Strandfunde Beiträge

Die Vogelgrippe auf Trischen

Moin, liebe Blog-Leser:innen,

seit meiner Ankunft achte ich bei meinen Touren über Strand, Düne und Salzwiese auf alles was so herumliegt: interessante Fundstücke an Müll, Bernstein, ein altes 5 Mark Stück oder Quitscheentchen. Irgendetwas Neues findet sich meistens. Was ich vor allem viel finde, sind verendete Vögel. Mein Vorgänger Till hat hier bereits über die Endlichkeit auf der Insel geschrieben (LINK). Wenn ich einen Kadaver sehe, dokumentiere ich die Art, Details wie Alter und Geschlecht, den Fundort und das Datum. Dann markiere ich den Vogel mit einem bunten Plastikfaden, um ihn beim nächsten Mal nicht doppelt zu erfassen, ein Trick den mir meine Vorgängerin Melanie gegeben hat. Im ersten Monat ist schon einiges zusammengekommen, insgesamt habe ich 180 Totvögel aus 21 Arten gefunden. In den letzten Jahren waren es zwischen 12 und 63 Totvögel, die Zahlen sind also sehr hoch. Einige dieser Vögel sind Rupfungen, vor allem durch Wanderfalke und Seeadler geschlagen. Darunter sind viele Waldschnepfen, Eiderenten, Alpenstrandläufer und ein Merlin. Die Natur nimmt ihren üblichen Lauf.

Einen großen Teil der toten Vögel muss ich aber leider der Vogelgrippe zuordnen, diese erklärt auch die hohe Zahl der gestorbenen Individuen im Vergleich zu den Vorjahren. Die Vogelgrippe ist in der Vergangenheit überwiegend im Winter aufgetreten, seit 2020 kann sich H5N1 jedoch auch über den Sommer halten, eine bedrohliche Situation. Vor allem Kolonien von ohnehin schon gefährdeten Seevogelarten waren hiervon jüngst betroffen. Auch auf Trischen ist die Vogelgrippe nichts Neues, Till hatte hier viele betroffene Brandseeschwalben gefunden, daneben auch Basstölpel und Eiderenten (LINK). Zu einem Ausbruch unter den hier brütenden Arten kam es nur bedingt, junge Löffler und Silber- und Heringsmöwen waren betroffen, aus 2023 gab es keine eindeutigen Nachweise.

Allein 95 meiner gefundenen Kadaver sind Alpenstrandläufer, eine ungewöhnlich hohe Zahl. Die Vogelgrippe beim Alpenstrandläufer ist gut untersucht. Diese Art steckt sich leider sehr schnell mit dem Virus an. Etwa drei bis fünf Tage nach der Infektion stirbt der Vogel, in der Zwischenzeit kann er seine Artgenossen anstecken. Zur Zeit rasten tausende Alpenstrandläufer um und auf Trischen, die Vogelgrippe verkleinert die Zahl. Zudem sind viele Eiderenten unter meinen Funden, eine Art bei der der Ausbruch der Aviären Influenza, wie die Vogelgrippe auch genannt wird, ebenfalls gut belegt ist. Ich wünsche mir sehr, dass es in diesem Jahr bei den Wintergästen und Rastvögeln im Frühjahr bleibt, dass die Brutvögel hier nicht oder wenigstens wenig betroffen sein werden. Ausbrüche solcher Viren zeigen, wie angreifbar ein Ökosystem sein kann und wie wichtig es deshalb auch ist, Gebiete, Arten und Individuuen zu schützen und die Gefährdungsursachen so gut es geht zu minimieren.

Wo viel Leben ist, wird auch viel gestorben, die Totfunde gehören zum Leben als Vogelwart. Aber genug der traurigen Themen. Die Insel wird auch immer lebendiger. Die ersten Seeschwalben treffen langsam ein, immer mal huscht eine Rauchschwalbe über die Insel, die ersten Pflanzen blühen und ich habe schon viele Gelege von Graugänsen und Stockenten entdeckt. In den nächsten Tagen wird es voller hier auf der Insel, die Gelege werden schlagartig zunehmen, es wird mehr und mehr blühen, die Insel wird grüner. Toll, das miterleben zu dürfen!

Ich wünsche euch allen einen schönen, lebendigen Frühling,

Jakob

Ungebetene Gäste

Moin, liebe Leser:innen,

In der vergangenen Woche gab es überraschende Funde auf Trischen. Bei einem meiner Kontrollgänge über die Insel entdeckte ich Laufspuren kleiner Säugetiere an der Kante der Dünen. Meine erste Befürchtung: Wanderratten! Diese Nagetiere bereiten derzeit Probleme in vielen Küstenregionen mit Brutvogelkolonien; vor allem auf Inseln, wo bodenbrütende Vögel eigentlich sicher vor Fressfeinden sind. Wanderratten fressen Eier und Küken und bedrohen damit die Bestände zahlreicher Arten. Betroffen sind z.B. Austernfischer auf den Halligen, Brandseeschwalben auf Norderoog, Lachseeschwalben bei Neufeld, die alle unter der sich ausbreitenden Wanderrattenpopulation leiden. Trischen ist bisher von Wanderratten verschont geblieben. Recht schnell kam dann glücklicherweise die Entwarnung: die gesichteten Spuren hier auf der Insel stammen offenbar von einem Bisam. Dieser Nager breitet sich ebenfalls stark aus und erobert gerade das Wattenmeer. Für die Brutvögel gilt er als eher ungefährlich, da er sich fast ausschließlich von Pflanzen ernährt. Meine Vorgänger:innen Till und Melanie konnten in den letzten zwei Jahren ebenfalls Bisamratten auf Trischen nachweisen. Ob, beziehungsweise wie die Nager die Sturmfluten des letzten Winters hier auf Trischen überlebt haben, ist mir bislang noch ein Rätsel.

Bisamspuren am Strand

Wenig später machte ich eine weitere unliebsame Entdeckung: Ich fand den Schädel eines Nagers im Spülsaum an der Südspitze von Trischen. Nach erneuter Aufregung gab es zum Glück auch erneute Entwarnung: Der Schädel stammt von einer jungen Nutria. Nutrias gelten als weitere Neozoen, die sich im Wattenmeer ausbreiten. Auch Nutrias sind als vorwiegende Vegetarier kein Problem für unsere Brutvögel auf Trischen. Bisher gab es allerdings keine Nachweise von Nutrias hier auf der Insel. Ob der Schädel von einem Tier stammt, das tatsächlich auf Trischen unterwegs war, ist fraglich.

Nutriaschädel

Jetzt heißt es, die Augen offenhalten. Meine Aufmerksamkeit gilt jetzt Funden im Spülsaum, weiteren Spuren im Sand und im Schlick, Bauten und Losungen, vielleicht sogar der Sichtung einzelner Individuen. 2019 fand Anne de Walmont zwei frisch tote Marderhunde auf Trischen, 2021 hatte Anne Evers über mehrere Wochen einen Fuchs zu Besuch. Auch diese beiden Arten können für Brutvogelkolonien sehr gefährlich werden.

Derzeit ist es auf Trischen noch sehr ruhig und die Insel ist ein sicherer Ort für die Vögel. Hoffen wir, dass es beim Vorkommen der eher harmlosen Nagern bleibt und dass Wanderratten und andere ungebetene Gäste nicht den Weg auf die Insel finden.

Beste Grüße
Jakob

Wale hier, Wale dort

Liebe Blogleserinnen und -leser,

Windstille. Der Hausrotschwanz ist schon zweimal an meinem Fenster vorbeigehüpft. Ich werfe einen prüfenden Blick nach draußen und halte inne: spiegelglattes Wasser. Eigentlich bin ich gerade am Abendessen kochen. Egal. Herd aus, das Spektiv geschnappt und auf den Turm. Die Verlockung ist einfach zu groß. Ich kann bis nach Büsum gucken! Angefangen bei meinem Standard-Sterntaucher, der immer da ist, schwenke ich nach links. Sterntaucher 2, 3, 4, 5…huch sind das heute viele…6, ein paar Eiderenten dazwischen…7, 8, durch die Spektiv-Guckerei zwickt es ganz schön im Rücken – einmal Schultern schütteln und weiter, 9, 10. Halt Moment, was war denn das? Eine Finne ragt aus dem Wasser. Weg ist sie. Wenig später taucht sie wieder auf. Mehr sehe ich nicht von meinem Schweinswal. Aber das macht nichts, weiß ich doch, dass er da ist und offensichtlich etwas entdeckt hat. Er bleibt nämlich bestimmt zwei drei Minuten an der gleichen Stelle und gibt mir ausreichend Zeit, die auf- und abtauchende Finne zu begutachten. Was für eine Freude! Leider gelang mir auf die Entfernung kein Foto, dafür konnte ich um so mehr den Moment genießen.

Der gewöhnliche Schweinswal (Phocoena phocoena) ist die einzige in Nord- und Ostsee heimische Walart. Seine Vorkommensgebiete erstrecken sich auf die Küstengewässer der nördlichen Hemisphäre. In Deutschland werden Schweinswale beispielsweise häufiger in der Kieler Bucht oder der Flensburger Förde gesichtet, aber auch in dem Walschutzgebiet vor Sylt, bei Amrum und vor der niedersächsischen Küste. Aussagen zu genauen Beständen sind schwierig, denn die kleine Walart kann meistens nur bei geringen Wasserbewegungen entdeckt werden.

Ein Ansatz genaue Daten zu bekommen ist die Zählung von speziell ausgestatteten Flugzeugen und Schiffen entlang bestimmter Routen. Diese Art der Walzählung wurde seit 1994 bereits das vierte Mal auf unglaublichen 1,4 Millionen Quadratkilometern (Südnorwegen bis nach Portugal) durchgeführt (https://www.tiho-hannover.de/universitaet/aktuelles-veroeffentlichungen/pressemitteilungen/detail/internationale-walzaehlung-gestartet). Die Erfassung ist jedoch nur unter hohem Aufwand zu realisieren. Doch wie sonst sollen Daten zu Walvorkommen erhoben werden? Schließlich sind rund 2/3 (ca. 71%) der Erdoberfläche von Wasser bedeckt, wovon etwa 97% anteilig auf die Meere entfallen.

Der Iroise Marine Natural Park (Le parc naturel marin d’Iroise) und ein Forschungsteam der ENSTA Bretagne haben eine andere Methode entwickelt, die Bedeutung eines bestimmten Meeresgebietes für Walarten zu ermitteln. Sie haben das CETIROISE Projekt gegründet, in dem die Walvorkommen der Iroise See (Meeresgebiet der Bretagne) untersucht werden sollen. Dazu wurden ab Mai 2022 insgesamt 7 Hydrophone („Unterwassermikrophone“) ausgebracht und im Boden verankert. Jede Walart gibt unterschiedliche Arten von Geräuschen ab und verwendet unterschiedliche Frequenzbereiche, die für sie spezifisch sind. Über die akustischen Aufnahmen der Hydrophone kann dann in etwa ermittelt werden, ob und wie regelmäßig ein Gebiet von bestimmten Walarten genutzt wird (https://parc-marin-iroise.fr/actualites/cetiroise).

Nun haben sich bestimmt schon manche von ihnen gefragt, weshalb ich sie durch all diese technischen Details quäle. Schließlich hätte es auch ein einfacher Bericht zur Schweinswalsichtung getan. Aber ich habe noch ein bisschen mehr zu berichten! Denn bei meinem ersten Strandspaziergang auf Trischen habe ich ein solches Hydrophon gefunden! Auch wenn ich zunächst von einem Drifter (https://blogs.nabu.de/trischen/drifter-gefunden/) ausgegangen bin, wurde ich schnell eines besseren belehrt. Auf dem Hydrophon standen nämlich Kontaktdaten und eine Bitte um Meldung, sollte man ein solches Gerät gefunden haben.

Wale hier, Wale dort – eine walreiche Zeit. Möge es bitte so weitergehen 🙂

Ihre Melanie Theel

 

Trifft ein Einsiedler einen anderen…

Eigentlich ist sie ja ziemlich schön. Ich mag ihren Olivton, der an Jade erinnert und von schwarzen und beigen Sprenkeln durchsetzt ist. Die Oberflächenstruktur der Schale sieht aus wie die Strahlen einer kleinen Sonne. Trotzdem kann ich mich nicht so recht an dem freuen, was ich da gerade aus dem Watt gebuddelt habe. Aber dazu später mehr.

Es ist Anfang September. Und das heißt: Wattkartierung. Pünktlich zum Eintreffen der Zugvögel aus der Arktis ist das Watt um diese Jahreszeit randvoll mit Leben. Einen ganzen Sommer lang hatten Abermilliarden Organismen Zeit zu wachsen und sich zu vermehren. Über Millionen Jahre Evolution und etliche tausend Generationen hinweg haben Lebewesen ihren Lebensrhythmus nach und nach so aufeinander abgestimmt, dass für alle eine mindestens brauchbare – also das Überleben und Vermehrung ermöglichende – Gesamtlage dabei herausspringt. Und deswegen landet der Alpenstrandläufer hier, wenn der Tisch auch wirklich gedeckt ist. Ich staune jedes Jahr wieder über die synchronisierten Abläufe in der Natur.

Wattkartierung heißt aber nicht nur staunen, sondern auch schwitzen. 15 Kartierpunkte auf zwei insgesamt fast 10 Kilometer langen Strecken muss ich ablaufen. Kluge Leute nehmen sich ein paar Kolleginnen oder Freunde und, wie in der Anleitung empfohlen, „Motivationsschokolade“ mit. Ich habe allerdings auch schonmal von Motivationsbier gehört (Sie ahnen sicherlich, auf welche Idee man bei 15 Kartierpunkten kommen kann – ich halte die Story aber für erfunden..). Auf Trischen sieht’s anders aus. Hier heißt es: Du und das Watt. Und so ziehe ich denn los. Auf meinem Wagen schaukeln ein zur Probeentnahmeröhre umfunktioniertes altes Rohr, ein Spaten und eine Kiste mit dem unabdingbaren Kleinkram. Das GPS-Gerät halte ich in der Hand. Zwischen glucksenden Spüllöchern und stochernden Watvögeln führt es mich zu den vorgesehenen Punkten. Da im gesamten Wattenmeer seit Anfang der 90er Jahre solche Kartierungen vorgenommen werden, lassen sich auf lange Sicht sehr präzise Aussagen über die Dynamik von Populationen verschiedenster Arten treffen. Das ist ein Datenschatz, den sich viele andere Wissenschaftler nur wünschen können.

Aber ich merke einmal mehr: Puh! Wissenschaft ist anstrengend! Die Sonne brennt. Der Schweiß läuft in Strömen. Ich wette, der Salzgehalt der Nordsee liegt um mindestens einen Prozentpunkt höher, wenn Mitte September alle Kartierteams ihre Arbeit verrichtet haben. Das Watt in der Südostbucht ist ausgesprochen schlickig, denn hier kommt das Wasser zur Ruhe. Feinste Teilchen sedimentieren und lassen meine Beine bis zum Knie versinken. Der Wagen sammelt den Schlamm, ihm fehlen die Kotflügel. Alle hundert Meter muss ich ihn vom durch die Räder heraufgeworfenen Schlick befreien. Schließlich gibt sich das Problem, da sie sich irgendwann ohnehin nicht mehr drehen – jetzt habe ich einen Schlitten. Ich zähle Oberflächenspuren, bohre mit der Proberöhre, grabe mit dem Spaten. Als ich nachhause komme, bin ich fix und alle und sehe aus wie das Ding aus dem Sumpf.

Aber jetzt müssen die Proben sortiert werden. Und da fällt mir die Hübsche von oben entgegen. Es handelt sich um eine Teppichmuschel der Gattung Ruditapes. Sie stammt aus dem Pazifikraum und wurde durch Menschen sowohl wissentlich eingebürgert, da sie als Speisemuschel dient, als auch versehentlich eingeschleppt. Leider ist inzwischen belegt, dass sie durch ihre ungeheure Filtrationsleistung die Entwicklung heimischer Muschelarten beeinträchtigen kann. Dennoch, eine Muschel ist ein faszinierendes Wesen: Zwischen den Schalen lebt etwas, das fast nur aus Muskel und ein bisschen Verdauungstrakt besteht. Wenn man daran ein wenig herumphilosophiert (und vielleicht einen kleinen Sonnenstich hat), kommt man auf interessante Gedanken.

Der zweite Tag geht leichter von der Hand. Im Nordwesten ist das Watt sandiger, da hier viel stärkere Strömung vorherrscht. Im Vergleich zum Vortag habe ich das Gefühl, über das Watt zu fliegen. Und dann finde ich noch einen possierlichen kleinen Einsiedlerkrebs, der auf meiner Hand für einen Fototermin posiert. Schön!

Zurück in der Hütte falle ich fast vom Glauben ab: Mit noch schlammigen Füßen lese ich eine Mail. Und in der Mail steht, ich möge doch bitte nach dem invasiven Einsiedlerkrebs Pagurus longicarpus Ausschau halten, der sich inzwischen in hiesigen Gefilden ausbreitet… Pagurus longicarpus erkennen Sie an einem grün-bläulichen Schimmer auf der Schere. Außerdem ist das Glied dahinter verlängert und wirkt gestreckter als beim heimischen Einsiedlerkrebs. Und jetzt schauen Sie sich mal die Fotos an.

Die Zeiten ändern sich also. Arten, die früher noch häufig waren, verschwinden. Neue stellen sich ein. Oft konkurrieren sie miteinander um Ressourcen, zum Beispiel um Plankton, wie Muscheln es aus dem Wasser filtern, oder Gehäuse von Strandschnecken als Behausung, wie Einsiedlerkrebse sie nutzen. Wie die Sache ausgeht, ist nicht immer einfach zu sagen. Manchmal kommt es zur Koexistenz, manchmal können sich Arten etablieren, während andere sich nicht mehr halten. Fest steht, dass der Mensch durch Einschleppungen und vor allem die durch ihn bedingten klimatischen Veränderungen stark zu diesen Prozessen beiträgt. Ich bin gespannt, wie die Ergebnisse der Wattkartierung in zwanzig Jahren aussehen.

In diesem Zusammenhang habe ich noch eine Anmerkung: Manchmal werden grobe Analogieschlüsse von der Natur auf den Menschen genutzt, um politisch Stimmung zu machen. Es ist mir deshalb wichtig zu betonen, dass wir Menschen alle zu einer Art gehören, ob das nun dem Einzelnen passt oder nicht. Abgesehen davon sind Sie und ich, anders als die Teppichmuschel, an moralische Maßstäbe gebunden. Das macht uns zu Menschen. Wer immer das nicht begreift, dem können Sie also gerne sagen, dass er offensichtlich nicht viel mehr Gehalt hat als, nun ja, ein paar Muskeln und einen erstaunlich langen Verdauungstrakt.

 

500 Jahre Einsamkeit

Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, welches Tier Sie gerne wären? Ich weiß: Die Frage ist absurd. Denn wären wir ein Tier, hätten wir ja auch das Bewusstsein eines solchen. Als Adler käme uns das Fliegen wie eine Selbstverständlichkeit vor, und anstatt uns der großen Freiheit zu erfreuen, würden wir uns eben mit Adlersorgen und Adlernöten plagen. Aber philosophische Ungereimtheiten mal beiseite: Ich mag es, darüber nachzudenken (und auf Parties Leute aus dem Nichts mit solchen Fragen zu konfrontieren). Erstens kann das psychologisch ganz erhellend sein. Zweitens rede ich einfach gerne über Tiere, das ist Ihnen vielleicht schon aufgefallen. Und drittens bin ich neulich am Strand über eines gestolpert, dass ein ganz neues Licht auf diese Frage wirft.

Probieren Sie es einmal aus! Die Antworten fallen erstaunlich ähnlich aus. Die Gefragten wären erfahrungsgemäß meistens gerne ein Löwe, ein Wolf oder eben ein Adler. Selten mischt sich einmal etwas anderes darunter. Aber ein Waschbär oder gar ein Oktopus sind schon selten, und Drachen lasse ich als Antwort nicht gelten. Hinter den stereotypen Antworten steckt wohl das weit verbreitete Bedürfnis nach einer Wildheit und Freiheit, die die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen nicht bietet (fragen Sie mich nicht, für was für ein Bedürfnis der Oktopus stand). Ich möchte Ihnen nun einen völlig anderen Vorschlag machen.

Seien Sie die Islandmuschel! Neulich habe ich bei der Strandpatrouille nach einem Sturm eine Schale dieses Tieres, das entgegen seines Namens vom Westatlantik bis in die Ostsee vorkommt, entdeckt. Sie lag inmitten zehntausender Sandklaffmuscheln an der Südspitze der Insel und fiel durch ihre angenehme Form ins Auge. Äußerlich wirkt sie eigentlich gar nicht besonders: Mattschwarz schwingt sich die Schale der etwa handtellergroßen Muschel in einem harmonisch-eleganten Bogen in Richtung Scheitelpunkt. Streicht man mit dem Finger vorsichtig darüber, spürt man viele kleine Riffel, die genau diesen Schwung nachvollziehen. Und darin steckt das Geheimnis.

Denn jeder dieser Riffel ist eine Zuwachslinie. Wie bei einem Baum, der jedes Jahr einen Wachstumsring hinzugewinnt, lässt sich auch das Alter der Islandmuschel an ihren Ringen ablesen. Ich habe natürlich sofort gezählt: Meine Muschel ist 47 Jahre alt geworden. Denkt man gar nicht von so einem kleinen Schalentier, oder? Und jetzt passen Sie mal auf: Die Muscheln erreichen die Geschlechtsreife erst mit 12 Jahren. Das macht aber gar nichts, denn sie werden mehrere hundert Jahre alt. Die uralten Schalen beinhalten sogar Informationen über das Klima vergangener Zeiten!

Die älteste bekannte Islandmuschel fanden Forscher 2006 vor Island. Sie war 507 Jahre alt. Überlegen Sie mal, mit was für Schiffen die Menschen über ihr auf dem Ozean herumgekreuzt sind, als sie noch jung war! Ihr Leben verbringen sie tief eingegraben im Boden, was eine deutsche Zeitung dazu veranlasste zu titeln „Vierhundert Jahre im Dunkeln ohne Sex“. Anfänglich war die Muschel auf „nur“ knapp über 400 Jahre geschätzt worden. Das klingt im Vergleich zum Leben eines Löwen natürlich alt, aber langweilig. Beim Lesen musste ich deshalb spontan an den Survivalexperten Rüdiger Nehberg denken, der immer gesagt haben soll „Lieber kurz und kurzweilig als lang und langweilig“, wenn er wieder auf Abenteuer an irgendeinen gefährlichen Ort aufbrach. Aber man kann es auch anders betrachten. Wenn man 500 Jahre lang tief im Boden lebt, hat man auch seine Ruhe. Niemand, der ständig etwas von einem will, keine Emails, kein Liebeskummer, kein Rasen, der gemäht, keine Küken, die gefüttert werden müssen. Klingt doch nach einem Deal!

Andererseits…kann man das nicht irgendwie verbinden? Das Beste aus allen Welten vereinen? Lang und kurzweilig sozusagen? 500 Jahre Einsamkeit sind ja schon ein Wort. Vielleicht bleibe ich am liebsten doch ein Mensch. Rüdiger Nehberg ist, nach einem Leben voller Abenteuer, 84 Jahre alt geworden.