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The Sound of Silence

Liebe Trischen Blogleser*innen,

wenn ich an eine unbewohnte Insel denke, denke ich neben einer unberührten Natur vor allem an eines: absolute Stille.

Wer kennt ihn nicht, den Alltagslärm der uns tagtäglich umgibt – sei es eine vielbefahrene Straße vor dem Fenster oder der lärmende Nachbar? Etwa 12km entfernt vom Festland bekomme ich akustisch recht wenig von der Welt dort draußen mit. Gelegentlich höre ich das Surren eines Flugzeugmotors oder das Brummen eines der großen Schiffe, die an Trischen vorbei schippern.  Aber Stille? Weit gefehlt! Auf Trischen herrscht eine ganz andere Geräuschkulisse. Zum Tosen des Windes, gesellt sich das „Stimmengewirr“ meiner Nachbarn – und die haben gerade zu dieser Zeit viel zu sagen. Es ist Balzzeit: Brutpartner müssen gefunden und Reviere verteidigt werden. Und gerade die Rotschenkel vor meiner Hüttentür meinen es sehr ernst damit. Sie sind meist das Letzte was ich beim Einschlafen höre und das Erste was ich morgens beim Aufwachen mitbekomme. Pausenlos schwirren sie laut rufend durch die Luft, sitzen auf den Pfählen rund um die Hütte und recken ihre Flügel in die Luft, damit auch jeder Rotschenkel in der Umgebung, ihre weißen Federzeichen bewundern kann.

 

 

Nicht dass sie nun auf falsche Gedanken kommen: Ich möchte mich keineswegs beschweren, bestaune ich das Spektakel und die Mühen, die dabei auf sich genommen werden, jeden Tag aufs Neue. Mit einem bewundernswerten Durchhaltevermögen zeigen die gefiederten Bewohner Trischens ihren (zukünftigen?) Partner*innen, was sie alles zu bieten haben. Und dies kann auf ganz vielfältige Weise geschehen. Seeschwalben sind vielleicht das beeindruckendste Beispiel der heimischen Vogelwelt: Hier überreicht das Männchen dem Weibchen ein Brautgeschenk in Form eines kleinen Fischchens. Sandregenpfeifer hingegen drücken mit ihren Bäuchen kleine Mulden in den Boden, ganz ähnlich wie es beim Anlegen einer Nestmulde am Strand geschieht. Und andere wiederum beweisen durch ausdauernde Singflüge, ein vielfältiges Gesangsrepertoire oder durch ein besonders prächtiges Gefieder, wie fit sie sind. Brandgänse treiben es sogar noch weiter: Sie stellen sich in Gruppenbalzen dem direkten Vergleich mit ihren Kontrahent*innen. Dabei finden sich mehrere Männchen und Weibchen zusammen, um auszuhandeln wer mit wem zur Brut schreitet. Unliebsame Teilnehmer*innen können beispielsweise mit einem kreisenden Auf- und Absenken des Kopfes in ihre Schranken gewiesen werden.

Und auch wenn die Vorbereitungen schon auf Hochtouren laufen, haben auf Trischen beim Brutgeschäft bisher vor allem die Graugänse ernst gemacht. Bei der Springtidenzählung bin ich schon über das ein oder andere Nest gestolpert. Dieses wird auf Trischen meist in den höheren Lagen der Salzwiese bzw. der Dünen gut versteckt in der Vegetation angelegt. Nach meinem Geschmack allzu oft in unmittelbarer Nähe zu den Großmöwen, die ebenfalls die hohen Dünen als Sitzplatz bevorzugen.

 

Also Daumen drücken, dass auch die Graugänse gutes Durchhaltevermögen bei der Verteidigung ihrer Nester (und später Küken) beweisen!

Ihre Melanie Theel

 

 

Auf Wiederlesen!

Liebe LeserInnen,

nun heißt es endgültig Abschied nehmen – dies ist mein letzter Eintrag auf dieser Seite. Er folgt den anderen so spät, weil ich Ihnen noch einige Zahlen schuldig bin: Die Anzahl der Brutvögel, die Zahl der beobachteten Vögel insgesamt und jene der in dieser Saison auf Trischen entdeckten Insektenarten.

Jede dieser Zahlen repräsentiert eine Summe an Erlebnissen, Gefühlen, Gedanken und Sinnesempfindungen, die durch die abstrakte Zusammensetzung einiger Ziffern nur sehr unzureichend zum Ausdruck gebracht werden kann. Und trotzdem spiegeln sie die überbordende Vielfalt und den Reichtum eines winzigen Stückchens unserer Erde wider. Für eine bestimmte Zeit durfte ich es durchwandeln. Und so wird das kurze Leben auf diesem kleinen Flecken wandernden Sandes eine Allegorie für etwas viel Größeres.

Fünfundzwanzig verschiedene Vogelarten haben während dieser Zeit auf Trischen ihre Jungen groß gezogen. 155 verschiedene Vogelarten haben auf ihr gerastet, sich geputzt, sich gejagt; haben die Insel hoch überflogen oder sind tot an ihr angespült worden. 209 verschiedene Arten Insekten und anderer wirbelloser Tiere habe ich bestimmen können (wobei die typischen Muscheln, Würmer etc. noch nicht einmal mitgezählt sind). Eine Raubfliege (Tolmerus cowini) ist sogar ein Erstnachweis für Schleswig-Holstein, eine Schlupfwespe (Fredegunda diluta) wurde hier erst zum dritten Mal in unserem Bundesland gefunden. Fast hundert dieser Arten aber sind Schmetterlinge.

Dieser Teil des Ökosystems hat mich besonders beeindruckt. Normalerweise sind Sandregenpfeifer und Zwergseeschwalbe die Repräsentanten des Lebensraumes Küste, der von menschlicher Nutzung ebenso bedroht ist wie durch Veränderungen, die der menschengemachte Klimawandel mit sich bringt. Auf Trischen entdeckte ich eine kleine Welt von vollkommen an das Leben in einem sehr rauhen, von Salz und schwerer Witterung geprägten Lebensraum aufs Feinste angepasster, hauchzarter Lebewesen. Für mindestens sechs dieser Schmetterlingsarten trägt Schleswig-Holstein eine bundesweite, für drei sogar eine internationale Erhaltungsverantwortung, weil sie fast nirgendwo anders mehr vorkommen. Etliche werden in der Roten Liste als gefährdet oder stark gefährdet geführt. Einige Käfer die ich fand, gelten sogar als vom Aussterben bedroht. Auf Trischen können sie überleben, weil kaum menschliche Tritte und erst recht keine schweren Fahrspuren den empfindlichen Lebensraum von Nahrungspflanzen und im Sande vergrabener Larven zerstören. Sie sind angewiesen auf immer wieder neu vom Meer geformte, dynamische Lebensräume. Dass diese Arten hier tatsächlich vorkommen beweist, dass das Motto des Nationalparks „Natur Natur sein lassen“ wirksam ist. Trischen dient damit übrigens auch als eine Art Referenzpunkt: So reich an Natur war unsere Welt einmal.

Und damit stellt sich unweigerlich die Frage, wie viel davon wir erhalten wollen oder noch können. Ich weiß, dass sich nicht jeder mit dem gleichen Feuereifer für millimetergroße, sandfarbene Schmetterlinge interessieren kann wie ich. Das ist völlig in Ordnung. Ich glaube aber, dass jedem Menschen von Beginn an eine Freude am Lebendigen und eine Neugier auf die wundersame Vielfalt, in die dieses Leben sich auffächert, innewohnt. Bewahren Sie sich diese Flamme bitte! Und versuchen Sie, sie weiterzurreichen an kommende Generationen.

In diesem Sinne werde ich nun aber auch meinen Abschied relativieren. Zum einen möchte ich – wie versprochen – nicht ganz mit dem Erzählen von Natur aufhören. Es ist mir auf Trischen ans Herz gewachsen. In Zusammenarbeit mit dem Naturfotografen Jan Sohler schreibe ich nun also als einer von zwei „Tintenvögeln“ auf der Website sepiaves.de auf, was sie uns erleben lässt. So viel sei schon einmal verraten: Die nächste Geschichte handelt von der Suche nach einer der seltensten Raubkatzen der Welt…kommen Sie mit?

Vor allem aber will ich nun auch das „Trischenfeuer“ weiterreichen. Denn meine Nachfolgerin steht schon in den Startlöchern. Ich bin unheimlich gespannt, was die Insel ihr schenken wird, und ich freue mich jetzt schon – diesmal als Leser – dem Trischenblog weiter treu zu bleiben zu dürfen.

Ihnen danke ich für die viele Aufmerksamkeit und eine unheimlich große Zahl sehr herzlicher Kommentare und Kontakte. Es berührt mich sehr, dass Trischen so viele Freunde gefunden hat.

Und nun aber: Bis ein Andermal. Bleiben Sie gesund. Und werden Sie nicht müde, für die Natur einzustehen. Sie wird es Ihnen danken.

Ihr

Till Holsten

 

Unten noch ein Bild meiner letzten Tage auf Trischen!

Ein letztes Geschenk vom Meer

Ich sitze auf gepackten Koffern. Die meisten Klamotten werde ich erst am Festland wieder tragen, nur eine letzte Garnitur ist noch parat für die Insel. Vieles hängt lediglich noch an ein paar Fäden, mancher Knopf ist auf Nimmerwiedersehen verschwunden und meine Brille sieht aus wie mit dem Sandstrahler bearbeitet. Meine Lieblingsmütze hat das Meer sogar mit sich genommen, sie ist mir irgendwann bei Windstärke 8 vom Kopf geflogen, ohne dass ich es gemerkt habe, und wohl mit dem Landunter davongeschwommen. Auch fast alle Bücher sind bereits verstaut. Ich schleppe jedes Mal viel mehr davon mit mir herum als ich müsste; sie geben mir das Gefühl von Geborgenheit. Wo Bücher sind, ist die Welt für mich ein kleines Stück in Ordnung. Eine Mauer aus Gedanken kluger Menschen gegen die Unbilden des Lebens. Und auch all die kleinen Gegenstände, die das Leben hier annehmlich machten, haben einen Platz gefunden, irgendwo zwischen „European Seabirds“, „Die Grabwespen Deutschlands“ und Georg Forsters „Reise um die Welt“.

Aber es ist nicht nur Dingliches, das ich verstauen muss. Manches Gefühl, mancher liebgewonnene Gedanke hat nun seinen letzten Auftritt. Ich wandere, in Gedanken versunken, noch einmal den Nordstrand entlang. Neben mir huschen Alpenstrandläufer und Sanderlinge, die – wie ich – auch bald die Insel verlassen werden. Ich werde es nur nach Hamburg schaffen, einige der kleinen Gefährten aber werden es bis Guinea oder Mauretanien bringen. Gemeinsam drücken wir noch einmal unsere Spuren in den Sand.

Einer der Alpenstrandläufer sieht ein wenig, hm, heruntergekommen aus, denke ich. Ein bisschen düsterer, ein bisschen plusteriger, dicker. Und er hat eine noch viel geringere Fluchtdistanz als die anderen Vögel neben mir. Das ist normalerweise nur so, wenn die Vögel geschwächt sind, und ich bekomme ein bisschen Mitleid. Ob er es nach Afrika schafft? Ich sehe den Vogel im Weitergehen nur aus dem Augenwinkel, die Gedanken spielen sich eher halbbewusst ab – bis er einschwenkt und direkt vor mir herläuft – und ich seine Beine sehe. Sie sind orange. Das ist kein „Alpi“ und auch kein Sanderling. Der will auch nicht nach Afrika. Das ist ein Meerstrandläufer!

Ich weiß ja, dass die Namen manchmal etwas beliebig klingen, deshalb muss ich Ihnen einmal erklären, was es mit diesem Vogel auf sich hat: Meerstrandläufer kommen aus dem hohen Norden: Grönland, Spitzbergen, Nordnorwegen, Island. Sie lieben Felsküsten, das Kalte, Wilde, und treten allenfalls auf Helgoland regelmäßig, manchmal auch auf Sylt oder Amrum, sehr selten an anderen Stellen der deutschen Küste auf. Weiter gen Süd zieht dieser kleine, rauhe Geselle nicht. Mich erinnert er an einen alten Fischer: Etwas untersetzt, unter der dicken Weste ein klein bisschen pummelig, immer ein wenig ölverschmiert und mit einem seegrauen Schatten, das ihm nie ganz von der Seite weicht, völlig egal, wo er gerade ist. Vielleicht hat er trotzdem stets einen knappen, guten Spruch auf den salzigen Lippen. Und dazu trägt er orange Gummistiefel!

Zuletzt hat Peter Todt 1999 hier einen Meerstrandläufer beobachtet. Da war ich zwölf. In der Freude über die für Trischen seltene Beobachtung vergesse ich völlig, dass ich die große Kamera im Rucksack habe. Meine zittriges Handybild zeugt davon, dass ich mich wirklich wahnsinnig über diesen Vogel gefreut habe.

Manche Dinge kann man ja mit Worten wunderbar veranschaulichen. „Lesen ist gelenktes Schaffen“ wird Sartre zitiert. Sie hätten also auch ein Bild im Kopf, wenn mein Handy es nicht getan hätte. Ich möchte Ihnen heute aber trotzdem noch ein schöneres Bild zeigen. Es ist in Norwegen entstanden. Gemacht hat es mein Freund Jan. Ein gutes Foto gibt einer weiteren Dimension der Vorstellung und Teilhabe an einem Erlebnis Raum. Und durch dieses Bild bekommt man nicht nur einen Eindruck von der Fluffigkeit des Gefieders, von den zarten Farbverläufen im festen Keratin, sondern auch vom Charakter der Bewegung, die diesen Vogel ausmacht. Können Sie sich nun vorstellen, wie ein Meerstrandläufer ist?

Bild und Wort können also eine wunderschöne Liaison eingehen. Und weil mir das Erzählen und Jan das Fotografieren Freude macht, haben wir beschlossen, dass es damit weitergehen soll. Wenn also alle Gedanken, Gefühle und Bücher gepackt sind, wenn die Sanderlinge in Mauretanien sind und der Meerstrandläufer seinen emsigen Geschäften im Felswatt nachgeht, dann wird es an anderer Stelle weitergehen mit dem Erzählen von Natur. Von ihrer Fragilität und ihrer Macht auf uns, und von Gedanken, die sich mal fester, mal loser an das Naturerlebnis knüpfen. Das Fotografieren überlasse ich dann aber Jan. Vielleicht haben Sie ja Lust, weiter mit auf die Reise zu gehen. Ich verrate Ihnen später, wo Sie einsteigen können.

Für mich heißt es jetzt Abschied nehmen. Übermorgen geht es los. Ein letztes Mal also: Alles Gute von der Insel. Die Dünen, die Wellen, die Vögel sagen auf Wiedersehen. Von mir hören Sie noch einmal, wenn ich wieder am Festland bin.

Bis dahin wünsche ich Ihnen, trotz allem Chaos in der Welt, großartige Naturerlebnisse und einen schönen Herbst!

Ihr

Till Holsten

 

Bild oben: Der Meerstrandläufer am Nordstrand.

Bild unten: Ein Meerstrandläufer in Norwegen.

 

Endlichkeit

Am Weststrand Süd finde ich eine Silbermöwe. Als das Wasser mit der Tide geht, bleibt sie im Spülsaum sitzen. Ihr Kopf ist auf die Brust gesunken, die Augen geschlossen. Sie ist ganz ruhig. Als ich vorbeigehe, regt sie sich kaum. Nur ganz eben noch bebt ihr Körper im Rhythmus der flachen Atemzüge. Ich gehe leise vorbei, möchte nicht, dass sie in ihren letzten Minuten noch Angst verspürt. Sie soll in Frieden sterben. Es ist ein warmer Tag. Die Sonne scheint auf den Vogel, die zurücklaufenden Wellen rauschen sacht. Ein guter Tod für eine Möwe, denke ich mir.

An einem Tag im August treibt der Wind den Sand in dichten Verwehungen über den Strand. Tanghaufen, Fischernetze, Plastikmüll; alles wird begraben unter dem unerbittlichen Andrängen des Sandes. Wo er Halt findet, bilden sich innerhalb von Minuten kleine Dünen. Neben einer bereits halb verschwundenen Holzpalette kauert dunkelbraun ein Häuflein Federn. Auch die Eiderente ist schon halb versunken im Strand. Als ich mich nähere, blinzelt sie. Dann wirft sie wie wild den Kopf hin und her. Sie hat keine Kraft mehr, aufs Meer zu fliegen. Am nächsten Morgen liegt sie starr unter einer der Sandverwehungen. Kein guter Tod für eine Meeresente, denke ich.

Wie oft habe ich das beobachtet, seit ich hier bin? Ich kann es nicht zählen. Erst heute Morgen schlug ein junger Wanderfalke direkt an der Dünenkante einen anderen Vogel, den ich nicht erkennen konnte. Frühstück für den Falken, Ewigkeit für sein Frühstück. Was ich allerdings zählen kann ist die Anzahl der toten Tiere, die ich gefunden habe: Es sind knapp 500. Den Großteil machen Vögel aus. Darunter sind die meisten wiederum diesjährige Möwen. Eine gewisse Verlustrate ist normal. Diesmal wird die Liste leider ergänzt durch eine erhebliche Anzahl Brandseeschwalben und Eiderenten, die wahrscheinlich an der Vogelgrippe gestorben sind (ich habe nicht alle getestet, einige Stichproben waren aber positiv). Auch ein paar Seehunde und Schweinswale stehen, wie jedes Jahr, auf der Liste. Ihnen gegenüber steht eine lange Liste von Beobachtungen des lebendigen Treibens um mich herum, die unter anderem etliche tausend Gelege und Jungvögel beinhaltet, ganz zu schweigen von den Heerscharen der Insekten, bei denen ich ja nicht einmal gezählt, sondern nur die Anwesenheit einer Art anhand einzelner Exemplare dokumentiert habe. Das ist das Werden und Vergehen auf der Insel Trischen.

Es ist sicherlich nicht die schönste Erzählung, aber sie gehört eben zum Leben dazu. „Leben“ ist ja gar nicht so einfach zu definieren. Es gibt tatsächlich bis heute keine allgemeingültige Definition. Googeln Sie ruhig mal, sie werden unterschiedliche und zum Teil recht interessante Versuche finden. Fest steht aber eines: Es ist endlich. Was lebt, wird auch vergehen. Und ob wir wollen oder nicht, das betrifft nicht nur Silbermöwen und Eiderenten. Über den Tod nachdenken ist unangenehm. Und selbst, wenn man sich mutig mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert – es bleibt doch schwer, darüber nachzudenken. Neben dem inneren Widerwillen besteht gewissermaßen auch eine technische Unmöglichkeit: Das Bewusstsein kann sich nicht vorstellen, nicht zu sein.

Nun endet meine Zeit auf Trischen. In wenigen Tagen werde ich ein letztes Mal in den Sand greifen. Werde den Wiesenpiepern meinen Abschied zuflüstern und den Basstölpeln irgendwo da draußen ein letztes Ahoi zurufen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich in einem Anflug sentimentaler Anwandlungen auch den Wellen, dem Mond und der Salzwiese irgendeine Art von Goodbye sagen werde. Dann steige ich an Bord und es geht los. Natürlich, mein Leben ist dann nicht vorbei. Es wird, so hoffe ich, noch Vieles folgen. Gar so alt bin ich ja noch nicht.

Aber war es nicht auch mit meinem Aufenthalt hier so? Das Gefühl, dass alles neu ist, dass eine ewige Zeit vor mir liegt? Die Löffelkräuter die sagten, dass es gerade eben erst Frühling wird? Die gen Nord ziehenden Gänse, die mir versprachen, dass der Herbst noch unendlich fern ist? Nun kommen sie zurück. In ihren Rufen klingt jetzt eine andere Erzählung. Und so ist meine Zeit hier eben auch ein Leben im Kleinen gewesen, „life in a nutshell“, oder „la vie en miniature“ – in jedem Falle: Endlich.

In mir hat sich viel gesammelt, ist viel gereift, ein bisschen wie die dicken Kürbisse, die ich vor ein paar Tagen an der Nordspitze gefunden habe. Der Herbst und der Tod erzählen eben auch davon, dass Leben war, und dass es wieder sein wird. Am Kadaver der Eiderente fraß wenig später die Mantelmöwe. Noch ein paar Tage später fand ich Käfer wie den Ufer-Totengräber und den Gerippten Totenfreund. Klingt ein bisschen unheimlich, ich weiß. Aber die Lerche ist nicht fern, die sie fressen wird. Am Ende bleibt Gesang im Frühling. Oder, naja, ein Wanderfalke, der die Lerche frisst.

Selbst die Insel ist ja endlich. Wie oft sich wohl ihre Substanz schon erneuert hat? Ob auch nur ein einziges Sandkorn noch vorhanden ist von denen, die sie vor vierhundert Jahren begründet haben? Ich glaube kaum. Und doch ist Trischen immer noch da. Selbst wenn es eines Tages keinen Flecken mehr gibt, den wir so nennen werden, ist er ja nur in etwas anderem aufgegangen.

Ich möchte nicht zu esoterisch werden. Sie wissen, ich bin vom Herzen her Wissenschaftler, und das bleibe ich auch. Das zwingt mich aber noch lange nicht zu intellektueller Borniertheit. Die Grenzen unserer Wahrnehmung sind ziemlich eng gezogen. Ich kann ja nicht einmal die Rufe von Fledermäusen hören, obwohl es sie selbstverständlich gibt. Und in all den Gehirnen, die ich in meiner Zeit in der Neuropathologie seziert habe, habe ich folgendes niemals gefunden: Einen Gedanken. Ein Gefühl. Einen Traum.

Mir hilft das Sein in und mit der Natur, mit der eigenen Endlichkeit umzugehen. Natürlich weiß ich nicht, wie es mir eines Tages ergehen wird. Ich weiß aber, dass es mir gut tut, nicht völlig abgekoppelt zu sein vom Werden und Vergehen, auch zu blühenden Lebzeiten nicht. Es gehört dazu. Es macht uns sogar aus. Und auch das ist ein Grund, warum wir die Natur um uns her respektieren sollten: Sie gibt uns einen Kontext, der die große Sinnfrage vielleicht nicht beantwortet, der aber helfen kann, sie auszuhalten.

Dies war übrigens noch nicht der letzte Eintrag, auch wenn er sich ein bisschen so liest. Ein paar Tage sind mir hier ja noch beschieden – und auch die wollen noch erzählt werden!

Die Bilder: Junger Wanderfalke, heute Morgen an Beute kröpfend.  Der dicke Kürbis läutet den Herbst ein. Ein Aaskäfer – der Gerippte Totenfreund hält die Dünen sauber. Und schließlich die Eiderente aus dem Text.

 

 

Im Sturm

Seit Tagen quillt der Speicherkoog über von Rotfußfalken und Steppenweihen. Der Speicherkoog ist das nächstgelegene Naturschutzgebiet am Festland. Meldung folgt auf Meldung. Tagelang starre ich also Löcher in die Luft, denn auch ich möchte mich am Anblick dieser nicht nur seltenen, sondern auch außergewöhnlich schönen Tiere ergötzen. Aber, aber: Nichts! Der Himmel ist leer! Beide Arten wurden auf Trischen bereits mehrfach beobachtet. Aber dieses Jahr scheint die Mühe, einmal herüberzufliegen, zu groß zu sein. Nicht einmal einen Mäusebussard konnte ich bisher notieren! Es gibt Tage, da treiben mich meine durch Abwesenheit glänzenden gefiederten Freunde zum Wahnsinn.

Aber es gibt auch die anderen Tage. Es sind die Tage, an denen ich nichts mehr hören und durch den schmalen Augenschlitz zwischen Kapuze und Balaclava kaum noch sehen kann – und mich dennoch pudelwohl und ganz in meinem Element fühle. An diesen Tagen ist Sturm.

Ende vergangener Woche hatte ich an drei von vier Tagen Landunter. In peitschenden Schauern stand ich knietief im Wasser unter der Hütte und versuchte eine Reihe Plastikkanister, die ich im Laufe der Zeit am Strande gesammelt hatte, am Wegtreiben zu hindern. Wenn einmal die Sonne durchbrach, sah man im Wasser Heerscharen von Laufkäfern, Spinnen und Weberknechten um ihr schwindendes Leben kämpfen. Der Sommer trieb davon. Innerhalb weniger Minuten umstanden in wechselnder Himmelsrichtung mehrere Regenbögen die Hütte: Rettungsinseln, auf denen sich die Farben zusammengekauert hatten. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich liebe dieses Wetter. Es fühlt sich an, als wenn der Wind direkt durch den Brustkorb ans Herz fasst und es tüchtig durchrüttelt.

An solchen Tagen stehe ich stundenlang Wache. Eingepackt in den dick gefütterten Ledermantel, mit Handschuhen über den steifen Fingern, einem guten Fernglas um den Hals und der tobenden See fest im Blick warte ich auf den einen Moment: Den Moment, in dem ein winziger, rasender Punkt über dem Horizont erscheint und wieder in einem Wellental wegtaucht…aber noch ist das nicht mehr als ein hoffnungsvoller Gedanke. Und der versinkt mit jeder Regenbö weiter im Grau. Doch wer hätte jemals behauptet, dass die Suche nach Sturmtauchern ein Kinderspiel sei? Schließlich tragen sie ihr Wohlfühlwetter im Namen. Aber wo sind sie? Ist da draußen überhaupt irgendetwas? Immerhin wird mir das Warten bald versüßt.

Ich telefoniere gerade mit einem Freund, als ich mich vor Anspannung fast verschlucke: „R-R-RRAUBMÖWEEE!!“ Ich pfeffere das Handy zur Seite (‚tschuldigung, Jan!). Ein schwarzes Etwas saust niedrig unter den Sturmböen den Strand entlang. Ein Blick durchs Fernglas – ein Griff zur Kamera – zack! Weg ist sie! Das Herz pumpt.. Eine Silbermöwe ist ja ein eleganter Vogel. Aber verglichen mit einer Schmarotzerraubmöwe wirkt sie wie ein VW Passat neben einem Lamborghini Diablo. „Schmaros“ sind arktische Brutvögel, die im Herbst weit draußen auf See bis in ihre Winterquartiere im Südatlantik ziehen. Sie sind Meister des Sturms, der Kälte und des Windes, uns es gibt wahrscheinlich kaum einen Vogel der ihre blitzartige Manövrierfähigkeit übertrifft. Besonders toll finde ich, dass sie in verschiedenen Farbvarianten vorkommen: Der von mir zuerst beobachtete Vogel sah wirklich aus wie ein schnittiger schwarzer Teufel. Später folgte noch eine „helle Morphe“. Normalerweise haben alle anderen Möwen panische Angst wenn sie auftauchen, denn Schmarotzerraubmöwen traktieren andere Vögel, bis diese ihre Beute fallen lassen und die Raubmöwe damit abziehen kann. Diese hier stieß nur einmal etwas uninspiriert einer Silbermöwe in den Bauch und flog dann ab. Ein bisschen wie der böse Willi auf dem Schulhof, der das Schubsen dann doch nicht bleiben lassen kann. Obwohl er eigentlich keine Lust hat. Aber natürlich ist das schlichtweg ihre Lebensweise, ihre ökologische Nische. Die Schmarotzerraubmöwe ist genau so wenig „böse“ wie die Nachtigall.

Und dann erfüllt mir der Sturm doch noch meinen Traum. Ich wische mir zweimal die Augen: Doch. Da ist er. In irrsinniger Fahrt rast ein schwarzbrauner Punkt durch die Wellen. Gerade eben erkenne ich einen kleinen Körper, der zwischen zwei ziemlich langen, steifen Flügeln wie aufgehängt wirkt. Das Tier ist wahnsinnig schnell unterwegs. Mehrfach verliere ich den Vogel wieder aus den Augen. Und doch erkenne ich in etwa anderthalb Minuten Beobachtungsdauer keinen einzigen Flügelschlag. Es ist ein Dunkler Sturmtaucher! Falls Sie sich fragen, warum er es so eilig hat: Er kommt gerade aus Südamerika. Und wissen Sie, wo er wieder hin will, um zu brüten? Genau.

Hach! Wer braucht schon Schönwettervögel? Nimm das, Mäusebussard..

Bild 1: Die tosende See vor West. Den Dunklen Sturmtaucher müssen Sie sich leider vorstellen. Bei Windstärke 9 war nicht daran zu denken, ihn mit dem Handy durch das Spektiv zu fotografieren.

Bild 2: Die Schmarotzerraubmöwe. Ich liebe diese Vögel!