Wo sind all die Blumen hin?

Und jetzt ist Spätsommer. Diesen Satz hier stehen zu sehen überrascht mich selbst. Denn diese Jahreszeit kommt nicht mit wilden Stürmen oder krachendem Eis übers Land. Es stehen auch nicht, wie über Nacht aus einem Farbeimer verschüttet, frisches Grün, Weiß und Violett in der Landschaft, wie manchmal an einem März- oder Aprilmorgen. Und der erste Schnee, der das Gefühl von einem Tag auf den anderen auf „Winter“ umstellt, fällt auch nicht. Nein, der Spätsommer sickert ganz langsam in die Landschaft ein. Über Tage und Tage durchwirkt er die Pflanzen, legt sich Schicht für Schicht auf die spiegelnden Wattflächen und erscheint schließlich auch in einer ganz langsamen Verschiebung der Blautöne des Himmels. Die Salzwiese wirkt an manchen Stellen wie ein goldgelbes, erntereifes Feld. Ähren pendeln schwer im Wind, dazwischen taumeln mit dem Ostwind herangewehte Admirale und Tagpfauenaugen. Der Boden hat die Sonne der letzten Wochen aufgesaugt und gespeichert wie ein Wärmereservoir. Wenn ich nach Sonnenuntergang noch einmal den Weg zum Strand gehe, sinken die Füße in warmen Sand, aus dem die Hitze der letzten Wochen jeden Tropfen Wasser gesaugt hat. Ganz fein rieseln die Körner zwischen die Zehen und schmeicheln der Haut. Und das Meer scheint selbst das Licht zu speichern: In der Dunkelheit blinkt es geheimnisvoll grünlich im leisen Wellengang. Die Schritte im Wasser hinterlassen eine Spur glimmernder Funken. Meeresleuchten! Es sind winzige Geißeltierchen, in denen bei Berührung eine chemische Reaktion abläuft, die sich in Licht entlädt. Es wirkt eher, als hätten sich einige Funken Licht im Meer verirrt und würden nun wieder herausfinden wollen.

Sie spüren es vielleicht in meinen Worten: Mit dem ausklingenden Sommer passiert auch mit mir etwas. Ich habe mich verändert, genau wie die Salzwiese: Die Haut ist so braun wie seit etlichen Jahren nicht mehr, die Haare darauf golden. Durch Wind und Salz und Licht ausgebleicht, kann ich mir meine grauen Haare nun wieder als blond verkaufen. Und das ist natürlich nur die Hülle. Der Gang der Jahreszeit lässt mich auch innerlich nicht unberührt. Wie naiv ist die Annahme, dass die Kräfte, die eine ganze Insel formen, nicht auch einen Menschen prägen sollten! Aber die Sandbänke und Priele der Seele sind eben nicht besonders gut zugänglich. Schutzzone 1 gewissermaßen, hier hat nur einer Zutritt (und der bin in diesem Fall ich).

Und deshalb erzähle ich Ihnen nun von einigen nachdenklich stimmenden Strandfunden: Patronenhülsen. Keine Sorge, es sind nur Hülsen. Manchmal findet man eine am Strand. Gefährlicheres liegt zuhauf im Meer, Nord- und Ostsee sind immer noch voller Mordinstrumente. Die Kriege der Menschheit erstrecken sich leider weit über ihr offizielles Ende hinaus. Das ist gefährlich für Menschen – jeder kennt ja die schrecklichen Bilder von Landminenopfern. Aber auch Seeminen haben schon manchen Kutterkapitän das Leben gekostet! Doch auch für die Natur ist es natürlich Mist, wenn tonnenweiser explosiver und giftiger Sprengstoff ganze Lebensräume verseucht, der langsam seinen Weg durch rostendes Metall findet. Wir kriegen normalerweise nicht viel davon mit. Aber jetzt liegen sie hier vor mir: Drei Patronenhülsen. Kein Schrot für die Gänsejagd. Es sind MG-Patronen. Die Jahresstempel sind 1943, 1943 und 1944. Vielleicht aus einem Flugabwehrgeschütz, vielleicht aus einem Flugzeug. Ich weiß nicht, ob sie abgefeuert wurden oder ob Ladung und Projektil von der Nordsee herausgelöst sind. Ist Ihnen jemand zum Opfer gefallen? Wurden sie mit der Absicht, einen Menschen zu töten, abgefeuert? Ich muss wohl davon ausgehen. Und auch wenn ich natürlich weiß, dass genau das vielmillionenfach passiert ist, ist die Unmittelbarkeit in der dieser vergangene Moment hier vor mir liegt, doch irgendwie würgend. Dass der Raum, in dem ich mich aufhalte, nicht nur Natur- sondern auch Menschengeschichte atmet, wird leider nicht nur durch die zahlreichen Ziegelsteine des alten Luisenhofes hier am Strand, sondern auch durch solche unappetitlichen Funde belegt.

Irgendwie ist es ja etwas kitschig, aber ich muss an das bekannte Antikriegslied von Pete Seeger denken: „ Where have all the flowes gone?“ Ich hebe die Hülsen also auf und stecke ein paar gelbe Distelköpfe hinein. Mit ein paar Tropfen Wasser sind die Mordinstrumente zur Blumenvase umfunktioniert, wenn auch zu spät.

Mittags sitze ich auf der Bank in der Sonne. Plötzlich ertönt ein Geräusch in der Luft, das mich polternd aufspringen lässt – meine Hände suchen nach dem Fernglas, während ich bereits um die Hütte herumlaufe und versuche, den schwarzen Punkt, der am Himmel auf mich zurast, zu fixieren. Und dann ist sie schon über mir: „QUOORRK“! Eine Raubseeschwalbe! So wie ich auf der Hütte poltere, poltert sie durch die Luft, für eine Seeschwalbe ist der Vogel ein ziemlicher Brecher, und der riesige Schnabel sieht so aus, als hätte man einem Schneemann eine Möhre ins Gesicht gesteckt. Ich weiß nicht, was der seltene Gast aus dem Ostseeraum hier suchte; nach kaum zwei Minuten war der Vogel gen West verschwunden. Aber die Begegnung hinterlässt in mir ein Gefühl tiefer Dankbarkeit. Ich bin so froh, nach Seeschwalben Ausschau halten zu dürfen. In der Luft die Schönheit und nicht den Tod wittern zu müssen. Ich denke an die Menschen, früher und heute, denen es anders geht. Und wenn auch der Halliglfieder nun verblüht ist – mit jeder Pore von Körper und Geist sauge ich das Leben in mich auf.

 

Till Holsten

Vogelwart 2022