Till Holsten Beiträge

Warten auf…

Liebe Blogleserinnen und Blogleser,

ein Blick in den Kalender zeigt: es ist Mitte März. Und auch wenn das Wetter noch nicht ganz mit dem fortgeschrittenen Datum mithalten kann, ist die Trischensaison ab heute offiziell eröffnet.

Nun wäre es nach dem Abschiedsbeitrag von Till allerhöchste Zeit mich einmal kurz bei ihnen vorzustellen und die kommende Saison einzuläuten. Aber ich muss sie leider noch etwas vertrösten, denn nicht nur auf Trischen kann man mit technischen Problemen zu kämpfen haben. Daher schicke ich ihnen heute nur ein kurzes „Moin“ und vertröste sie auf ein baldiges und ausführliches „Moin Moin.“ Aber um sie nicht ganz im Schneeregen stehen zu lassen: mein Name ist Melanie Theel und ich habe das große Privileg, die kommende Saison auf Trischen verbringen zu dürfen.

Doch trotz der Komplikationen sind die Vorbereitungen für meinen Trischenaufenthalt in vollem Gange. Meine Sachen sind gepackt und fürs Erste nach Tönning verfrachtet. Alle Gedanken an „Habe ich etwas Wichtiges vergessen?“ wurden in den Hinterkopf verschoben und so beschäftige ich mich vordringlich mit der Frage: „Wann kann es endlich losgehen?“ Tatkräftige Unterstützung bei der Planung und Vorbereitung bekomme ich von Anne Evers, Till Holsten und natürlich von Axel Rohwedder. Ohne die Hilfe der Ehemalig*innen und Ehrenamtlichen, die den „Trischen-Frischlingen“ mit Rat und Tat zur Seite stehen und auch noch im Stillen zu einer neuen unvergesslichen Saison beitragen, wäre Trischen nicht das, was es heute ist. Ich danke euch für eure Unterstützung! Und deshalb widme ich mein erstes Bild hier im Trischen-Blog dem Vorbereitungstreffen im NABU Naturzentrum Katinger Watt.

Jetzt müssen wir gemeinsam warten: auf die Lösung des technischen Problems und auf eine günstige Wetterlage zur Überfahrt. Ich versuche mich bald wieder bei ihnen zu melden. Bis bald im Trischen-Blog!

Ihre Vogelwartin 2023

Melanie Theel

 

Trischen-Vorbereitungstreffen mit Anne Evers (links), Melanie Theel (Mitte) und Till Holsten (rechts) im Katinger Watt

Auf Wiederlesen!

Liebe LeserInnen,

nun heißt es endgültig Abschied nehmen – dies ist mein letzter Eintrag auf dieser Seite. Er folgt den anderen so spät, weil ich Ihnen noch einige Zahlen schuldig bin: Die Anzahl der Brutvögel, die Zahl der beobachteten Vögel insgesamt und jene der in dieser Saison auf Trischen entdeckten Insektenarten.

Jede dieser Zahlen repräsentiert eine Summe an Erlebnissen, Gefühlen, Gedanken und Sinnesempfindungen, die durch die abstrakte Zusammensetzung einiger Ziffern nur sehr unzureichend zum Ausdruck gebracht werden kann. Und trotzdem spiegeln sie die überbordende Vielfalt und den Reichtum eines winzigen Stückchens unserer Erde wider. Für eine bestimmte Zeit durfte ich es durchwandeln. Und so wird das kurze Leben auf diesem kleinen Flecken wandernden Sandes eine Allegorie für etwas viel Größeres.

Fünfundzwanzig verschiedene Vogelarten haben während dieser Zeit auf Trischen ihre Jungen groß gezogen. 155 verschiedene Vogelarten haben auf ihr gerastet, sich geputzt, sich gejagt; haben die Insel hoch überflogen oder sind tot an ihr angespült worden. 209 verschiedene Arten Insekten und anderer wirbelloser Tiere habe ich bestimmen können (wobei die typischen Muscheln, Würmer etc. noch nicht einmal mitgezählt sind). Eine Raubfliege (Tolmerus cowini) ist sogar ein Erstnachweis für Schleswig-Holstein, eine Schlupfwespe (Fredegunda diluta) wurde hier erst zum dritten Mal in unserem Bundesland gefunden. Fast hundert dieser Arten aber sind Schmetterlinge.

Dieser Teil des Ökosystems hat mich besonders beeindruckt. Normalerweise sind Sandregenpfeifer und Zwergseeschwalbe die Repräsentanten des Lebensraumes Küste, der von menschlicher Nutzung ebenso bedroht ist wie durch Veränderungen, die der menschengemachte Klimawandel mit sich bringt. Auf Trischen entdeckte ich eine kleine Welt von vollkommen an das Leben in einem sehr rauhen, von Salz und schwerer Witterung geprägten Lebensraum aufs Feinste angepasster, hauchzarter Lebewesen. Für mindestens sechs dieser Schmetterlingsarten trägt Schleswig-Holstein eine bundesweite, für drei sogar eine internationale Erhaltungsverantwortung, weil sie fast nirgendwo anders mehr vorkommen. Etliche werden in der Roten Liste als gefährdet oder stark gefährdet geführt. Einige Käfer die ich fand, gelten sogar als vom Aussterben bedroht. Auf Trischen können sie überleben, weil kaum menschliche Tritte und erst recht keine schweren Fahrspuren den empfindlichen Lebensraum von Nahrungspflanzen und im Sande vergrabener Larven zerstören. Sie sind angewiesen auf immer wieder neu vom Meer geformte, dynamische Lebensräume. Dass diese Arten hier tatsächlich vorkommen beweist, dass das Motto des Nationalparks „Natur Natur sein lassen“ wirksam ist. Trischen dient damit übrigens auch als eine Art Referenzpunkt: So reich an Natur war unsere Welt einmal.

Und damit stellt sich unweigerlich die Frage, wie viel davon wir erhalten wollen oder noch können. Ich weiß, dass sich nicht jeder mit dem gleichen Feuereifer für millimetergroße, sandfarbene Schmetterlinge interessieren kann wie ich. Das ist völlig in Ordnung. Ich glaube aber, dass jedem Menschen von Beginn an eine Freude am Lebendigen und eine Neugier auf die wundersame Vielfalt, in die dieses Leben sich auffächert, innewohnt. Bewahren Sie sich diese Flamme bitte! Und versuchen Sie, sie weiterzurreichen an kommende Generationen.

In diesem Sinne werde ich nun aber auch meinen Abschied relativieren. Zum einen möchte ich – wie versprochen – nicht ganz mit dem Erzählen von Natur aufhören. Es ist mir auf Trischen ans Herz gewachsen. In Zusammenarbeit mit dem Naturfotografen Jan Sohler schreibe ich nun also als einer von zwei „Tintenvögeln“ auf der Website sepiaves.de auf, was sie uns erleben lässt. So viel sei schon einmal verraten: Die nächste Geschichte handelt von der Suche nach einer der seltensten Raubkatzen der Welt…kommen Sie mit?

Vor allem aber will ich nun auch das „Trischenfeuer“ weiterreichen. Denn meine Nachfolgerin steht schon in den Startlöchern. Ich bin unheimlich gespannt, was die Insel ihr schenken wird, und ich freue mich jetzt schon – diesmal als Leser – dem Trischenblog weiter treu zu bleiben zu dürfen.

Ihnen danke ich für die viele Aufmerksamkeit und eine unheimlich große Zahl sehr herzlicher Kommentare und Kontakte. Es berührt mich sehr, dass Trischen so viele Freunde gefunden hat.

Und nun aber: Bis ein Andermal. Bleiben Sie gesund. Und werden Sie nicht müde, für die Natur einzustehen. Sie wird es Ihnen danken.

Ihr

Till Holsten

 

Unten noch ein Bild meiner letzten Tage auf Trischen!

Ein letztes Geschenk vom Meer

Ich sitze auf gepackten Koffern. Die meisten Klamotten werde ich erst am Festland wieder tragen, nur eine letzte Garnitur ist noch parat für die Insel. Vieles hängt lediglich noch an ein paar Fäden, mancher Knopf ist auf Nimmerwiedersehen verschwunden und meine Brille sieht aus wie mit dem Sandstrahler bearbeitet. Meine Lieblingsmütze hat das Meer sogar mit sich genommen, sie ist mir irgendwann bei Windstärke 8 vom Kopf geflogen, ohne dass ich es gemerkt habe, und wohl mit dem Landunter davongeschwommen. Auch fast alle Bücher sind bereits verstaut. Ich schleppe jedes Mal viel mehr davon mit mir herum als ich müsste; sie geben mir das Gefühl von Geborgenheit. Wo Bücher sind, ist die Welt für mich ein kleines Stück in Ordnung. Eine Mauer aus Gedanken kluger Menschen gegen die Unbilden des Lebens. Und auch all die kleinen Gegenstände, die das Leben hier annehmlich machten, haben einen Platz gefunden, irgendwo zwischen „European Seabirds“, „Die Grabwespen Deutschlands“ und Georg Forsters „Reise um die Welt“.

Aber es ist nicht nur Dingliches, das ich verstauen muss. Manches Gefühl, mancher liebgewonnene Gedanke hat nun seinen letzten Auftritt. Ich wandere, in Gedanken versunken, noch einmal den Nordstrand entlang. Neben mir huschen Alpenstrandläufer und Sanderlinge, die – wie ich – auch bald die Insel verlassen werden. Ich werde es nur nach Hamburg schaffen, einige der kleinen Gefährten aber werden es bis Guinea oder Mauretanien bringen. Gemeinsam drücken wir noch einmal unsere Spuren in den Sand.

Einer der Alpenstrandläufer sieht ein wenig, hm, heruntergekommen aus, denke ich. Ein bisschen düsterer, ein bisschen plusteriger, dicker. Und er hat eine noch viel geringere Fluchtdistanz als die anderen Vögel neben mir. Das ist normalerweise nur so, wenn die Vögel geschwächt sind, und ich bekomme ein bisschen Mitleid. Ob er es nach Afrika schafft? Ich sehe den Vogel im Weitergehen nur aus dem Augenwinkel, die Gedanken spielen sich eher halbbewusst ab – bis er einschwenkt und direkt vor mir herläuft – und ich seine Beine sehe. Sie sind orange. Das ist kein „Alpi“ und auch kein Sanderling. Der will auch nicht nach Afrika. Das ist ein Meerstrandläufer!

Ich weiß ja, dass die Namen manchmal etwas beliebig klingen, deshalb muss ich Ihnen einmal erklären, was es mit diesem Vogel auf sich hat: Meerstrandläufer kommen aus dem hohen Norden: Grönland, Spitzbergen, Nordnorwegen, Island. Sie lieben Felsküsten, das Kalte, Wilde, und treten allenfalls auf Helgoland regelmäßig, manchmal auch auf Sylt oder Amrum, sehr selten an anderen Stellen der deutschen Küste auf. Weiter gen Süd zieht dieser kleine, rauhe Geselle nicht. Mich erinnert er an einen alten Fischer: Etwas untersetzt, unter der dicken Weste ein klein bisschen pummelig, immer ein wenig ölverschmiert und mit einem seegrauen Schatten, das ihm nie ganz von der Seite weicht, völlig egal, wo er gerade ist. Vielleicht hat er trotzdem stets einen knappen, guten Spruch auf den salzigen Lippen. Und dazu trägt er orange Gummistiefel!

Zuletzt hat Peter Todt 1999 hier einen Meerstrandläufer beobachtet. Da war ich zwölf. In der Freude über die für Trischen seltene Beobachtung vergesse ich völlig, dass ich die große Kamera im Rucksack habe. Meine zittriges Handybild zeugt davon, dass ich mich wirklich wahnsinnig über diesen Vogel gefreut habe.

Manche Dinge kann man ja mit Worten wunderbar veranschaulichen. „Lesen ist gelenktes Schaffen“ wird Sartre zitiert. Sie hätten also auch ein Bild im Kopf, wenn mein Handy es nicht getan hätte. Ich möchte Ihnen heute aber trotzdem noch ein schöneres Bild zeigen. Es ist in Norwegen entstanden. Gemacht hat es mein Freund Jan. Ein gutes Foto gibt einer weiteren Dimension der Vorstellung und Teilhabe an einem Erlebnis Raum. Und durch dieses Bild bekommt man nicht nur einen Eindruck von der Fluffigkeit des Gefieders, von den zarten Farbverläufen im festen Keratin, sondern auch vom Charakter der Bewegung, die diesen Vogel ausmacht. Können Sie sich nun vorstellen, wie ein Meerstrandläufer ist?

Bild und Wort können also eine wunderschöne Liaison eingehen. Und weil mir das Erzählen und Jan das Fotografieren Freude macht, haben wir beschlossen, dass es damit weitergehen soll. Wenn also alle Gedanken, Gefühle und Bücher gepackt sind, wenn die Sanderlinge in Mauretanien sind und der Meerstrandläufer seinen emsigen Geschäften im Felswatt nachgeht, dann wird es an anderer Stelle weitergehen mit dem Erzählen von Natur. Von ihrer Fragilität und ihrer Macht auf uns, und von Gedanken, die sich mal fester, mal loser an das Naturerlebnis knüpfen. Das Fotografieren überlasse ich dann aber Jan. Vielleicht haben Sie ja Lust, weiter mit auf die Reise zu gehen. Ich verrate Ihnen später, wo Sie einsteigen können.

Für mich heißt es jetzt Abschied nehmen. Übermorgen geht es los. Ein letztes Mal also: Alles Gute von der Insel. Die Dünen, die Wellen, die Vögel sagen auf Wiedersehen. Von mir hören Sie noch einmal, wenn ich wieder am Festland bin.

Bis dahin wünsche ich Ihnen, trotz allem Chaos in der Welt, großartige Naturerlebnisse und einen schönen Herbst!

Ihr

Till Holsten

 

Bild oben: Der Meerstrandläufer am Nordstrand.

Bild unten: Ein Meerstrandläufer in Norwegen.

 

Endlichkeit

Am Weststrand Süd finde ich eine Silbermöwe. Als das Wasser mit der Tide geht, bleibt sie im Spülsaum sitzen. Ihr Kopf ist auf die Brust gesunken, die Augen geschlossen. Sie ist ganz ruhig. Als ich vorbeigehe, regt sie sich kaum. Nur ganz eben noch bebt ihr Körper im Rhythmus der flachen Atemzüge. Ich gehe leise vorbei, möchte nicht, dass sie in ihren letzten Minuten noch Angst verspürt. Sie soll in Frieden sterben. Es ist ein warmer Tag. Die Sonne scheint auf den Vogel, die zurücklaufenden Wellen rauschen sacht. Ein guter Tod für eine Möwe, denke ich mir.

An einem Tag im August treibt der Wind den Sand in dichten Verwehungen über den Strand. Tanghaufen, Fischernetze, Plastikmüll; alles wird begraben unter dem unerbittlichen Andrängen des Sandes. Wo er Halt findet, bilden sich innerhalb von Minuten kleine Dünen. Neben einer bereits halb verschwundenen Holzpalette kauert dunkelbraun ein Häuflein Federn. Auch die Eiderente ist schon halb versunken im Strand. Als ich mich nähere, blinzelt sie. Dann wirft sie wie wild den Kopf hin und her. Sie hat keine Kraft mehr, aufs Meer zu fliegen. Am nächsten Morgen liegt sie starr unter einer der Sandverwehungen. Kein guter Tod für eine Meeresente, denke ich.

Wie oft habe ich das beobachtet, seit ich hier bin? Ich kann es nicht zählen. Erst heute Morgen schlug ein junger Wanderfalke direkt an der Dünenkante einen anderen Vogel, den ich nicht erkennen konnte. Frühstück für den Falken, Ewigkeit für sein Frühstück. Was ich allerdings zählen kann ist die Anzahl der toten Tiere, die ich gefunden habe: Es sind knapp 500. Den Großteil machen Vögel aus. Darunter sind die meisten wiederum diesjährige Möwen. Eine gewisse Verlustrate ist normal. Diesmal wird die Liste leider ergänzt durch eine erhebliche Anzahl Brandseeschwalben und Eiderenten, die wahrscheinlich an der Vogelgrippe gestorben sind (ich habe nicht alle getestet, einige Stichproben waren aber positiv). Auch ein paar Seehunde und Schweinswale stehen, wie jedes Jahr, auf der Liste. Ihnen gegenüber steht eine lange Liste von Beobachtungen des lebendigen Treibens um mich herum, die unter anderem etliche tausend Gelege und Jungvögel beinhaltet, ganz zu schweigen von den Heerscharen der Insekten, bei denen ich ja nicht einmal gezählt, sondern nur die Anwesenheit einer Art anhand einzelner Exemplare dokumentiert habe. Das ist das Werden und Vergehen auf der Insel Trischen.

Es ist sicherlich nicht die schönste Erzählung, aber sie gehört eben zum Leben dazu. „Leben“ ist ja gar nicht so einfach zu definieren. Es gibt tatsächlich bis heute keine allgemeingültige Definition. Googeln Sie ruhig mal, sie werden unterschiedliche und zum Teil recht interessante Versuche finden. Fest steht aber eines: Es ist endlich. Was lebt, wird auch vergehen. Und ob wir wollen oder nicht, das betrifft nicht nur Silbermöwen und Eiderenten. Über den Tod nachdenken ist unangenehm. Und selbst, wenn man sich mutig mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert – es bleibt doch schwer, darüber nachzudenken. Neben dem inneren Widerwillen besteht gewissermaßen auch eine technische Unmöglichkeit: Das Bewusstsein kann sich nicht vorstellen, nicht zu sein.

Nun endet meine Zeit auf Trischen. In wenigen Tagen werde ich ein letztes Mal in den Sand greifen. Werde den Wiesenpiepern meinen Abschied zuflüstern und den Basstölpeln irgendwo da draußen ein letztes Ahoi zurufen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich in einem Anflug sentimentaler Anwandlungen auch den Wellen, dem Mond und der Salzwiese irgendeine Art von Goodbye sagen werde. Dann steige ich an Bord und es geht los. Natürlich, mein Leben ist dann nicht vorbei. Es wird, so hoffe ich, noch Vieles folgen. Gar so alt bin ich ja noch nicht.

Aber war es nicht auch mit meinem Aufenthalt hier so? Das Gefühl, dass alles neu ist, dass eine ewige Zeit vor mir liegt? Die Löffelkräuter die sagten, dass es gerade eben erst Frühling wird? Die gen Nord ziehenden Gänse, die mir versprachen, dass der Herbst noch unendlich fern ist? Nun kommen sie zurück. In ihren Rufen klingt jetzt eine andere Erzählung. Und so ist meine Zeit hier eben auch ein Leben im Kleinen gewesen, „life in a nutshell“, oder „la vie en miniature“ – in jedem Falle: Endlich.

In mir hat sich viel gesammelt, ist viel gereift, ein bisschen wie die dicken Kürbisse, die ich vor ein paar Tagen an der Nordspitze gefunden habe. Der Herbst und der Tod erzählen eben auch davon, dass Leben war, und dass es wieder sein wird. Am Kadaver der Eiderente fraß wenig später die Mantelmöwe. Noch ein paar Tage später fand ich Käfer wie den Ufer-Totengräber und den Gerippten Totenfreund. Klingt ein bisschen unheimlich, ich weiß. Aber die Lerche ist nicht fern, die sie fressen wird. Am Ende bleibt Gesang im Frühling. Oder, naja, ein Wanderfalke, der die Lerche frisst.

Selbst die Insel ist ja endlich. Wie oft sich wohl ihre Substanz schon erneuert hat? Ob auch nur ein einziges Sandkorn noch vorhanden ist von denen, die sie vor vierhundert Jahren begründet haben? Ich glaube kaum. Und doch ist Trischen immer noch da. Selbst wenn es eines Tages keinen Flecken mehr gibt, den wir so nennen werden, ist er ja nur in etwas anderem aufgegangen.

Ich möchte nicht zu esoterisch werden. Sie wissen, ich bin vom Herzen her Wissenschaftler, und das bleibe ich auch. Das zwingt mich aber noch lange nicht zu intellektueller Borniertheit. Die Grenzen unserer Wahrnehmung sind ziemlich eng gezogen. Ich kann ja nicht einmal die Rufe von Fledermäusen hören, obwohl es sie selbstverständlich gibt. Und in all den Gehirnen, die ich in meiner Zeit in der Neuropathologie seziert habe, habe ich folgendes niemals gefunden: Einen Gedanken. Ein Gefühl. Einen Traum.

Mir hilft das Sein in und mit der Natur, mit der eigenen Endlichkeit umzugehen. Natürlich weiß ich nicht, wie es mir eines Tages ergehen wird. Ich weiß aber, dass es mir gut tut, nicht völlig abgekoppelt zu sein vom Werden und Vergehen, auch zu blühenden Lebzeiten nicht. Es gehört dazu. Es macht uns sogar aus. Und auch das ist ein Grund, warum wir die Natur um uns her respektieren sollten: Sie gibt uns einen Kontext, der die große Sinnfrage vielleicht nicht beantwortet, der aber helfen kann, sie auszuhalten.

Dies war übrigens noch nicht der letzte Eintrag, auch wenn er sich ein bisschen so liest. Ein paar Tage sind mir hier ja noch beschieden – und auch die wollen noch erzählt werden!

Die Bilder: Junger Wanderfalke, heute Morgen an Beute kröpfend.  Der dicke Kürbis läutet den Herbst ein. Ein Aaskäfer – der Gerippte Totenfreund hält die Dünen sauber. Und schließlich die Eiderente aus dem Text.

 

 

Insekten – zum Letzten!

Hier bin ich wieder! Aufgrund eines Online-Vortrages war die Internetkapazität aufgebraucht. Ich konnte leider nichts hochladen. Aber wir müssen noch gemeinsam in den Endspurt gehen. Hier also der Bericht, den ich Ihnen bereits vor einigen Tagen vorbereitet hatte. Es wird wohl der letzte Beitrag zum Thema Insekten sein.

Regenschleier treiben über die Insel. In der nassen Salzwiese rufen erste Rotdrosseln, und unter tief hängenden Himmel kämpfen sich Pfeifententrupps mit weiß aufleuchtenden Flügeln gen Süd. Draußen versinkt die Welt in Grau. Drinnen leuchten Regentropfen an der Scheibe.

Es wird ungemütlich, und doch fühle ich mich Trischen so verbunden wie nie zuvor. Stundenlang sitze ich auf der Bank und blicke in die Ferne, auch wenn der Nieselregen sich längst seinen Weg durch sämtliche Klamottenschichten gebahnt hat und mit nasskalter Hand nach dem letzten Rest Wärme greift. Die Aussicht, die Insel in zwei Wochen verlassen zu müssen, stimmt mich leider wirklich vor allem: Traurig. Ich möchte sie nicht lassen. Aber danach geht es nicht. Und damit nicht einfach alles klanglos in schwammigem Grau erstickt, möchte ich Ihnen nun noch einmal vom Sommer erzählen; eine von den vielen noch unerzählten Geschichten, die ich Ihnen mit auf den Weg geben möchte, wenn es unweigerlich heißt: Nun kommt der Winter.

Ende August sind die Wiesen aufgeladen von Hitze. Sogar eine Sonnenblume war am Weststrand gewachsen. An den Dünen blüht in dichten Büscheln Meersenf. Die Pflanzen wagten sich sogar bis weit über den Dünenkamm an den Strand hinaus. Inzwischen liegen die meisten, ausgerissen von den ersten Herbsthochwassern, im Spülsaum. Aber noch vor wenigen Wochen waren sie umschwärmt von Schwebfliegen und Kohlweißlingen, kleine Tankstellen für einen letzten Schluck Sommer. Ab und zu verirrte sich auch einmal ein Distelfalter an eine der Pflanzen. Und inmitten dieses Treibens vermutete ich einen unscheinbaren, neuen Gast aus dem Süden.

Es gibt einige Tier- und Pflanzenarten, die, so heißt es landläufig, vom Klimawandel „profitieren“. Damit ist oft gemeint, dass ihr Verbreitungsareal sich nach Norden verschiebt und sie dementsprechend häufiger – oder überhaupt erst – auch in Deutschland auftauchen. Doch Arten, die es kühler mögen, verschwinden, wenn sie spezialisiert auf genau diesen Temperaturbereich sind. Wer jetzt schon in der Arktis oder den hohen Alpen brütet, kann nicht nach Norden oder oben ausweichen. Ihr Lebensraum schrumpft.

Zu den „Neuen“ bei uns zählt ein Schmetterling, der leicht im Gewimmel der Kleinen und Großen Kohlweißlinge übersehen werden kann. Es ist der Karstweißling Pieris mannii. Der kleine Falter besiedelte bis vor kurzem vor allem Gebiete südlich der Alpen. Er liebt die aufgestaute Hitze steiniger Karstgegenden. 2020 wurde er das erste Mal in Schleswig-Holstein nachgewiesen. Ich fragte mich also, ob dieses lebendige Zeugnis des Klimawandels auch schon auf Trischen angekommen sei.

So suchte ich also den Meersenf ab und fing systematisch „verdächtige“ Kleine Kohlweißlinge mit dem Kescher. Bald flatterten zwanzig Schmetterlinge in kleinen Gläschen, die ich mit zur Hütte nahm. Sie gaben ihr Geheimnis nicht ohne weiteres preis. Mit zusammengeklappten Flügeln, in ihrer Ruhestellung, waren die entscheidenden Merkmale (es ist u.a. das räumliche Verhältnis des Spitzenflügelflecks zum ersten Flügelfleck und dessen Form) kaum zu erkennen. Ich machte einige Fotos, die aber kaum zu verwerten waren. Frustriert ließ ich die Models wieder fliegen. Sie hatten kein Bild für mich. Die verbliebenen Schmetterlinge kühlte ich eine Weile im Kühlschrank. Aufgrund von Kälteschutzproteinen macht ihnen das nichts aus, man könnte sie theoretisch sogar kurz einfrieren! Danach konnte ich ganz vorsichtig mit einer Pinzette die Flügel spreizen und einen Blick darauf werfen. Allein – der Gesuchte fand sich nicht. Und so flogen bald wie Tauben bei einer Hochzeit zwanzig weiße Schmetterlinge in die Sonne hinaus.

Einige Tage später erhielt ich eine Nachricht. Ich hatte die missglückten Bilder in der App Inaturalist hochgeladen. Die App hilft beim Bestimmen jeglicher Lebewesen. Ein Algorhythmus generiert einen Vorschlag, welche Art es sein könnte (der nicht zwangsläufig richtig ist), häufig nehmen sich auch Experten der Beobachtung an, helfen bei der exakten Bestimmung und werten die Beobachtungen zum Teil sogar wissenschaftlich aus. In meinem Fall hatte sich Gerd Kuna, der die Tagfalterforschung in Thüringen koordiniert, meine drei Bilder angesehen. Unter den ihnen stand nun: Kleiner Kohlweißling. Kleiner Kohlweißling. Karstweißling. Ich hatte ihn gefunden!

Die Klimaveränderungen machen also auch vor der Fauna Trischens nicht Halt. Meine Nachfolgerinnen und Nachfolger werden in den kommenden Jahren sicherlich weitere Entdeckungen machen, die davon zeugen, dass der Planet sich schneller verändert denn je. Jede kleine Erkenntnis über diesen Prozess kann dabei helfen, dem Wandel in irgendeiner Form zu begegnen.

Falls Sie auch ein Rätseltier entdecken, machen Sie doch ein Bild und laden Sie es in einer der Apps hoch – sie werden erstaunt sein, wie gut das funktioniert:

https://www.inaturalist.org/ ist sehr international, diese App nutze ich seit letztem Jahr.

https://observation.org/ funktioniert ähnlich; diese App wird in Schleswig-Holstein etwas mehr genutzt.

https://www.insektenreich-sh.de/ ist eine spezielle Seite für Sichtungen in Schleswig-Holstein – dort werde ich nach Ende der Saison meine gesammelten Daten hochladen. Ich würde mich freuen, wenn auch Sie zu diesem Datenschatz beitragen!

Oben: Die Verdächtigen.

Unten: Der Karstweißling Pieris mannii.