Limikolophilie

Jede Welle bringt sie ein Stück näher an mich heran. Barfuß im nassen Sand, die Knöchel immer wieder überspült von einem Schwall Wasser, stehe ich am Strand vor der Hütte und erwarte, was jedem Vogelbeobachter das Herz hüpfen lässt wie einen kleinen Sanderling im Sand: Limikolen!

Limikolen sind Watvögel. Etliche verschiedene, oft schwer unterscheidbare Arten zählen zu dieser illustren Gruppe. Ihre Namen erzählen von abgelegenen Sehnsuchtsorten, von der Musik der Wildnis und von sehr flinken, sehr langen Beinen: Alpenstrandläufer. Terekwasserläufer. Anadyrknutt. Sandregenpfeifer. Rot-, Grün- und Gelbschenkel! Meine Namens-Favoriten: Goldregenpfeifer und Einsamer Wasserläufer. Pure Poesie!

Aber ich möchte nicht nur über ihre Namen sinnieren. Ich möchte sie sehen, und zwar möglichst nah. Die Zeit ist gerade in gleich zweifacher Hinsicht genau richtig: Einerseits hat der Vogelzug seine Richtung inzwischen wieder geändert. Seit vor ein paar Tagen der Himmel ganz kurz eine verräterische Nuance von Septemberblau aufleuchten ließ, trudeln jeden Tag neue Schwärme auf der Insel ein. Und andererseits läuft jetzt die Flut auf. Das treibt die Vögel langsam, aber sicher vom nahrungsreichen Watt auf den Strand. Und damit direkt auf mich zu. Wenn ich ganz still stehe, bemerken sie mich in der Hektik des Pickens, Rennens und Schwirrens nicht. Es gibt wohl kaum eine schonendere Art des Beobachtens. Davon zeugt auch, dass die Sanderlinge schließlich kaum drei Meter vor meinen Füßen herumflitzen. Als die Flut ihren höchsten Punkt erreicht, nicken einige von ihnen sogar ein.

Das Gros der kleinen Gestalten machen Alpenstrandläufer aus. Die Vögel sind nicht einmal so groß wie eine Amsel, aber ihre schiere Masse ist überwältigend: Wenn Tausende von ihnen übers Watt in eine Richtung trippeln, wirkt das wie eine vorrückende Legion aus einem Hollywoodfilm, zumal in diesem Fall ich die Vogelperspektive innehabe. Dass viele von ihnen noch immer einen Teil des Prachtgefieders tragen, dass also zweitausend Winzlinge, allesamt mit schwarzbefiederten Bäuchlein und somit gewissermaßen uniformiert, auf mich zu rennen, verstärkt diesen Eindruck noch. Erst bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass bisweilen schon die helleren Federn des Schlichtkleides hindurchlugen und einige Vögel etwas scheckig erscheinen. Den einen zieren bereits zwei, drei weiße Flecken, ein anderer strahlt noch im vollen Ornat des Brutgeschäftes: Eigentlich sehen sie doch alle unterschiedlich aus. Jeder ist ein wundervoll arrangiertes Federmosaik aus Beige, Rostbraun, Tintenschwarz und Dünensandweiß und damit ein Kunstwerk für sich. Dazwischen saust immer mal wieder ein Wicht entlang, der den „Alpi“ wie einen Riesen erscheinen lässt: Ein Zwergstrandläufer. Das winzige Federbällchen brütet im allerhöchsten Sibirien, wo er zwischen Schneeeule und Rentier sein klitzekleines Nest baut. Seine Küken sind kaum daumennagelgroß. Ich kann mich nicht sattsehen.

Inzwischen stehe ich auf einer kleinen Sandbank. Der Strand vor der Hütte wird bei hoch auflaufendem Wasser zu einer großen, flachen, Pfütze, die durch einen einige Zentimeter höheren Sandrücken vom Meer getrennt ist – ideal für Watvögel, hier lässt sich prima im Boden stochern und anschließend geschützt rasten. Meine Zehen graben sich fest in den Sand. Ich stelle das Spektiv gerade, es ist durch einen kräftigen Wasserschwall verrutscht. Plötzlich schwirrt die Luft. Ein weiterer Schwarm saust über meinen Kopf. Das „chrüüi“  aus vielen Kehlchen verrät mir, dass es Sandregenpfeifer sind, noch bevor sie sich, vielleicht fünfzehn Meter vor mir, aus vollem Schwung auf butterweichen Schwingen niederlassen. Anders als ein Alpenstrandläufer, der wie eine Nähmaschine durchs Watt stochert und mit seinem Schnabel Würmer ertasten kann, ist der Sandregenpfeifer auf seinen Gesichtssinn angewiesen: Kurz stehen, gucken, rennen, picken – repeat. Das ist der Lebensrhythmus dieses Vogels. Und der Grund, warum sie einfach verdammt niedlich sind. Denn damit das funktioniert, ist Freund Pfeifer mit großen, großen dunklen Augen ausgestattet.

Und so geht es weiter. Eine Pfuhlschnepfe landet. Zwischen den Alpenstrandläufern vagabundieren im rostroten Wams langbeinige Sichelstrandläufer. Cremefarbene Federsäume verraten mir, dass die beiden dicken Knutts in der Mitte der Versammlung erst dieses Jahr geschlüpft sind und zum ersten Mal die Reise ins ferne Westafrika antreten. Hoch in der Luft tönt das klagende Flöten der Kiebitzregenpfeifer: „Fiiühhhiiie, fiiühhiiie!“. Es klingt, als würden sie vergangenem Liebesglück hinterherpfeifen. Noch immer treffen in langen Ketten Austernfischer und die langschnäbeligen Großen Brachvögel von weiter außen liegenden Sandbänken ein. Und immer wieder bin ich beim Mustern der Schwärme plötzlich wie elektrisiert: War das da gerade nicht doch ein Sumpfläufer? Aber wo ist er nun hin im Gewusel? Oder womöglich ein noch seltenerer Gast aus Amerika? Am Ende finde ich keinen davon. Aber dafür kann ich einen farbberingten Alpenstrandläufer ablesen, dessen Markierung mir verrät, dass er in Ungarn beringt wurde. Als mir das Meer mit einigen im Wellenrauschen klirrenden Sandklaffmuscheln noch ein paar weiße Sanderlinge, wie Schneeflocken im Sommer, vor die Füße trägt, bin ich glücklich.

Aber der komischste Vogel steht wohl mittendrin im Gewusel. Vielleicht haben Sie ein Bild von mir in markigen Outdoorklamotten, gewissermaßen immer mit Fahrtenmesser, Kompass und Camouflagedress ausgerüstet. Ich muss mit dieser Vorstellung – zumindest für heute – aufräumen: Kurz zuvor war ich noch baden, die Hütte ist hundert Meter weiter hinter der Düne…wozu also der Tand? Bademantel, Boxershorts und Sonnenbrille reichen zum Vögel beobachten doch völlig aus. Und auch wenn ich wahrscheinlich aussehe wie König Koks oder ein missglückter Hugh Hefner-Verschnitt – was soll’s! Die Sanderlinge hat’s jedenfalls nicht gestört…

 

Bild 1: Sanderlinge und Alpenstrandläufer.

Bild 2: Auf der Sandbank: Alpenstrandläufer – und finden Sie den Sichelstrandläufer (rostbraun, etwas größer..)?

Bild 3: Links Kiebitzregenpfeifer, rechts Sandregenpfeifer.

 

Till Holsten

Vogelwart 2022