstärke 8 vom Kopf geflogen, ohne dass ich es gemerkt habe, und wohl mit dem Landunter davongeschwommen. Auch fast alle Bücher sind bereits verstaut. Ich schleppe jedes Mal viel mehr davon mit mir herum als ich müsste; sie geben mir das Gefühl von Geborgenheit. Wo Bücher sind, ist die Welt für mich ein kleines Stück in Ordnung. Eine Mauer aus Gedanken kluger Menschen gegen die Unbilden des Lebens. Und auch all die kleinen Gegenstände, die das Leben hier annehmlich machten, haben einen Platz gefunden, irgendwo zwischen „European Seabirds“, „Die Grabwespen Deutschlands“ und Georg Forsters „Reise um die Welt“.

Aber es ist nicht nur Dingliches, das ich verstauen muss. Manches Gefühl, mancher liebgewonnene Gedanke hat nun seinen letzten Auftritt. Ich wandere, in Gedanken versunken, noch einmal den Nordstrand entlang. Neben mir huschen Alpenstrandläufer und Sanderlinge, die – wie ich – auch bald die Insel verlassen werden. Ich werde es nur nach Hamburg schaffen, einige der kleinen Gefährten aber werden es bis Guinea oder Mauretanien bringen. Gemeinsam drücken wir noch einmal unsere Spuren in den Sand.

Einer der Alpenstrandläufer sieht ein wenig, hm, heruntergekommen aus, denke ich. Ein bisschen düsterer, ein bisschen plusteriger, dicker. Und er hat eine noch viel geringere Fluchtdistanz als die anderen Vögel neben mir. Das ist normalerweise nur so, wenn die Vögel geschwächt sind, und ich bekomme ein bisschen Mitleid. Ob er es nach Afrika schafft? Ich sehe den Vogel im Weitergehen nur aus dem Augenwinkel, die Gedanken spielen sich eher halbbewusst ab – bis er einschwenkt und direkt vor mir herläuft – und ich seine Beine sehe. Sie sind orange. Das ist kein „Alpi“ und auch kein Sanderling. Der will auch nicht nach Afrika. Das ist ein Meerstrandläufer!

Ich weiß ja, dass die Namen manchmal etwas beliebig klingen, deshalb muss ich Ihnen einmal erklären, was es mit diesem Vogel auf sich hat: Meerstrandläufer kommen aus dem hohen Norden: Grönland, Spitzbergen, Nordnorwegen, Island. Sie lieben Felsküsten, das Kalte, Wilde, und treten allenfalls auf Helgoland regelmäßig, manchmal auch auf Sylt oder Amrum, sehr selten an anderen Stellen der deutschen Küste auf. Weiter gen Süd zieht dieser kleine, rauhe Geselle nicht. Mich erinnert er an einen alten Fischer: Etwas untersetzt, unter der dicken Weste ein klein bisschen pummelig, immer ein wenig ölverschmiert und mit einem seegrauen Schatten, das ihm nie ganz von der Seite weicht, völlig egal, wo er gerade ist. Vielleicht hat er trotzdem stets einen knappen, guten Spruch auf den salzigen Lippen. Und dazu trägt er orange Gummistiefel!

Zuletzt hat Peter Todt 1999 hier einen Meerstrandläufer beobachtet. Da war ich zwölf. In der Freude über die für Trischen seltene Beobachtung vergesse ich völlig, dass ich die große Kamera im Rucksack habe. Meine zittriges Handybild zeugt davon, dass ich mich wirklich wahnsinnig über diesen Vogel gefreut habe.

Manche Dinge kann man ja mit Worten wunderbar veranschaulichen. „Lesen ist gelenktes Schaffen“ wird Sartre zitiert. Sie hätten also auch ein Bild im Kopf, wenn mein Handy es nicht getan hätte. Ich möchte Ihnen heute aber trotzdem noch ein schöneres Bild zeigen. Es ist in Norwegen entstanden. Gemacht hat es mein Freund Jan. Ein gutes Foto gibt einer weiteren Dimension der Vorstellung und Teilhabe an einem Erlebnis Raum. Und durch dieses Bild bekommt man nicht nur einen Eindruck von der Fluffigkeit des Gefieders, von den zarten Farbverläufen im festen Keratin, sondern auch vom Charakter der Bewegung, die diesen Vogel ausmacht. Können Sie sich nun vorstellen, wie ein Meerstrandläufer ist?

Bild und Wort können also eine wunderschöne Liaison eingehen. Und weil mir das Erzählen und Jan das Fotografieren Freude macht, haben wir beschlossen, dass es damit weitergehen soll. Wenn also alle Gedanken, Gefühle und Bücher gepackt sind, wenn die Sanderlinge in Mauretanien sind und der Meerstrandläufer seinen emsigen Geschäften im Felswatt nachgeht, dann wird es an anderer Stelle weitergehen mit dem Erzählen von Natur. Von ihrer Fragilität und ihrer Macht auf uns, und von Gedanken, die sich mal fester, mal loser an das Naturerlebnis knüpfen. Das Fotografieren überlasse ich dann aber Jan. Vielleicht haben Sie ja Lust, weiter mit auf die Reise zu gehen. Ich verrate Ihnen später, wo Sie einsteigen können.

Für mich heißt es jetzt Abschied nehmen. Übermorgen geht es los. Ein letztes Mal also: Alles Gute von der Insel. Die Dünen, die Wellen, die Vögel sagen auf Wiedersehen. Von mir hören Sie noch einmal, wenn ich wieder am Festland bin.

Bis dahin wünsche ich Ihnen, trotz allem Chaos in der Welt, großartige Naturerlebnisse und einen schönen Herbst!

Ihr

Till Holsten

 

Bild oben: Der Meerstrandläufer am Nordstrand.

Bild unten: Ein Meerstrandläufer in Norwegen.

 

Endlichkeit

Am Weststrand Süd finde ich eine Silbermöwe. Als das Wasser mit der Tide geht, bleibt sie im Spülsaum sitzen. Ihr Kopf ist auf die Brust gesunken, die Augen geschlossen. Sie ist ganz ruhig. Als ich vorbeigehe, regt sie sich kaum. Nur ganz eben noch bebt ihr Körper im Rhythmus der flachen Atemzüge. Ich gehe leise vorbei, möchte nicht, dass sie in ihren letzten Minuten noch Angst verspürt. Sie soll in Frieden sterben. Es ist ein warmer Tag. Die Sonne scheint auf den Vogel, die zurücklaufenden Wellen rauschen sacht. Ein guter Tod für eine Möwe, denke ich mir.

An einem Tag im August treibt der Wind den Sand in dichten Verwehungen über den Strand. Tanghaufen, Fischernetze, Plastikmüll; alles wird begraben unter dem unerbittlichen Andrängen des Sandes. Wo er Halt findet, bilden sich innerhalb von Minuten kleine Dünen. Neben einer bereits halb verschwundenen Holzpalette kauert dunkelbraun ein Häuflein Federn. Auch die Eiderente ist schon halb versunken im Strand. Als ich mich nähere, blinzelt sie. Dann wirft sie wie wild den Kopf hin und her. Sie hat keine Kraft mehr, aufs Meer zu fliegen. Am nächsten Morgen liegt sie starr unter einer der Sandverwehungen. Kein guter Tod für eine Meeresente, denke ich.

Wie oft habe ich das beobachtet, seit ich hier bin? Ich kann es nicht zählen. Erst heute Morgen schlug ein junger Wanderfalke direkt an der Dünenkante einen anderen Vogel, den ich nicht erkennen konnte. Frühstück für den Falken, Ewigkeit für sein Frühstück. Was ich allerdings zählen kann ist die Anzahl der toten Tiere, die ich gefunden habe: Es sind knapp 500. Den Großteil machen Vögel aus. Darunter sind die meisten wiederum diesjährige Möwen. Eine gewisse Verlustrate ist normal. Diesmal wird die Liste leider ergänzt durch eine erhebliche Anzahl Brandseeschwalben und Eiderenten, die wahrscheinlich an der Vogelgrippe gestorben sind (ich habe nicht alle getestet, einige Stichproben waren aber positiv). Auch ein paar Seehunde und Schweinswale stehen, wie jedes Jahr, auf der Liste. Ihnen gegenüber steht eine lange Liste von Beobachtungen des lebendigen Treibens um mich herum, die unter anderem etliche tausend Gelege und Jungvögel beinhaltet, ganz zu schweigen von den Heerscharen der Insekten, bei denen ich ja nicht einmal gezählt, sondern nur die Anwesenheit einer Art anhand einzelner Exemplare dokumentiert habe. Das ist das Werden und Vergehen auf der Insel Trischen.

Es ist sicherlich nicht die schönste Erzählung, aber sie gehört eben zum Leben dazu. „Leben“ ist ja gar nicht so einfach zu definieren. Es gibt tatsächlich bis heute keine allgemeingültige Definition. Googeln Sie ruhig mal, sie werden unterschiedliche und zum Teil recht interessante Versuche finden. Fest steht aber eines: Es ist endlich. Was lebt, wird auch vergehen. Und ob wir wollen oder nicht, das betrifft nicht nur Silbermöwen und Eiderenten. Über den Tod nachdenken ist unangenehm. Und selbst, wenn man sich mutig mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert – es bleibt doch schwer, darüber nachzudenken. Neben dem inneren Widerwillen besteht gewissermaßen auch eine technische Unmöglichkeit: Das Bewusstsein kann sich nicht vorstellen, nicht zu sein.

Nun endet meine Zeit auf Trischen. In wenigen Tagen werde ich ein letztes Mal in den Sand greifen. Werde den Wiesenpiepern meinen Abschied zuflüstern und den Basstölpeln irgendwo da draußen ein letztes Ahoi zurufen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich in einem Anflug sentimentaler Anwandlungen auch den Wellen, dem Mond und der Salzwiese irgendeine Art von Goodbye sagen werde. Dann steige ich an Bord und es geht los. Natürlich, mein Leben ist dann nicht vorbei. Es wird, so hoffe ich, noch Vieles folgen. Gar so alt bin ich ja noch nicht.

Aber war es nicht auch mit meinem Aufenthalt hier so? Das Gefühl, dass alles neu ist, dass eine ewige Zeit vor mir liegt? Die Löffelkräuter die sagten, dass es gerade eben erst Frühling wird? Die gen Nord ziehenden Gänse, die mir versprachen, dass der Herbst noch unendlich fern ist? Nun kommen sie zurück. In ihren Rufen klingt jetzt eine andere Erzählung. Und so ist meine Zeit hier eben auch ein Leben im Kleinen gewesen, „life in a nutshell“, oder „la vie en miniature“ – in jedem Falle: Endlich.

In mir hat sich viel gesammelt, ist viel gereift, ein bisschen wie die dicken Kürbisse, die ich vor ein paar Tagen an der Nordspitze gefunden habe. Der Herbst und der Tod erzählen eben auch davon, dass Leben war, und dass es wieder sein wird. Am Kadaver der Eiderente fraß wenig später die Mantelmöwe. Noch ein paar Tage später fand ich Käfer wie den Ufer-Totengräber und den Gerippten Totenfreund. Klingt ein bisschen unheimlich, ich weiß. Aber die Lerche ist nicht fern, die sie fressen wird. Am Ende bleibt Gesang im Frühling. Oder, naja, ein Wanderfalke, der die Lerche frisst.

Selbst die Insel ist ja endlich. Wie oft sich wohl ihre Substanz schon erneuert hat? Ob auch nur ein einziges Sandkorn noch vorhanden ist von denen, die sie vor vierhundert Jahren begründet haben? Ich glaube kaum. Und doch ist Trischen immer noch da. Selbst wenn es eines Tages keinen Flecken mehr gibt, den wir so nennen werden, ist er ja nur in etwas anderem aufgegangen.

Ich möchte nicht zu esoterisch werden. Sie wissen, ich bin vom Herzen her Wissenschaftler, und das bleibe ich auch. Das zwingt mich aber noch lange nicht zu intellektueller Borniertheit. Die Grenzen unserer Wahrnehmung sind ziemlich eng gezogen. Ich kann ja nicht einmal die Rufe von Fledermäusen hören, obwohl es sie selbstverständlich gibt. Und in all den Gehirnen, die ich in meiner Zeit in der Neuropathologie seziert habe, habe ich folgendes niemals gefunden: Einen Gedanken. Ein Gefühl. Einen Traum.

Mir hilft das Sein in und mit der Natur, mit der eigenen Endlichkeit umzugehen. Natürlich weiß ich nicht, wie es mir eines Tages ergehen wird. Ich weiß aber, dass es mir gut tut, nicht völlig abgekoppelt zu sein vom Werden und Vergehen, auch zu blühenden Lebzeiten nicht. Es gehört dazu. Es macht uns sogar aus. Und auch das ist ein Grund, warum wir die Natur um uns her respektieren sollten: Sie gibt uns einen Kontext, der die große Sinnfrage vielleicht nicht beantwortet, der aber helfen kann, sie auszuhalten.

Dies war übrigens noch nicht der letzte Eintrag, auch wenn er sich ein bisschen so liest. Ein paar Tage sind mir hier ja noch beschieden – und auch die wollen noch erzählt werden!

Die Bilder: Junger Wanderfalke, heute Morgen an Beute kröpfend.  Der dicke Kürbis läutet den Herbst ein. Ein Aaskäfer – der Gerippte Totenfreund hält die Dünen sauber. Und schließlich die Eiderente aus dem Text.

 

 

Niemand ist eine Insel

„Niemand ist eine Insel, in sich ganz; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes. Wenn eine Scholle ins Meer gespült wird, wird Europa weniger, genauso als wenn’s eine Landzunge wäre, oder ein Landgut deines Freundes oder dein eigenes. Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit; und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst.“

John Donne

Ende August am Strand: Die Hitze wabert über blendend weißem Boden. Auf dem Boden trippelt, flirrt und schwirrt es. Hunderte Sandregenpfeifer und Alpenstrandläufer stehen kaum fünf Meter von mir entfernt und tschirpen, tschilpen, plustern und putzen sich wie in einem großangelegten Wimmelbild. Einer streckt entspannt sein schwarzes Beinchen nach hinten. Ein anderer versucht, seinen Fuß von einer Muschel zu befreien, die sich um seinen Zeh gekniffen hat. Ich bin so nahe dran, dass ich sogar einen winzigen Tropfen Blut auf der weißen Muschelschale erkennen kann. Wieder ein anderer beäugt mich skeptisch mit schief gelegtem Köpfchen. Sein perlschwarzes Auge funkelt im Licht. Und ich halte ganz, ganz still. Als er gähnt und den Kopf ins Gefieder steckt, fällt auch meine Anspannung ab.

In den letzten Monaten habe ich gelernt, mich mit viel Zeit und sehr viel Ruhe den Schwärmen so zu nähern, dass ich bisweilen fast mittendrin stehe: Unberechenbare Bewegungen mögen sie gar nicht. Stetige Bewegungen sind okay – am liebsten aber natürlich gar keine. Und am liebsten ist es auch mir, wenn sie auf mich zukommen. Dann weiß ich, dass ich wirklich nicht störe. Das ist ein bisschen wie mit den Kindern in der Notaufnahme. Ohne Zeit muss man das gar nicht versuchen.

Und manchmal fängt dann, wie zur Belohnung für’s lange Stillhalten, auch mein Herz plötzlich wie wild an zu puckern: Ein Ringträger! Mal wieder – ich hatte Ihnen ja schon einmal das Ablesen eines Ringes geschildert. Unendlich langsam arbeite ich mich durch den Schwarm vor, bis ich ein Bild machen kann, das mir Sicherheit gibt. Und einige Stunden später habe ich Gewissheit: Der Vogel stammt aus einem Beringungsprogramm aus der Ukraine. Plötzlich hängen an den steichholzdünnen Bein des kleinen Vogels ganz schön viele Fragen.

Ich habe natürlich versucht, etwas über den Vogel herauszufinden. Es ist gelungen. Dies hier ist die Antwort seines Beringers:

„Hello. That is my bird. However, I am at war and have no access to the database.“

Und so ziehe ich den Hut vor jemandem, der in Gott weiß was für einer Situation seine Mails checkt und versucht ein Vogelberingungsprogramm zu managen. Die Beringungszentrale in Kiew – die tatsächlich arbeitet! – konnte mir schließlich mitteilen, dass der Vogel vor zwei Jahren nahe Mikolajiv beringt worden ist – einer Stadt, die heute gezeichnet ist vom Krieg. Seitdem war der Vogel nicht wieder beobachtet worden.

Zunächst hatte ich mich noch gefragt, ob es womöglich vermessen wäre, sich überhaupt mit so einer Angelegenheit zu melden. Aber dann dachte ich mir, dass auch diese Arbeit weitergehen soll. Ich hoffe sehr, dass der Beringer des Vogels sich freut, wenn er, hoffentlich heil and Leib und Leben, zurückkehrt und sieht, dass seinem Werk ein winziges Stück hinzugefügt wurde. Ich wünsche mir von Herzen, dass der Alpenstrandläufer ein gutes Omen war.

Selbst eine einsame Insel ist also kein Ort, an dem man die Welt einfach vergessen kann. Die riesige Bohrinsel vor meiner Haustür, die gigantomanischen Containerschiffer in der Elbe und der Plastikmüll am Strand führen mir das jeden Tag vor Augen. Aber noch nie war es mir so deutlich, wie an jenem Abend, als ich eine Nachricht von einem Ornithologen bekam, der keine Vögel mehr beringt, sondern mit einem Gewehr um sein Leben kämpft.

Bild 1: Der Alpenstrandläufer, der in Mikolayiv beringt wurde.

Bild 2: Rot markiert sind Mikolayiv als Beringungsort und Trischen als Ort des ersten Wiederfunds.

Stille

Während des Studiums habe ich einmal neben einer vierspurigen Straße gewohnt. Nach vier Jahren in einem Studentenwohnheim, das architektonisch ungefähr den Charme einer stalinistischen Arbeitersiedlung in Nowosibirsk versprühte, freute ich mich über die erste „richtige“ Wohnung und schlug einfach zu, als ich die Gelegenheit hatte, zumal ich mir im Labor inzwischen etwas Geld dazu verdienen konnte. Die Wohnung lag im Hochparterre. Fünf Meter daneben raste der Berufsverkehr durch Münster, nur unterbrochen durch die Einfahrt der Rettungswagen, die sich Tag und Nacht mit Blaulicht und Martinshorn ihren Weg bahnten. Nach zwei Jahren war ich nervlich ziemlich runter. Und das lag nicht an den Klausuren. Lärm macht kaputt.

Und jetzt? Als ich heute Morgen aufwachte, fiel ich geradezu in die Stille. Über Nacht war auch der Wind völlig eingeschlafen, und offensichtlich war ich vor ihm aufgewacht. Gedanken machen keine Geräusche. Und da sich in der Hütte nichts regte, befand ich mich in einem, tonal betrachtet, luftleeren Raum. Aber da war doch etwas: Denn das Fehlen von Geräuschen ist in unserer Welt so ungewöhnlich, dass es den Charakter eines eigenen Klangs bekommt: Man kann die Stille hören.

Das erste Tappen der nackten Füße auf den Holzdielen, das Aufgießen des Kaffees, schließlich das Flattern einer Hausmutter am Fenster, die sich nachts in die Hütte verflogen hatte – ganz langsam begann die Sinfonie des Tages anzuheben. Wenig später stand ich vor der Tür und lauschte, was die Insel heute zu erzählen hatte. Und dann ist es wirklich ein bisschen wie bei Ravels berühmtem Bolero. Ein Ton kommt zum anderen. Und zum Rhythmus von Gezeiten, Sonne und Mond verdichtet sich nach und nach die Klangwelt. Hoch in der Luft quätschen Bekassinen. Es klingt wirklich, als würde man Gummistiefel aus dem Matsch ziehen. Und das Gummistiefelgeräusch kündigt passenderweise den Herbst an. Ich liebe es! Im Lockgebüsch sitzen tschackend Gartenrotschwänze, die die Nacht auf die Insel getragen hat. Zwei Fitisse stimmen mit sanftem „hüüüit“ ein. Eine Gartengrasmücke schaut aufmerksam zu und bleibt still. Etwas später lausche ich, ausgerüstet mit Parabolspiegel und Kopfhörer, in den Himmel, der erfüllt ist von den Rufen der Schafstelzen und Baumpieper, die es gen Süd zieht. Unentwegt rufen sie sich zu: „Hier bin ich! Wo bist du?“ Da oben lebt eine ganze Welt von deren Existenz wir kaum ahnen. Erst die Stille der Insel gibt ihr den Raum, sich in meinem Leben abzubilden.

Stille kann aber auch andere Ausmaße, bis hin zur Gewalt, annehmen. Einige kennt jeder, andere sind privat oder einfach sehr speziell: Der Moment, wenn jemand etwas gesagt hat, das alles ändert. Der Moment, kurz bevor man fällt. Wenn man bei der Auskultation mit dem Stethoskop nur noch die Beatmungsmaschine hört. Wenn man reden möchte, aber nicht kann. Wenn niemand da ist, der zuhört. Stille kann manchmal auch sehr schwer zu ertragen sein. Gestern zog gegen Nachmittag ein schweres Gewitter auf. Es sah aus, als würde jemand am Himmel riesige Tintenpatronen in ein Glas Wasser entleeren. Ich stand da wie gebannt. Irgendwann merkte ich, wie ruhig es war. Nur in der Ferne flötete ein Brachvogel. Schließlich kam jedes Geräusch zum Erliegen. Und dann brach der Donner sich Bahn, mit der Kraft eines brüllenden Ungeheuers aus grauer Vorzeit. Es war, als hätten alle anderen Töne Platz gemacht, damit er sich entfalten kann. Und dann versank die Welt im Rauschen des Regens.

Warum empfinden wir das Dröhnen einer Autobahn als unangenehm, das Plätschern eines Baches aber als schön? Ich finde das sehr rätselhaft und habe keine Antwort. Wahrscheinlich ist sie irgendwo tief in der Struktur unseres Gehirn niedergelegt. Ich finde auch, dass man mit dem gleichen Recht, mit dem jemand sagt: Ich muss hier eine Straße haben! sagen kann: Ich möchte hier keine Straße haben. Man muss das im Einzelfall ausdiskutieren, denn natürlich brauchen wir einen Weg für Rettungswagen. Aber eine Diskussion muss man führen. Man darf nicht einfach unwidersprochen dem Lärm das Feld überlassen. Ich weiß, dass es gut tut, der Stille Raum zu geben. Das kann erschütternd sein, aber auch heilsam. Und es öffnet die Sinne für die Existenz des Anderen: Ob das nun ein Mensch ist, der sich aussprechen muss, oder ein Goldregenpfeifer, der hoch am Himmel tütet: „Ich bin da. Hörst du mich?“

Trifft ein Einsiedler einen anderen…

Eigentlich ist sie ja ziemlich schön. Ich mag ihren Olivton, der an Jade erinnert und von schwarzen und beigen Sprenkeln durchsetzt ist. Die Oberflächenstruktur der Schale sieht aus wie die Strahlen einer kleinen Sonne. Trotzdem kann ich mich nicht so recht an dem freuen, was ich da gerade aus dem Watt gebuddelt habe. Aber dazu später mehr.

Es ist Anfang September. Und das heißt: Wattkartierung. Pünktlich zum Eintreffen der Zugvögel aus der Arktis ist das Watt um diese Jahreszeit randvoll mit Leben. Einen ganzen Sommer lang hatten Abermilliarden Organismen Zeit zu wachsen und sich zu vermehren. Über Millionen Jahre Evolution und etliche tausend Generationen hinweg haben Lebewesen ihren Lebensrhythmus nach und nach so aufeinander abgestimmt, dass für alle eine mindestens brauchbare – also das Überleben und Vermehrung ermöglichende – Gesamtlage dabei herausspringt. Und deswegen landet der Alpenstrandläufer hier, wenn der Tisch auch wirklich gedeckt ist. Ich staune jedes Jahr wieder über die synchronisierten Abläufe in der Natur.

Wattkartierung heißt aber nicht nur staunen, sondern auch schwitzen. 15 Kartierpunkte auf zwei insgesamt fast 10 Kilometer langen Strecken muss ich ablaufen. Kluge Leute nehmen sich ein paar Kolleginnen oder Freunde und, wie in der Anleitung empfohlen, „Motivationsschokolade“ mit. Ich habe allerdings auch schonmal von Motivationsbier gehört (Sie ahnen sicherlich, auf welche Idee man bei 15 Kartierpunkten kommen kann – ich halte die Story aber für erfunden..). Auf Trischen sieht’s anders aus. Hier heißt es: Du und das Watt. Und so ziehe ich denn los. Auf meinem Wagen schaukeln ein zur Probeentnahmeröhre umfunktioniertes altes Rohr, ein Spaten und eine Kiste mit dem unabdingbaren Kleinkram. Das GPS-Gerät halte ich in der Hand. Zwischen glucksenden Spüllöchern und stochernden Watvögeln führt es mich zu den vorgesehenen Punkten. Da im gesamten Wattenmeer seit Anfang der 90er Jahre solche Kartierungen vorgenommen werden, lassen sich auf lange Sicht sehr präzise Aussagen über die Dynamik von Populationen verschiedenster Arten treffen. Das ist ein Datenschatz, den sich viele andere Wissenschaftler nur wünschen können.

Aber ich merke einmal mehr: Puh! Wissenschaft ist anstrengend! Die Sonne brennt. Der Schweiß läuft in Strömen. Ich wette, der Salzgehalt der Nordsee liegt um mindestens einen Prozentpunkt höher, wenn Mitte September alle Kartierteams ihre Arbeit verrichtet haben. Das Watt in der Südostbucht ist ausgesprochen schlickig, denn hier kommt das Wasser zur Ruhe. Feinste Teilchen sedimentieren und lassen meine Beine bis zum Knie versinken. Der Wagen sammelt den Schlamm, ihm fehlen die Kotflügel. Alle hundert Meter muss ich ihn vom durch die Räder heraufgeworfenen Schlick befreien. Schließlich gibt sich das Problem, da sie sich irgendwann ohnehin nicht mehr drehen – jetzt habe ich einen Schlitten. Ich zähle Oberflächenspuren, bohre mit der Proberöhre, grabe mit dem Spaten. Als ich nachhause komme, bin ich fix und alle und sehe aus wie das Ding aus dem Sumpf.

Aber jetzt müssen die Proben sortiert werden. Und da fällt mir die Hübsche von oben entgegen. Es handelt sich um eine Teppichmuschel der Gattung Ruditapes. Sie stammt aus dem Pazifikraum und wurde durch Menschen sowohl wissentlich eingebürgert, da sie als Speisemuschel dient, als auch versehentlich eingeschleppt. Leider ist inzwischen belegt, dass sie durch ihre ungeheure Filtrationsleistung die Entwicklung heimischer Muschelarten beeinträchtigen kann. Dennoch, eine Muschel ist ein faszinierendes Wesen: Zwischen den Schalen lebt etwas, das fast nur aus Muskel und ein bisschen Verdauungstrakt besteht. Wenn man daran ein wenig herumphilosophiert (und vielleicht einen kleinen Sonnenstich hat), kommt man auf interessante Gedanken.

Der zweite Tag geht leichter von der Hand. Im Nordwesten ist das Watt sandiger, da hier viel stärkere Strömung vorherrscht. Im Vergleich zum Vortag habe ich das Gefühl, über das Watt zu fliegen. Und dann finde ich noch einen possierlichen kleinen Einsiedlerkrebs, der auf meiner Hand für einen Fototermin posiert. Schön!

Zurück in der Hütte falle ich fast vom Glauben ab: Mit noch schlammigen Füßen lese ich eine Mail. Und in der Mail steht, ich möge doch bitte nach dem invasiven Einsiedlerkrebs Pagurus longicarpus Ausschau halten, der sich inzwischen in hiesigen Gefilden ausbreitet… Pagurus longicarpus erkennen Sie an einem grün-bläulichen Schimmer auf der Schere. Außerdem ist das Glied dahinter verlängert und wirkt gestreckter als beim heimischen Einsiedlerkrebs. Und jetzt schauen Sie sich mal die Fotos an.

Die Zeiten ändern sich also. Arten, die früher noch häufig waren, verschwinden. Neue stellen sich ein. Oft konkurrieren sie miteinander um Ressourcen, zum Beispiel um Plankton, wie Muscheln es aus dem Wasser filtern, oder Gehäuse von Strandschnecken als Behausung, wie Einsiedlerkrebse sie nutzen. Wie die Sache ausgeht, ist nicht immer einfach zu sagen. Manchmal kommt es zur Koexistenz, manchmal können sich Arten etablieren, während andere sich nicht mehr halten. Fest steht, dass der Mensch durch Einschleppungen und vor allem die durch ihn bedingten klimatischen Veränderungen stark zu diesen Prozessen beiträgt. Ich bin gespannt, wie die Ergebnisse der Wattkartierung in zwanzig Jahren aussehen.

In diesem Zusammenhang habe ich noch eine Anmerkung: Manchmal werden grobe Analogieschlüsse von der Natur auf den Menschen genutzt, um politisch Stimmung zu machen. Es ist mir deshalb wichtig zu betonen, dass wir Menschen alle zu einer Art gehören, ob das nun dem Einzelnen passt oder nicht. Abgesehen davon sind Sie und ich, anders als die Teppichmuschel, an moralische Maßstäbe gebunden. Das macht uns zu Menschen. Wer immer das nicht begreift, dem können Sie also gerne sagen, dass er offensichtlich nicht viel mehr Gehalt hat als, nun ja, ein paar Muskeln und einen erstaunlich langen Verdauungstrakt.