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Besuch von den Schönen der Nacht

Nein, nicht, was Sie womöglich denken. Die einzige Menschenseele auf der Insel bin nach wie vor ich. Und mir ist beim abendlichen Strandspaziergang auch keine Nixe begegnet. Aber Besuch bekomme ich doch allnächtlich. Und wenn der Tanz der Formen und Farben beginnt, steht meine Veranda keinem Parkett eines ehrwürdigen Ballsaals nach.

Das Fest tobt am wildesten, wenn die Nacht sehr dunkel und drückend warm ist. Abende, an denen die schlummernde Salzwiese noch lange nach Sonnenuntergang die Hitze des Tages in schweren Wellen ausatmet, wenn der Mond tief in den Schatten der Wolken versinkt und das Dunkel so dick ist, dass man beim Gehen einen Widerstand fühlt – dann zünde ich die Laternen für den Ball der Schmetterlinge an.

Und sie kommen. Von überall her. Sie tragen ihre schönsten, buntesten und ausgefallensten Kleider. Schmetterlinge leben selbst hier draußen im Wattenmeer. Zu den Bewohnern der Insel gesellen sich zahlreiche Gäste auf der Durchreise. Meine Einladung an sie besteht aus einer starken UV-Lampe, die Licht in besonders verlockenden Farben ausstrahlt, die für Menschen allerdings zum Teil gar nicht sichtbar sind. Kurz bevor das letzte Licht des Tages erlischt, hänge ich sie an eine Wand der Hütte. Und damit nicht nur mit Ausstattung geprunkt wird, stelle ich auch etwas auf den Tisch: In einer Flasche habe ich altes Obst, Multivitaminsaft, Dunkelbier und einen Schuss Rum gemischt und gären lassen. Diese wird nun geöffnet und verströmt ihren süßlich-klebrigen Duft in die Nacht. Manche Gäste bezaubert eher das Funkeln des Lichts, andere kommen nur wegen des Alkohols – viele mögen beides. Wer kennt es nicht? Warum aber das Licht die Nachtfalter eigentlich anzieht, ist nach wie vor nicht restlos geklärt.

Eigentlich ist unter der Lampe ein Trichter aus Gaze angebracht, in den die Nachtfalter fallen, wenn sie anfliegen. Am nächsten Morgen kann ich sie in Ruhe bestimmen, zählen und schließlich unversehrt wieder freilassen. Oft kann ich aber gar nicht anders, als noch nachts um die Hütte zu tigern und meine Gäste zu bewundern. Man sieht den Gastgeber dann mit vergessener Zahnbürste im Mund auf der Hüttenveranda staunend die größte Schönheit der Nacht küren.

Nachtfaltern, die genau wie Kohlweißling und Admiral zu den Schmetterlingen gehören, haftet immer noch der etwas altbackene Ruf der „Motte“ an. Bis auf die unscheinbare Kleidermotte (die mir hier übrigens noch nicht begegnet ist) ernähren sie sich allerdings fast ausschließlich von Nektar oder in vielen Fällen – gar nicht. Einige Arten haben nicht einmal mehr einen Rüssel zur Nahrungsaufnahme, sie leben nur noch der Liebe wegen und sterben, wenn die Herzensangelegenheiten erledigt sind. Viele entwickeln betörend schöne Muster, die in Tönen von zartestem, silbrigem Weiß über rötlich changierende Braun- und Beigetöne in allen denkbaren Abstufungen bis hin zum düsteren Schwarz einer Neumondnacht reichen. Das Spektrum der Farben entspricht in etwa denen, die Marmor annehmen kann. Und betrachtet man die Muster unter einer Lupe, erhält man den Eindruck, dass irgendwann im Laufe der Evolution Halluzinogene im Spiel gewesen sein müssen: Die Architektur der Flügelzeichnung entwickelt die verspieltesten Symmetrien aus Augen, Netzen, Lianen, Kreisen und anderen geometrischen Figuren. Jede Art stellt ein nur ihr eigenes Muster zur Schau. Manchmal überraschen auch die Nachtfalter mit einer Farbexplosion. Gestern Nacht haben sich zwei Große Eichenkarmine die Ehre gegeben. Wenn diese beeindruckend großen Falter auffliegen, offenbaren sie unter ihrem fein ziselierten braunen Kleid einen leuchtend roten Unterrock mit schwarzem Zickzackband – ein perfekte, abschreckende Ergänzung zum Tarnmuster, die auf Verblüffung und das Schreckmoment setzt. Einmal war ein kleiner Schmetterling dabei, der wirkte wie aus winzigen Jadesteinchen und Türkisen zusammengesetzt: Ein Graugrüner Apfelblütenspanner.

Je nachdem, wie der Wind steht, erwarte ich andere Gäste. Die Eichenkarmine hatte ein Südostwind zu mir getragen. Ihr Name zeugt ja schon von der Vorliebe für einen anderen Lebensraum. Ich habe aber auch schon eine Reihe Arten entdeckt, die heimisch auf Trischen, also typisch für eine unberührte Küstenlandschaft – und damit sehr selten geworden sind. Ohne die Dünen mit ihren charakteristischen Pflanzen, ohne von Menschenschritten und Autos unbehelligten Boden, in dem sich die Raupen entwickeln können, verschwinden sie bald.

Ich glaube, die Leser dieses Blogs muss ich nicht noch einmal dazu auffordern, sich für den Erhalt von Lebensräumen einzusetzen. Ich will deshalb heute mit etwas Schönem schließen, und zwar mit den Namen der Nachtfalter, die fast genau so interessant sind wie die Tiere selbst. Und zwar nicht den lateinischen, die immer ein bisschen klingen wie ein Zauberspruch – „Catocala sponsa!!“ – und auch nicht den deutschen, die sich oft im Deskriptiven verlieren („Schmalflügelige Strandroggeneule“) – sondern im Englischen. Im englischen Bestimmungsbuch tummeln sich nämlich wundervolle, fantastische Namen. Da heißen die Falter etwa Alchymist, Sorcerer, The Feline, Old Lady, Conformist und Nonconformist, Willow Beauty. Zu Deutsch also in etwa Alchemist, Zauberer, Die Katze, der Angepasste und der Unangepasste und die Weidenschönheit, die im Deutschen allerdings mit: Weißes Ordensband, gar keinem deutschen Namen, Weißer Gabelschwanz, Schwarzes Ordensband, Braungraue Holzeule und Gagelstrauch-Moor-Eule übersetzt werden. Und die wundervolle „Weidenschönheit“ wird gar zum Rauten-Rindenspanner..

Ist das nicht ein herrliches Spiel mit Sprache und Natur? Eine Freundin war davon ganz inspiriert. Sie sagte (wir sprachen über den englischen Namen des Schönbären Callimorpha dominula): „Wow! Scarlet Tiger! Jetzt habe ich einen Namen für meine nächste Tochter!“ Ich habe mich schnell versichert, dass das ein Witz war. Schließlich bin ich ja auch noch Kinderarzt..

In diesem Sinne – geben Sie der Nacht und ihren Schönheiten eine Chance! Die Galerie ist etwas größer, aber die Falter verdienen so viel Platz, finde ich. Ich gehe jetzt mal den Ballsaal herrichten..

Bild 1: Bei Dunkelheit lockt ein unwiderstehliches Licht die Schönheiten der Nacht zur Hütte..

Bild 2: Das herrliche Große Eichenkarmin („Dark Crimson Underwing“) Catocala sponsa aus dem Text. Das Streichholz war natürlich bereits vorher benutzt und nur eine Hilfe, um ganz vorsichtig unter die Vorderflügel zu linsen.

Bild 3: Die Schmalflügelige Strandroggeneule („Lyme Grass“) Longalatedes elymi. Auf Trischen ist sie noch häufig. Schleswig-Holstein trägt für diese Küstenart eine besondere Verantwortung.

Bild 4: Die Achateule („Angle Shades“) Phlogophora meticulosa können Sie auch im heimischen Garten finden.

Bild 5: Ein Mosaik aus grünen Steinchen: Der Graugrüne Apfelblütenspanner („Green pug“) Eupithecia rectangulata.

Bild 6: Die Strand-Erdeule („Sand Dart“) Agrotis ripae kommt in etlichen hübschen Variationen vor und ist in Deutschland durch Lebensraumverlust stark gefährdet.

Wind

Er zeichnet das Meer und die Salzwiese. Er trägt blaue Regenfahnen vom Meer auf die Insel und nimmt sie mit sich hinfort bis weit hinter den Horizont. Er hebt die Möwen in den Himmel, er lässt die Köpfe der Disteln auf den Kämmen der Dünen tanzen und drückt die Käfer tief in ihre Täler. Mit Sand malt er rätselhafte Bilder, die nur Sekunden bestehen. Er streichelt den Strandroggen mit sanfter Hand und schlägt mir mit harter Faust ins Gesicht. Der Wind ist allgegenwärtig. Ich lebe mit ihm wie mit der Präsenz eines unsichtbaren Wesens, das sich nicht entscheiden kann, ob es in Streit oder Frieden mit mir leben will.

Heute Morgen weckte er mich. Es fühlte sich an, als hätte eine eiserne Klaue die Pfähle der Hütte fest im Griff und würde nicht eher aufhören an ihnen zu zerren und zu stoßen, bis sie mich aus dem Bett geschüttelt hätte. Aber die Gewalt, die mich aus dem Schlaf trieb, war keine feste Hand. Es war bewegte Luft, eine körperlose Kraft, ein unendlich mächtiges Nichts.

Als visuellen Wesen fällt es uns schwer, die Wirkmacht einer Gewalt zu fassen, die nicht sichtbar ist. Es ist wie bei einem Zauberer im Märchen: Überall sieht man, was der Wind tut, nur ihn selbst, ihn sieht man nicht. Gerade jetzt weht der Wind hier stark, aber warm; seine Kraft wird gemildert durch den Sommer, der sich an seine Fahnen hängt. Aber in den stürmischen Märznächten kurz nach meiner Ankunft, wenn es nicht Wärme, sondern graupeliger Schnee war, den er mit sich führte, wanderten meine Gedanken beim Wachliegen und Lauschen zurück in graue Vorzeit mit ihrer Verehrung von Sturm- und Windgöttern, die mir plötzlich unglaublich verständlich, ja, natürlich, erschien.

Deren Herkunft spiegelt sich noch heute in ihren Namen wider. In Mittel- und Nordeuropa gibt es ja die Geschichten von Odin, Thor und Freya. Odin? Ein Sturmgott! Odin, Wotan, Woden sind Variationen seines Namens. Sprechen Sie sie einmal mit einem Hauch aus, so ähnlich wie bei „Wow“. Dann merkt man – diese Namen sind ein Kind des Windes, man hört ihn darin klingen. Auch die Eiderente trägt solch einen Namen, weil sie den Gewalten Aegirs (=Eiders), eines Meeresriesen, auf der kalten, grauen See trotzt. Von Thor = Donar = Donner ganz zu schweigen. Götter und Riesen sind Bilder für die Elementargewalten, die über Jahrtausende hinweg das Leben der Menschen geprägt haben.

Wenn ich dem Wind eine Gestalt geben müsste, wäre er ein bärtiger, verrückter expressionistischer Maler; so etwa nach dem Muster von Klingsor in der berühmten Erzählung von Hermann Hesse. Ich stelle ihn mir vor:

Unsichtbar steht er auf riesigen Beinen im Meer vor der Insel. Drum herum toben die Wellen. Für einen einzigen Moment kann ich ihn sehen. Seine beklecksten Leinenkleider flattern in der Luft. Unter dem düstren Schlapphut wächst ein krauser roter Bart hervor, die Augen funkeln zornig, wenn er mit Gewalt den Pinsel schwingt. Er malt die Salzwiese: Man sieht die Pinselstriche kräftig sich hindurchziehen: Schilfgrün, silbrig, hier ein gelber Fleck, dort ein blassila Streif. Er malt das Meer: Grau, Blau, Grün aus satt in Farbe getunktem Pinsel; in Wirbeln obenauf schaumblasig geschlagenes Weiß. Er malt die Vögel: Ein strahlendes Kreuz über den Wellen, das ist ein Basstölpel im wilden Flug. Was von den Borsten des Pinsels zufällig daneben sprenkelt, wird zu einem Schwarm Lachmöwen. Mit dröhnendem Lachen kleckst er einen anthrazitenen Fleck an den Strand; er hat sich einen Witz erlaubt, das ist der Vogelwart in seinem Wollpulli. Dann ist die Vision verschwunden. Fort mit dem Wind..

Und nun stehe ich vor einer Schwierigkeit: Wie kann ich Ihnen den Wind sichtbar machen? Ich tue mein Bestes, Ihnen mit Worten einen Schlüssel zur Insel Trischen in die Hand zu geben, aber ich möchte Ihnen auch ein schönes Bild, sozusagen als Wegweiser für die Fantasie, übermitteln. Den Wind kann ich nicht fotografieren. Oder doch? Meine Pfeife hilft mir.

Sehen Sie ihn? Im Rauch, in den Pflanzen, in den Wellen spielt der Wind in tausend Gestalten. Welche nimmt er für Sie an?

Mein Freund, der Rotschenkel

Langjährige Leserinnen und Leser des Trischenblogs kennen sie inzwischen genau so gut wie der Vogelwart. Man kommt schlichtweg nicht um sie herum – und das meine ich ganz wörtlich, denn seit ich im März den ersten Fuß auf die Treppe der Hütte gesetzt habe, haben mir die Trischener Rotschenkel deutlich gemacht, dass das hier ihr Reich ist: Morgens sitzen sie bereits vor Sonnenaufgang auf dem Geländer, mittags jagen sie sich in wild sausenden Gruppen um den Turm, in der Abenddämmerung schauen sie neugierig zum Fenster herein und beäugen kritisch meine Kochkünste. Alles (!) geschieht unter permanentem, lautem Flöten. Wenn es einen Kommentar der Natur zu meinem Leben hier gibt, dann lautet er: Tü-tü-tü-tü-tü-tü-tüüü!

Ich bilde mir aber ein, dass sich unser Verhältnis zueinander im Laufe der Zeit geändert hat. Anfangs konnte von Freundschaft natürlich keine Rede sein. Im Tü steckte vor allem Protest. „Was willst du hier? Hau ab! Und zu blöd, uns zu fangen, ist er auch noch!“ übersetzte ich im Geiste. Im Mai war vor liebestrunkenem Geflöte kein Halten mehr. Meine Übersetzung erspare ich Ihnen. Ich war völlig abgeschrieben. Doch inzwischen werde ich offensichtlich wieder interessanter.

Da gibt es einen Moment, der mich immer wieder tief berührt: Es ist der Moment, in dem mir bewusst wird, dass ich jetzt von einem Tier wahrgenommen werde. Ich meine damit nicht die Brandgänse, die hoch über mich hinwegfliegen und mich als kleinen Punkt unter vielen am Strand sehen. Und ich meine auch nicht die Mücke, mit der ich nachts einen Kampf um das Blut führe, das sie unter meiner Haut wittert. Ich meine den Moment, in dem man sich gegenseitig ins Auge schaut.

Diese Momente sind selten. Ich erinnere mich an einen Fuchs, der einmal plötzlich wie aus dem Boden gewachsen im Wald vor mir stand. Wie gebannt sahen wir uns vielleicht zehn Sekunden lang an. Dann drehte er sich um und rannte fort. Ich denke an eine Küstenseeschwalbe, die fast eine halbe Minute über mir in der Luft stand. Sie blickte herunter, mir direkt ins Gesicht. Ich blickte hoch. Ich konnte sehen, wie ihre Augen meinen Blick – nicht etwa meinen Körper – fixierten. Wir nahmen uns wahr. Zu spüren, wie sich im tierischen Gegenüber etwas tut, dass man in diesem so unendlich fremden und doch so nahen Bewusstsein in irgendeiner Form in gerade diesem Augenblick präsent ist, macht etwas mit einem. Ich kann es gar nicht so richtig beschreiben, aber ich glaube es hat damit zu tun, dass man sich seiner eigenen Kreatürlichkeit bewusst wird.

Die Rotschenkel liefern mir diesen Moment häufig. Fast jeden Morgen sehen wir uns an. Oft blinzeln wir uns auch zu. Das kurze Schließen der Augen signalisiert: Ich bin nicht zu 100% aufmerksam. Ich will dich nicht fangen und weiß, dass auch du mich nicht fangen willst. Es ist erstaunlich, aber es klappt wirklich. Sie kennen den Effekt vielleicht von Ihrem Hund oder Ihrer Katze. Und der Rotschenkel bleibt sitzen, wenn ich die Treppe hinab gehe.

Was spielt sich da ab? Keine Frage, der Vogel denkt nicht wie ich. Zwar teilen wir bestimmte Formen der Wahrnehmung, aber schon da tun sich Unterschiede auf: Mein Sehvermögen ist viel geringer und mein Abstraktionsvermögen viel ausgeprägter als seines. Und weiß ich auch nur, ob er überhaupt in so etwas wie Begriffen denkt? Habe ich die geringste Ahnung davon, welches Bild er in seinem Köpfchen von mir hat und was er empfindet, wenn sein Gehirn es erzeugt? Ich weiß es nicht. Und hier wird es interessant. Denn streng genommen weiß ich das bei einem menschlichen Gegenüber ja auch nicht. Natürlich können wir darüber reden, wie wir Dinge oder uns gegenseitig wahrnehmen. Aber, um einen ganz einfachen erkenntnistheoretischen Kniff zu nutzen: Ob wir wirklich das Gleiche meinen, wenn wir von „Blau“ oder „Schmerz“ oder gar so komplizierten Begriffen wie „Liebe“ sprechen, können wir niemals wissen, sondern allenfalls hoffen. Und doch fühlen wir uns ja häufig verstanden, oder, im Falle des Rotschenkels und mir, zumindest wahrgenommen. Er ist ein kleiner Spiegel, der mir bestätigt: Du bist da.

Es gibt eine kleine Geschichte, die noch einen neuen Twist in die Angelegenheit bringt. Sie stammt von einem klugen Mann namens Zhuangzhi und ist ungefähr 2400 Jahre alt. Da ich meine Bücher gerade nicht dabei habe, versuche ich sie aus dem Gedächtnis aufzuschreiben:

„Zhuangzhi geht mit einem Freund über eine Brücke. Im sonnendurchfluteten Wasser tummeln sich die Fische. Er sagt: „Schau, wie fröhlich sie spielen, die Fische!“ Sein Freund entgegnet: „Woher willst du denn wissen, dass sie fröhlich sind? Du bist doch gar kein Fisch!“ Darauf Zhuangzhi: „Woher willst du denn wissen, dass ich es nicht weiß? Du bist doch gar nicht ich!“

Da kann man lange drüber nachdenken. Am Ende steht wohl der Gedanke, dass wir uns niemals wirklich sicher sein können, dass wir von anderen verstanden werden. Wir können aber ebenso wenig mit Sicherheit sagen, dass wir nicht verstanden werden. Und darin liegt die Hoffnung.

Was also mag der Rotschenkel über mich denken? Ich weiß es nicht. Ich blinzel ihm einfach zu. Der Rotschenkel blinzelt zurück.

 

Requiem für einen Kühlschrank

Man kann den Menschen sehr technisch betrachten: Bei einer Temperatur von etwa 37°C, einem Blut-pH-Wert um 7.4 (das ist der Wert für den Säure-Basen-Haushalt) und einem bestimmten Gehalt verschiedener Salze darin läuft der Betrieb optimal. Das sind sozusagen die Werkseinstellungen. Ihre Grenzen sind, anders als bei einigen Pflanzen und Tieren, recht eng bemessen. Besonders wir Säugetiere sind da empfindlich. Verrutscht der pH-Wert um wenige Punkte hinter dem Komma, hat das Blut nur ein paar Grad mehr oder weniger – schon ist das schöne Leben ist dahin.

Und obwohl wir uns bei Frost nicht einfach in Winterstarre begeben können (Amphibien, Insekten) oder wochenlang von nichts leben als dem Tau, der sich auf unserer Haut sammelt (einige Wüstenkäfer), obwohl wir längst keinen schützenden dicken Pelz mehr tragen, haben wir doch den gesamten Erdball besiedelt. Wie konnte das passieren? Das Gehirn macht’s möglich. Denn das lässt uns Dinge erfinden wie: Kleidung, Zisternen, Pumpen, Dächer, Heizungen und – Kühlschränke! Ich habe meinen hier auf der Insel sehr geliebt. Zwanzig Jahre lang hat er unermüdlich seinen Dienst getan. Letzte Woche hat er sein Leben ausgehaucht.

Unter dem Gefrierfach hatte sich seit längerem ein dicker Eispanzer gebildet. Zuletzt konnte ich kaum noch etwas ins obere Fach legen. Allein, das Abtauen war von einem unguten Zischen begleitet. Das schmelzende Eis gab schließlich den Blick auf ein kleines Leck frei, durch das Kühlgas austrat. Da half alle verzweifelte Erste Hilfe nichts, kein Panzerband, kein Sekundenkleber – mein schöner Kühlschrank lag in seinen letzten, schnaufenden Zügen.

Er war wirklich ein Unikum. Die Herstellerfirma gibt es nicht mehr. Das einzige Modell, das räumlich passt und mit der Solaranlage kompatibel ist, hat eine unbestimmte Lieferzeit im Rahmen mehrerer Wochen. Na schön, es wird auch ohne gehen. Schließlich ist die Menschheit einen Großteil ihrer Geschichte ohne diesen Luxus ausgekommen. Ein findiger Freund rät mir zum Bau eines Mini-Kühlschrankes, der sich einfache Physik zunutze macht: Kleiner Topf in großen Topf, dazwischen Sand. Befeuchtet man den Sand, kühlt die Verdunstungskälte das Innere des kleinen Topfes. Funktioniert! Bietet aber kaum Raum – eine Grube muss her. Unter der Hütte ist den ganzen Tag Schatten.

Mit der nächsten Post kommt eine Kühlbox an, die ich an die Steckdose anschließen kann. Die brummt zwar laut, macht das Leben aber leichter. Als es nachts plötzlich energisch piept und das Brummen schlagartig verstummt, bin ich hellwach. Verdammt! Schnell das Licht angeknipst – kein Licht. Der Strom ist weg. In der Hitze der Nacht wälze ich panisch den Gedanken, dass mir die Box womöglich die gesamte Verstromung zerschossen hat. Auch mein Handyakku ist nahezu leer – ich stolpere hinaus und knipse die Powerbank von der Lichtfalle zum Nachtfalterfang ab; es gilt alle Reserven sinnvoll zu nutzen. Schließlich will ich notfalls wenigstens noch Bescheid geben oder mir ein faltbares Solarmodul bestellen können…

Morgens habe ich wieder Strom, das Modul ist in Ordnung. Aber ein paar ungute Gedanken aus der Nacht bleiben. Ein kleiner Ausfall der Technik, und schon lebt es sich wie im Mittelalter. Gewiss, man kann sich helfen. Abgesehen davon lebe ich zumindest hier auf der Insel ja in Sachen Strom schon autark, das ist ein gutes Gefühl. Aber der kleine Vorfall demonstriert doch anschaulich unsere Abhängigkeit von der Energieversorgung. Es ist verzwickt: Gerade die Fähigkeit, unsere „Betriebstemperatur“ mittels Technik innerhalb der nächsten Umgebung zu gewährleisten, lässt das Klima im Ganzen immer schneller in lebensfeindliche Temperaturen kippen. Während Dürren, Hunger, Waldbrände und Korallensterben den Planeten heimsuchen, während wir wie nie zuvor vor Augen geführt bekommen, dass unsere Abhängigkeit von fossilen Energieträgern Unrechtsregimes in die Hände spielt, legitimieren die USA erneut eine klimafeindliche Politik, die G7 stimmen fröhlich ein und in Deutschland baut man eine Autobahn durch klimaschützende Moorgebiete. Und jetzt bin ich nicht mehr wütend, weil mein Kühlschrank kaputt ist, sondern weil ich im Jahr 2022, nachdem man seit Jahrzehnten weiß, wohin die Reise geht, noch solche Sätze schreiben muss.

Lieber, kleiner Waeco-Kühlschrank, du hast mir gezeigt, wie wertvoll Energie ist. Ich werde dich vermissen.

Oben: Der Alte. Mitte: Der Neue. Die Pappwände lasse ich stehen, damit keine Tiere hineinfallen. Unten: Der Hausrotschwanz fand die Baustelle ausgesprochen interessant. Beim Buddeln sind ein paar Schlickkrebse für ihn mit abgefallen.

Ich zôch mir einen valken

Trischen versinkt im Regen. Das erste schwere Sommergewitter hängt über der Insel. Dicke Tropfen tränken die durstige Salzwiese. Ich habe den Stecker des Laptops herausgezogen und sitze bei einer Kerze an der offenen Tür. Manchmal wallt eine Brise herein, lässt die Kerze flackern und trägt das nimmermüde Flöten der Rotschenkel herein. Wie ein mittelalterlicher Herold vollbringt ein kleiner Admiral das Kunststück, seine bunten Farben vor den dunklen Wolken durch den Regen zu führen. Eine schöne Stimmung. Ich finde, es ist Zeit für eine Geschichte. Machen Sie es sich gemütlich!

Es war noch früh im März, als ich morgens an der Südspitze der Insel stand. Ich lief auf knirschenden weißen Muschelbänken, die der gerade vergangene Winter zurückgelassen hatte. Darüber spannte sich kühl ein unendlich weiter, blauer Himmel. Plötzlich hörte ich ein schrilles Keckern: Wanderfalken! Ein balzendes Paar! Ich konnte kaum den Blick wenden, so schnell waren sie vorbei. Vorweg sauste – mit Beute in den Fängen! – ein großes Weibchen, und hinterdrein schoss in rasender Fahrt das kleinere Männchen. Meine Blicke folgten ihnen lange. Erst ganz am Ende der Insel verlor ich sie aus den Augen. Ich war glückselig. Ein Weibchen? Ich wagte kaum zu hoffen: Vergangenes Jahr war das langjährige Brutweibchen auf Trischen im stolzen Alter von sechzehn Jahren gestorben. Vor einigen Jahren hatte ich selbst einmal eines ihrer Küken beringt. Wie die meisten Greifvögel leben Wanderfalken monogam. Da sie alt werden, lohnt es sich für die Partner, sich aufeinander einzustellen. Das Ergebnis ist ein höherer Bruterfolg. Sollte der Witwer etwa…?

Falken faszinieren den Menschen schon seit sehr langer Zeit. Vom Orient über das mittelalterliche Europa bis hin zu den Mythen der Inuit tauchen sie immer wieder auf. Der Staufferkaiser Friedrich II war ebenfalls Fan und schrieb sogar eines der ersten ornithologischen Werke überhaupt (De arte venandi com avibus – Über die Kunst, mit Vögeln zu jagen), und viele Jahre später versuchte der kleine Till in immer neuen Versuchen, einen Wanderfalken zu malen, der nie so ganz gelang wie er in echt aussah. Damals hatte ich nie darauf gehofft, jemals wirklich einen zu sehen; in meinen Kinderbüchern galt er als nahezu ausgestorben. Pestizide waren schuld. DDT sammelte sich am Ende der Nahrungskette – also im Falken – und machte die Eierschalen brüchig. Die Eltern brüteten ihren Nachwuchs tot.

Und nun waren sie da. In den nächsten Wochen sah ich die beiden jeden Tag in der Morgendämmerung auf dem Nordturm sitzen. Oft kröpften sie frische Beute. Das ging so bis Anfang April. Und meine Freude wuchs, als ich irgendwann nur noch das Männchen sah. Ich ging inzwischen davon aus, dass das Weibchen sich zum Brüten niedergelassen hatte. Als ich den Terzel (so heißt das Männchen, es ist ein „Terzel“ = Drittel, kleiner als das Weibchen) auch nicht mehr sah, war ich zunächst nicht beunruhigt. Irgendwann aber sah ich gar keinen der beiden mehr. Im Rahmen der Brutvogelkartierung musste ich das fragliche Gebiet schließlich zweimal begehen. Wanderfalken warnen laut und aggressiv, wenn man ihr Revier betritt. Es passierte – nichts. In großer Höhe flog zwar der Terzel vorüber, aber er wirkte irgendwie sehr verloren. Ich sah ihn schließlich noch einmal am siebten Mai. Er flog am Strand durch den Regen gen Festland.

Kennen Sie das, wenn man eine lang gehegte Hoffnung aufgeben muss? Man hat sich in den schönsten Farben etwas ausgemalt, vielleicht sogar mit viel Mühe an etwas gearbeitet, und langsam sickert die Erkenntnis durch, dass es nichts wird. Dass der Traum zerfällt. Das scheint besonders oft der Fall zu sein, wenn man etwas zu sehr haben will. Lass die Dinge los, heißt es ja oft. Und es gibt da ein kleines, sehr altes Lied, das dieses immer wiederkehrende Motiv besingt. Es heißt: Ich zog mir einen Falken. Ja, genau. Es geht so:

Ich zog mir einen Falken, länger als ein Jahr.

Als ich ihn gezähmt hatte, wie ich ihn haben wollte,

und ich sein Gefieder mit Goldfäden schön umwunden hatte,

hob er sich in die Höhe und flog in fremde Reviere.

Das Lied stammt aus dem 12. Jahrhundert und ist in Mittelhochdeutsch verfasst, der Autor ist als „Der von Kürenberg“ bekannt. Sicher hat er beim Verfassen des Liedes nicht wirklich an einen Falken gedacht. Aber irgendwie spiegelten die Verse dieses fernen Menschen aus dem Mittelalter, in denen der Falke nur Symbol ist, das, was ich hier mit meinen echten Falken erlebte  – ich hatte es so sehr gewünscht, und mir die Hoffnung so zurechtgezähmt, bis die Vorstellung auf meinen Wunsch passte – aber ich hatte es wohl zu sehr gewollt. Mein Falke war entflogen.

Ich weiß nicht, ob Der von Kürenberg am Ende noch glücklich geworden ist. Ich weiß aber, dass sein Lied dann doch etwas zaghaft hoffend mit einer Bitte endet:

Gott sende sie zusammen, die einander lieb sein wollen.

Und ich weiß, dass vor ein paar Tagen in den Dünen völlig unerwartet und wirklich ziemlich spät im Jahr ganz still ein Vogel vor mir aufflog. Es war ein Wanderfalkenweibchen. Und für mich hieß es einmal mehr den Rückzug antreten. Denn es saß auf zwei wunderschönen Eiern.