Das große Rasenstück

Ich krieche auf den Knien durch die Salzwiese und denke an den Maler Albrecht Dürer. Den kennen Sie bestimmt. Die „Betenden Hände“ sind vielleicht das bekannteste Bild menschlicher Hände überhaupt. Vielleicht haben Sie auch schon einmal den „Feldhasen“ gesehen oder seinen Holzschnitt vom „Rhinocerus“, einem indischen Panzernashorn, das er nach Beschreibungen anfertigte. Es sieht deshalb nicht ganz naturgetreu aus.

Aber wie ich so krieche, denke ich an ein anderes, viel genauer und von Dürer selbst beobachtetes Bild. Neben mir wogen im Wind raschelnde Gräser mit ihren grünen Rispen, darüber tütet im hellblauen Himmel der Rotschenkel. Und wenn man ganz, ganz nahe an die dicken Raupen des Wolfsmilch-Ringelspinners heran kommt, kann man sogar ihrem nimmermüden Knabbern am saftigen Grün lauschen. Ich bin mittendrin. Und ich denke an Dürers „Großes Rasenstück.“

Der Titel klingt unendlich banal, nicht? Ich weiß noch, wie wir uns als Schüler im Kunstunterricht schief anguckten, als das Bild von ein bisschen Grünzeug auf einem winzigen Flecken Erde Thema wurde. Glücklicherweise hatte ich eine tolle Kunstlehrerin (Hallo, Frau Giörtz!), und deshalb ist bei mir doch ein bisschen was hängen geblieben. Im Jahre 1503 war die Darstellung von Banalitäten nämlich skandalös! In der Kunst galt es gefälligst Gott zu preisen, oder wenigstens zu suchen. Dieser Gedanke spiegelt sich ja auch in den himmelwärts strebenden gotischen Kathedralen wider, in denen eine ganze Architektur den Blick nach oben zieht. Wer wagt es da, den Blick gen Boden zu wenden?

Ich krieche weiter, in Gedanken beim Rasenstück. Dürer hat so genau gemalt, dass man auf dem fünfhundert Jahre alten Bild sehr gut verschiedene Pflanzen identifizieren kann, unter anderem den Breitwegerich. Mein kleiner Weg ist voll von Strandwegerich, einer verwandten Art. Und wie Dürer versuche ich, genau hinzusehen: Ich finde etliche Ameisen, die emsig ihren Geschäften nachgehen. Ein „Drahtwurm“, die harthäutige Larve eines Schnellkäfers, ist ihnen in die Fänge geraten und kämpft ums Überleben. Unter der Lupe sieht das aus wie die blutrünstigen Bilder in meinen alten Dinosaurierheften. Wie kleine Palmen ragen ganze Wälder von Strand-Milchkraut aus dem Boden, rot und weiß stehen ihre Blüten wie Miniaturen von Papierlaternen um den quietschgrünen Stengel. Ein winziger Laufkäfer kreuzt hastig meinen Weg. Er ist keinen halben Zentimeter groß (achten Sie im Bild unten mal auf die Größe der Sandkörner!), und ich werde ihm keinen „ganzen“ Namen geben können: Bis zur Gattung „Bembidion“ schaffe ich es noch. Seine riesigen, seitlich am Kopf sitzenden Augen und sein metallisch schwarz schimmernder Körper lassen ihn für seine Beute wahrscheinlich wie ein ungeheures, lebensgefährliches Untier erscheinen.

Und während ich weiterkrieche und den kleinen Wundern auf der Spur bin, sausen über mir die Flussseeschwalben mit lautem „kiääärr“ durch die Luft und versichern sich immer wieder, dass ich kein Fuchs bin. Keine Sorge, so viel Eleganz bringe ich nicht auf!

Ich erinnere mich nun an eine Episode aus meinem Studium: In unserem Anatomiesaal, in dem wir auch das Mikroskopieren lernten, stand in riesigen Lettern an der Wand IN MINIMIS DEUS MAXIMUS – Im Kleinsten ist Gott am größten. Vielleicht hat Dürer also doch an der richtigen Stelle gesucht, als er, statt den Papst zu porträtieren, lieber Rispengräser malte. Gott habe ich übrigens nicht zwischen den Gräsern gefunden. Aber eben Strand-Milchkraut und Bembidion. Ob das vielleicht ein winziger Teil von etwas viel Größerem ist, mag jeder selbst entscheiden. Ich freue mich jedenfalls über die kleinen Wunder, die das Leben alle Tage wieder hervorbringt.

Oben mein „Großes Rasenstück“ mit Flussseeschwalben, in der Mitte ein unbestimmter Bembidion-Laufkäfer, unten Strand-Milchkraut nebst unbestimmter Ameise.

Till Holsten

Vogelwart 2022