500 Jahre Einsamkeit

Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, welches Tier Sie gerne wären? Ich weiß: Die Frage ist absurd. Denn wären wir ein Tier, hätten wir ja auch das Bewusstsein eines solchen. Als Adler käme uns das Fliegen wie eine Selbstverständlichkeit vor, und anstatt uns der großen Freiheit zu erfreuen, würden wir uns eben mit Adlersorgen und Adlernöten plagen. Aber philosophische Ungereimtheiten mal beiseite: Ich mag es, darüber nachzudenken (und auf Parties Leute aus dem Nichts mit solchen Fragen zu konfrontieren). Erstens kann das psychologisch ganz erhellend sein. Zweitens rede ich einfach gerne über Tiere, das ist Ihnen vielleicht schon aufgefallen. Und drittens bin ich neulich am Strand über eines gestolpert, dass ein ganz neues Licht auf diese Frage wirft.

Probieren Sie es einmal aus! Die Antworten fallen erstaunlich ähnlich aus. Die Gefragten wären erfahrungsgemäß meistens gerne ein Löwe, ein Wolf oder eben ein Adler. Selten mischt sich einmal etwas anderes darunter. Aber ein Waschbär oder gar ein Oktopus sind schon selten, und Drachen lasse ich als Antwort nicht gelten. Hinter den stereotypen Antworten steckt wohl das weit verbreitete Bedürfnis nach einer Wildheit und Freiheit, die die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen nicht bietet (fragen Sie mich nicht, für was für ein Bedürfnis der Oktopus stand). Ich möchte Ihnen nun einen völlig anderen Vorschlag machen.

Seien Sie die Islandmuschel! Neulich habe ich bei der Strandpatrouille nach einem Sturm eine Schale dieses Tieres, das entgegen seines Namens vom Westatlantik bis in die Ostsee vorkommt, entdeckt. Sie lag inmitten zehntausender Sandklaffmuscheln an der Südspitze der Insel und fiel durch ihre angenehme Form ins Auge. Äußerlich wirkt sie eigentlich gar nicht besonders: Mattschwarz schwingt sich die Schale der etwa handtellergroßen Muschel in einem harmonisch-eleganten Bogen in Richtung Scheitelpunkt. Streicht man mit dem Finger vorsichtig darüber, spürt man viele kleine Riffel, die genau diesen Schwung nachvollziehen. Und darin steckt das Geheimnis.

Denn jeder dieser Riffel ist eine Zuwachslinie. Wie bei einem Baum, der jedes Jahr einen Wachstumsring hinzugewinnt, lässt sich auch das Alter der Islandmuschel an ihren Ringen ablesen. Ich habe natürlich sofort gezählt: Meine Muschel ist 47 Jahre alt geworden. Denkt man gar nicht von so einem kleinen Schalentier, oder? Und jetzt passen Sie mal auf: Die Muscheln erreichen die Geschlechtsreife erst mit 12 Jahren. Das macht aber gar nichts, denn sie werden mehrere hundert Jahre alt. Die uralten Schalen beinhalten sogar Informationen über das Klima vergangener Zeiten!

Die älteste bekannte Islandmuschel fanden Forscher 2006 vor Island. Sie war 507 Jahre alt. Überlegen Sie mal, mit was für Schiffen die Menschen über ihr auf dem Ozean herumgekreuzt sind, als sie noch jung war! Ihr Leben verbringen sie tief eingegraben im Boden, was eine deutsche Zeitung dazu veranlasste zu titeln „Vierhundert Jahre im Dunkeln ohne Sex“. Anfänglich war die Muschel auf „nur“ knapp über 400 Jahre geschätzt worden. Das klingt im Vergleich zum Leben eines Löwen natürlich alt, aber langweilig. Beim Lesen musste ich deshalb spontan an den Survivalexperten Rüdiger Nehberg denken, der immer gesagt haben soll „Lieber kurz und kurzweilig als lang und langweilig“, wenn er wieder auf Abenteuer an irgendeinen gefährlichen Ort aufbrach. Aber man kann es auch anders betrachten. Wenn man 500 Jahre lang tief im Boden lebt, hat man auch seine Ruhe. Niemand, der ständig etwas von einem will, keine Emails, kein Liebeskummer, kein Rasen, der gemäht, keine Küken, die gefüttert werden müssen. Klingt doch nach einem Deal!

Andererseits…kann man das nicht irgendwie verbinden? Das Beste aus allen Welten vereinen? Lang und kurzweilig sozusagen? 500 Jahre Einsamkeit sind ja schon ein Wort. Vielleicht bleibe ich am liebsten doch ein Mensch. Rüdiger Nehberg ist, nach einem Leben voller Abenteuer, 84 Jahre alt geworden.

Till Holsten

Vogelwart 2022