Ornithologische Fein(st)arbeit

Denken Sie mal an irgendeine beliebige Krankenhausserie. Da geht es ja ständig drunter und drüber, ein Rettungswagen jagt den nächsten, verständnisvolle Ärztinnen sprechen schwerwiegende Diagnosen aus, meistens brennt neben den Herzen der Protagonisten auch noch ein Kindergarten oder wenigstens ein Tierheim und sorgt für noch mehr Drama. Und irgendwer reanimiert eigentlich immer. Das hat mit der Realität natürlich nur bedingt etwas zu tun. Aber manchmal gibt es solche Tage im Krankenhaus tatsächlich. Nun bin ich ja aktuell in anderer Funktion tätig. Aber ich kann Ihnen sagen: Gäbe es eine Emergency-Ornithologen-Serie, wäre heute solch ein Tag gewesen!

Früher Nachmittag. Ich stehe etwa 100 Meter neben der Hütte am Rande der Südostbucht. Die Flut läuft auf. Gerade habe ich den schlickigen Hafenpriel durchwatet, um mich in eine günstige Position zu bringen. Denn das Wasser wird die Watvögel auf mich zu treiben, wenn sie gerade eben vor der Wasserkante konzentriert nach Nahrung suchen und mich nicht bemerken. Ich bin gewappnet: Fernglas und das bis zu 60-fach vergrößernde Fernrohr sind im Anschlag. Schon eine halbe Stunde später ist das Wasser heran – und mit ihm die Vögel. Auf der kleinen Landzunge bin ich umgeben von leise tschirpenden Alpenstrandläufern, Sanderlingen, Sand- und Kiebitzregenpfeifern. Über den Kopf sausen Dunkle Wasserläufer. Und dann geht alles sehr schnell. Plötzlich landet neben zwei Alpenstrandläufern eine kleine Seeschwalbe, die mir allerdings nur den Hintern zustreckt. Rote Füße, dunkle Kappe, die Federsäume verraten ein Jungtier – und dazu die langen Beine – das ist etwas Besonderes! Aber was? Es gibt zwei Möglichkeiten, doch wahrscheinlich nur wenige Sekunden Zeit eine Entscheidung zu treffen. Und schon beginnt das innerliche Flehen, Betteln und Fluchen: Bitte dreh dich zur Seite. Ja, noch ein Stückchen! Verdammt, jetzt steht der Alpi davor! Bitte flieg nicht weg. Hektische Finger suchen nach dem Handy, um schnell ein paar Fotos durchs Fernrohr zu schießen. Jeder Moment, in dem ich versuche, das Telefon vor die Linse zu kriegen, ist einer, in dem ich nicht beobachten kann. Die Wahl fällt schwer, aber wenn der Vogel gleich doch abfliegt, habe ich weder einen Beweis noch die Möglichkeit, die Details zu begutachten, um sicher zu sein. Und schon ist es passiert. Alle Vögel fliegen hoch. Weg ist sie. Immerhin: Ein paar Fotos sind gelungen. Der Schweiß steht auf der Stirn.

Und jetzt beginnt die ornithologische Feinarbeit. War es doch „nur“ eine junge Trauerseeschwalbe – oder die hier sehr viel seltenere Weißflügelseeschwalbe? Als der Vogel aufflog, ist mir der weiße Bürzel aufgefallen. Das unterscheidet die beiden Arten im Jugendkleid. Ich hatte mich zufälligerweise vor einigen Tagen mit einem Freund über genau dieses Detail unterhalten. Aber genau das ist auf dem Bild nicht zu erkennen, denn da sitzt die Seeschwalbe und der Bürzel ist nicht sichtbar. Die Brustseite, die bei der Weißflügelseeschwalbe heller ist, war leider gar nicht zu sehen. Allerdings sprechen die langen Beine sehr für diese Art. Und jetzt ist es tatsächlich ein bisschen wie in der Medizin: Wenn’s kritisch wird, lieber eine Zweitmeinung einholen. Und zwar am besten von einem erfahrenen Kollegen. Mein ornithologischer Oberarzt heißt in diesem Fall Martin Kühn. Martin, Nationalparkranger und absolutes Schwergewicht in Sachen Vogelbestimmung, sichert die Diagnose ab: Weißflügelseeschwalbe! Ich freue mich. Diese Art wurde vor 21 Jahren zuletzt auf Trischen beobachtet. Es ist hier die vierte Sichtung seit Beginn der Aufzeichnungen.

Wenig später am Weststrand. Ich habe mich bis auf zwanzig Meter an einen emsigen Trupp Steinwälzer und Alpenstrandläufer herangepirscht. Die Freude ist groß, denn gerade ist mir gelungen, bei einem Alpenstrandläufer einen Ring, den er ums Bein trägt und auf dem klitzeklein ein Code steht, abzulesen. Wenn ich zuhause bin, kann ich nachvollziehen, woher der Vogel stammt, wie alt er ist und mit der Beobachtung auf Trischen einen kleinen Teil zur Erforschung dieser Art beitragen. Doch dann blitzt ein paar Meter weiter plötzlich etwas in der Sonne. Da ist ja noch einer! Dieser Vogel trägt allerdings keinen Farbring mit Code, sondern nur einen winzig kleinen Aluminiumring. Diese Ringe werden eigentlich nur abgelesen, wenn man den Vogel in der Hand hält, also bei einem Wiederfang oder Totfund. Der Ring ist nur einen Millimeter weiter als der Durchmesser eines Beins des kaum starengroßen  Vogels… Aber jetzt ist mein Ehrgeiz geweckt. Über eine Stunde später ist der Vogel nahezu umrundet. Ich bin kaum noch fünf Meter von ihm entfernt. Natürlich hat er nicht stillgestanden. Natürlich war die Sonne entweder viel zu hell und der Ring gleißte unablesbar im Licht. Oder das Gegenlicht war zu stark und er lag unergründlich im Dunkeln. Und selbstverständlich hüpften, als würden sie es absichtlich machen, permanent andere Vögel in die Sichtachse. Es ist eine Zitterpartie. Ich muss an meine Zeit in der Neurochirurgie denken, wo ich manchmal bei Operationen assistieren durfte, bei denen es auch auf den Millimeter ankam und der Operateur sich keinen Ausrutscher leisten durfte. Anderer Kontext natürlich, aber für mich beides ziemlich aufreibend. Und dann ist es tatsächlich doch geglückt: Mit sehr viel Geduld und noch mehr Behutsamkeit, mit Zeitlupenbewegungen und einer inneren Anspannung zum Zerplatzen: Der Code auf dem Ring lautet JT8407 Poland. Operation geglückt. Das klappt lange nicht immer alles so wie heute. Letzten Sonntag hatte ich nach einer längeren Durststrecke noch ein Gesicht gemacht wie sieben Tage Regenwetter.

Wenn keine Ziffer fehlt, wissen wir in ein paar Tagen mehr über den Vogel (der Patient ist also sozusagen noch nicht ganz über den Berg). Unten habe ich Ihnen einmal ein paar Ringe abfotografiert. Der große ist der Farbcodering einer Silbermöwe, der nächstkleinere der Aluminiumring einer Silbermöwe, der kleinste gehörte zu einer noch kleineren Brandseeschwalbe. Halbieren Sie die Größe des letzten, und sie landen bei der Ringgröße des Alpenstrandläufers. Darunter die Bilder vom Vogel und seinem Ring.

Im Bild darunter die Weißflügelseeschwalbe (die erwachsenen Tiere sehen übrigens ganz anders aus. Googeln sie ruhig mal, es lohnt sich!).

 

 

 

 

 

Till Holsten

Vogelwart 2022