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Der Hochzeitsfluch der Ameisen

Sind wirklich so viele Fans der Royals unter den Leserinnen und Lesern des Trischen-Blogs? Sie stutzen vielleicht, aber die website-Statistik verrät mir, dass der mit Abstand beliebteste Eintrag fast jeden Tag „Hochzeitsflug der Ameisen“ heißt. Das alljährliche Schwärmen der Königinnen und ihrer zahlreichen Gemahlen generiert jedenfalls jede Menge Klicks. Vielleicht liegt es daran, dass sich zwei Einträge unter gleichem Namen summieren – sowohl Tore als auch Anne haben schon sehr schön über das alljährliche Ereignis geschrieben -, vielleicht aber auch daran, dass es im Internet verhältnismäßig wenig Informationen über das Phänomen gibt. Wer immer im Hochsommer unter hunderten geflügelten Ameisen plötzlich auch ein großes Fragezeichen im Gesicht stehen hat, landet offensichtlich beim Trischen-Blog.

Sei’s drum, da auch meine bescheidene Residenz heute Schauplatz des royalen Großereignisses war, wollen wir der Königin die Ehre erweisen. Aber bevor ich zum literarischen Kratzfuß ansetze noch einmal in aller Kürze: Worum geht es hier nochmal?

Bei Ameisen schreiten nur die Männchen und eine exklusive Auswahl an Weibchen, eben die Königinnen, zur Paarung. Die Arbeiterinnern, also jene Ameisen, die einem in den allermeisten Fällen über den Weg krabbeln, haben zwar kein Recht auf Sex, aber dafür auf lebenslange Arbeit. Sie sind von der Hochzeit also ausgeladen. Königinnen und Männchen tragen als Zeichen ihres Adels Flügel, mit denen sie sich in die Luft schwingen um sich dort zu paaren. Das geschieht synchron bei windstillem, heißen Wetter und sorgt für genetischen Austausch zwischen weit voneinander entfernt liegenden Populationen. Während die befruchteten Königinnen anschließend neue Kolonien gründen können (mit befruchteten Eiern, die zu Männchen und Königinnen, und unbefruchteten, die zu Arbeiterinnen werden), haben die Herren der Ameisenschöpfung nach der Paarung ihr Recht auf Leben verwirkt und müssen sterben. Alles ist eitel.

Aber nun! Wie war die Massenhochzeit der Königinnen? Das Fest begann bereits am früh Morgen, und kaum strahlte das Dach der Hütte etwas Wärme zurück, war der Andrang riesig. Innerhalb zweier Stunden stand über dem First eine schwirrende Wolke aus Abertausenden tanzender Ameisen, die in einer für menschliche Augen vollkommen unkoordinierten Wirrsal versuchten, der Bestimmung allen Lebens nachzugehen. Man hat kaum den Gedanken „Ameise“; die einzelnen Tiere sind als solche kaum zu identifizieren. Es wirkt eher, als würde plötzlich durch eine magische Brille der wilde Tanz der Atome sichtbar werden. So viele Tiere! Jedes einzelne unendlich fragil, mit hauchzarten, gläsernen Flügelchen, haarfeinen Fühlern und vielgliedrigen Beinen, jedes für sich ein vollendetes Wesen, das in seiner Winzigkeit mit allem ausgestattet ist, was es braucht. Hunderttausende dieser kleinen Wunder ziehen wie Rauchschwaden über die Insel, stehen als zitternde Schattenpünktchen in heißer Luft, sausen sonnenbeleuchtet umher wie weiß glühende Lichtsplitter. Hunderttausende verbrauchen sich in einem einzigen großen Fest, steigen hoch auf, erschöpfen sich, fallen schließlich wie ein Regen schwindenden Lebens vom Himmel und sind schon morgen nichts mehr als die Erinnerung eines schreibenden Mannes auf einer einsamen Insel. Der kleine quietschgelbe Fitis, der sich heute die Veranda mit mir teilt, sieht das prosaischer: Er schlägt sich den Wanst voll, für ihn regnet es sozusagen Pommes.

Ich bin einmal mehr beeindruckt davon, wie viel Leben da draußen ist. Denn das, was ich heute gesehen habe ist ja nur ein Tag auf einer Insel irgendwo im Wattenmeer. Für wie viele Wesen hat sich hier heute ihr Leben vollendet? Die menschliche Sprache hat für diese Großereignisse der Natur immer schnell den Begriff der „Verschwendung“ parat. Und der Gedanke mag wirklich aufkommen, schließlich paart sich nur ein Bruchteil der Männchen. Aber genau das ist eben das Prinzip Ameise. Nur der unsagbar produktive Ausstoß möglichst vieler Individuen garantiert den Erhalt der Art. Das geht auch anders: Wale zum Beispiel verfolgen sichtlich ein ganz anderes Konzept und sind damit (wenn der Mensch sie nicht daran hindert) ebenso erfolgreich.

Darüber zu spekulieren, was Natur denn nun eigentlich „will“, also beispielsweise den Erhalt möglichst vieler Individuen oder einer größtmöglichen Anzahl von Arten, ist müßig. Natur ist kein denkendes Subjekt. Es ist unser menschlicher Blick, der diese Schablonen nutzt, um sich dem rätselhaften Phänomen „Leben“ zu nähern. Wir fragen eben gerne, welcher Zweck verfolgt wird, und welche Mittel dazu eingesetzt werden. Aber diese Art zu Denken stammt aus unserer eigenen kleinen Menschen-Lebenswelt. Sie ist nur relevant für uns Menschen. „Das Leben“ fragt sich nicht, warum es da ist – und wenn doch, dann eben nur durch einen seiner allerwinzigsten Bruchteile: Uns.

Zurück zum Fest. Da ich dies schreibe, rieseln noch immer sterbende Ameisen-Galane auf meine Tastatur. Bekanntermaßen bekommt ja auch nicht allen Menschen die Ehe (angeblich verlängert sie das Leben von Männern und verkürzt das von Frauen), für den Ameisenmann aber bedeutet sie den sicheren Tod. Die Liebe ist sein Fluch, sein Leben im Rausch eines Sommertages verblüht. Aber irgendwo draußen im Dunkeln krabbelt es doch noch: Es sind die Ameisenköniginnen, die das Treiben überstanden haben und in ihren kleinen Körpern das Leben ins nächste Jahr tragen werden.

Und deshalb schließe ich heute ausnahmsweise einmal anders, nämlich mit

God save the Queen!

 

Der Greif

Es gibt Naturphänomene, die selbst den zivilisiertesten Menschen nicht kalt lassen: Das kann ein Sonnenaufgang über dem Meer sein, ein rauschender Wasserfall oder ein schweres Sommergewitter.  Neben der Begegnung mit der unbelebten Natur ist es aber sicherlich jene mit dem wilden Tier, die am intensivsten, nachhaltigsten und psychologisch am interessantesten ist.

Unter den Tieren wiederum gibt es solche, die eher unter dem Radar laufen und solche, die mit fast jedem „etwas machen“. Ein farbloser, winziger Schmetterling, der nur einen wissenschaftlichen Namen trägt, mag mir ein seliges Lächeln ins Gesicht zaubern; ich erwarte aber nicht, dass das jeder nachvollziehen kann. Ganz anders verhält es sich mit dem Seeadler. Ich möchte anhand seines Beispiels ausloten, was eigentlich passiert, wenn uns das Wilde begegnet.

Vorab müssen Sie wissen, dass Seeadler um die vorletzte Jahrhundertwende in Europa vor allem durch das Sammeln von Eiern und aktive Bejagung ausgerottet waren. Einem zeitweiligen Anstieg der Population folgte in den späten 60er- und 70er Jahren dann der fast komplette Einbruch des Bestands. Schuld war das Insektizid DDT, das sich am Ende der Nahrungskette, also auch in Greifvögeln, anreicherte und die Kalkbildung der Eierschalen störte. Es kam fast kein Jungvogel mehr durch. Umfangreiche Schutzmaßnahmen unter Einsatz vieler Helferinnen und Helfer und ein DDT-Verbot retteten die Art schließlich haarscharf, bevor es zu spät war. Ich finde, das ist eine großartige Erfolgsgeschichte des Naturschutzes, die zeigt, dass wir mit vereinten Kräften wirklich etwas schaffen können. Und sie ermöglicht Begegnungen wie diese:

Es ist Ende März auf Trischen. Der Himmel ist eisgrau. Noch vor wenigen Tagen wehte Schnee in dichten, nassen Fahnen vom Himmel. Jetzt liegen die Sandbänke im Wasser, als müssten sie sich vom Herumwandern unter der Gewalt der Winterfluten ausruhen. Dick eingepackt in meinen Mantel stehe ich auf dem Geländer der Hütte und spähe angestrengt durchs Fernglas, denn draußen auf einer der Bänke sitzen vier junge Seeadler, deren genaues Alter ich zu bestimmen versuche. „Jung“ heißt in diesem Fall nicht älter als fünf Jahre und noch nicht geschlechtsreif. Die Tiere vagabundieren, oft in lockeren Trupps, durch die Lande, gekleidet in ein Gefieder, das dem der Alttiere von Jahr zu Jahr ähnlicher wird. Die vier Gesellen hier sind noch stracciatellafarben; dunkle, schokoladenbraune Federn wechseln sich mit cremefarbenen ab; insgesamt wirken sie etwas unfertig. Aber das kommt noch. Als ich die Beobachtung notiere, schreckt mich das tiefe „Hrott, hrott“ der Ringelgänse auf – ein Blick durchs Fernglas – die Sandbank ist leer. Ein Blick in den Himmel: Vier fliegende Teppiche setzen zum Sturzflug an. Seeadler wirken mit bis zu 2.40 Meter Spannweite (schreiten Sie das mal ab!) von weitem oft etwas schwerfällig, aber als sie nun zum Angriff auf die Ringelgänse ansetzen, käme einem kein Begriff weniger in den Sinn. Während der Schwarm unter lautem Rufen das Weite sucht, jagen die vier Jungadler nun im Verbund eine Ringelgans, die das Tempo nicht halten kann: Neben ihrem panischen Flügelschwirren sehe ich den nächsten Verfolger die Luft mit seinen riesigen Schwingen geradezu schaufeln, jeder Flügelschlag hebelt ihn mehrere Meter näher an seine Beute heran; die ganze Szene scheint nichts als eine Illustration der Natur zum Thema „Tempo“. Es fehlt nur das wilde Getrommel, das solchen Szenen in Naturdokumentationen unterlegt wird. Aber das alles passiert lautlos. Keiner der Vögel ruft jetzt noch. Nur der Wind braust langsam stärker auf. Schließlich landet die erschöpfte Gans im Wasser. Alle paar Sekunden stößt einer der Seeadler nieder und zwingt sie zum Untertauchen. Und dann – lassen die Seeadler von ihr ab. Ich weiß bis heute nicht, was sie dazu bewegte. Sie setzten sich zurück auf die Sandbank und putzten sich in trauter Viersamkeit, während die Ringelgans sich flach aufs Wasser gedrückt trollte, als hätte sie etwas ausgefressen.

Was für ein Naturschauspiel! Ein Eindruck allenfalls weniger Minuten. Aber vergessen werde ich es niemals. Neben der Aufregung, die sich von tausenden panischen Vögeln und der Anspannung der jagenden Adler durch die vibrierende Luft auf den Beobachter übertrug, sind es seltsam widerstreitende Gefühle, die mich bewegten: Man ist hin und hergerissen zwischen der Hoffnung für die Ringelgans, zu entkommen und der für die Adler, Beute zu machen. Diese menschliche Verteilung von Sympathien ist ökologisch natürlich sinnlos, aber sie bleibt eben nicht aus, wenn Menschen Natur betrachten.

Vor einigen Tagen haben Axel Rohwedder und ich eine Kontrollfahrt mit der Luise gemacht. Als wir zurückkamen, saß an der Südspitze der Insel wie in Stein gemeißelt ein Seeadler. Seine neugierigen dunklen Augen verrieten, dass auch er noch nicht ganz ausgewachsen war (dann wären sie  heller) – aber das tat der Majestät der Erscheinung keinen Abbruch. Noch kein König, aber ein Thronfolger, den die riesigen Federn bedeckten wir Schuppen einen Märchendrachen. Und tatsächlich wirkte der Vogel fast wie ein Wesen aus der Fantasie, ein Greif, ein Wächter der Insel.

Ich glaube das ist es, was die Begegnung mit dem Wilden mit uns macht: Sie befeuert die Fantasie. Sie trägt uns heraus aus dem Raum, den wir als „natürlich“ empfinden – unsere menschengemachte Umgebung – und spannt uns ein in eine Welt, in der wir nicht das Zentrum sind, in der Ungeheuerliches, Unbekanntes, Wundersames, Nie-Gesehenes wartet, manchmal Schwer-zu Ertragendes, manchmal ein Erlebnis, das sich mit seiner Schönheit für alle Zeit in unsere Träume und Gedanken hineinmalt. Mit dem Schwinden der Wildnis schwindet also auch noch etwas anderes. Ist der Seeadler nicht ein fantastisches Symbol dafür, dass es so weit nicht kommen muss?

Bild 1: Der Greif von Trischen.

Bild 2: Diese Seeadlerfeder habe ich am Strand gefunden. Sie ist länger als mein Unterarm.

Über Einmaligkeit

Bestimmte Naturerlebnisse sind nur an einem einzigen Punkt auf der gesamten Erde möglich. Ich meine damit nicht einen Ort in der Größenordnung von Ländern oder gar Kontinenten, sondern wirklich ein Fleckchen, sagen wir, nicht größer als Trischen.

Zum Beispiel gibt es inmitten der blauen Weiten des Pazifiks einen Unterwasserberg, an dem sich täglich hunderte Fuchshaie einfinden, um sich von Putzerfischen säubern zu lassen. Es muss dieser Berg sein, die Haie sind nur da. Zumindest wurde das Verhalten bei dieser Art noch nirgendwo anders beobachtet. Wer dieses Schauspiel erleben will, kann nicht an einem anderen Ort auf sie warten. Oder: Die Schmuckseeschwalbe brütet mit nahezu ihrem gesamten Artbestand in einer einzigen großen Kolonie auf der Isla Rasa im Golf von Kalifornien. 25.000 Vogelpaare auf 50.000 Eiern – und zwar nur hier. Es gibt nur ganz wenige weitere, wesentlich kleinere Kolonien. So etwas liest sich beeindruckend – aber eben auch exotisch. Die Superlative dieser Welt scheinen immer weit entfernt, das Ungewöhnliche liegt per definitionem nicht vor der eigenen Haustür. Oder? Wenn Ihnen noch mehr Beispiele einfallen, schreiben Sie mir gerne, eigentlich wäre das eine schöne Idee für ein Buch. Wenn ich diese Reihe fortführen muss, lande ich aber doch bald auf einer kleinen Insel in der Nordsee. Wissen Sie schon, worauf ich hinaus will?

Ab Mitte Juli sammelt sich auf Trischen der Gesamtbestand der mitteleuropäischen Brandgänse zur Mauser. Das gibt es nur hier. Es ist das ornithologische Alleinstellungsmerkmal dieser Insel und ein echtes Superlativ, direkt vor den Toren der Elbe. Seit einigen Tagen finde ich nun im Spülsaum Abertausende Federn: Die Schhönsten schimmern dunkelgrün, wie glimmernde Olivine. Andere bilden einen hübschen Kontrast zwischen Wolkenweiß und einem warmen, bronzebraunen Farbton. Ich habe sie schon hunderte Male aufgelesen und betrachtet, aber ich kann nicht umhin, es wieder und wieder zu tun. Von den Brandgänsen selbst sehe ich indes gar nicht so viel, sie sind nun für einige Wochen flugunfähig und verteilen sich in den Buchten rund um die Insel. Da meistens ein frischer Wind weht, verschwinden viele von ihnen in den Wellentälern. Ich war anfangs ehrlich gesagt gar nicht so beeindruckt. Aber das änderte sich vergangenen Sonntag.

Ich war am späten Nachmittag in der Wärme auf der Veranda eingenickt. Als ich aufwachte, stand die Sonne schon tief, und mit ihrem Sinken lief das Wasser auf: Es sah aus, als würde der ins Meer sinkende Himmelskörper das Nordseebecken ganz langsam zum Überschwappen bringen. Kein Lufthauch ging, die Flut schien wie ein flüssiger Spiegel direkt aus dem Himmel zu fließen. Die Horizontlinie war von einem namenlosen Nichts verschluckt. Und dieses raumlose Etwas kroch nun langsam über die vorgelagerten Sandbänke. Plötzlich schwebten darauf Brandgänse. Tausende. Sie hatten hinter der Sandbank gesessen, ich hatte sie nicht sehen können. Aber nun hob das Wasser sie empor. Es war ein surrealer Anblick: Als würden plötzlich Vogelgeister aus dem Boden steigen, die mir in einer feierlichen Prozession auf dem spiegelblank auflaufenden Wasser entgegen schwebten. Während die Brandgänse sich selbst kaum bewegten und nur von der Flut getragen wurden, wurde der gespenstische Eindruck noch verstärkt durch ein paar Hundert Eiderenten, die mit einer dunklen Schleppe Wassers, wie mit einem Mantel, unendlich langsam quer zum Strand schwammen. Ich war völlig gebannt. An solchen ruhigen Abenden geben normalerweise die Watvögel ihr Konzert, aber wenn ich daran zurückdenke, erinnere ich mich an nichts als das leise Ticken meiner Armbanduhr.

Das war mein Brandgansmausererlebnis. Es war für mich, im Wortsinn, einmalig. Ich werde das so nie wieder erleben, denn das gibt es nur hier. Ich bin sehr, sehr dankbar für diese zwei Stunden an einem Juliabend auf der Insel Trischen in der Nordsee. Und natürlich: Die Haiberge, Megakolonien und Vogelsammelplätze dieser Welt sind so verletzlich wie besonders. Geht dort etwas schief, steht es schlecht um die betroffenen Arten. Diese Orte verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit. Andererseits: Wenn ich an prägende Naturerlebnisse denke, dann sind es nicht nur die exklusiven Orte und Arten, die mir im Gedächtnis geblieben sind: Nächtliches Erwachen von den Rufen ziehender Pfeifenten, mitten in Hamburg. Der Buntspecht, der an einer Dachrinne meines Labors am UKE ein Heavy-Metal-Trommelsolo gab. Ein Nashornkäfer bei einem etwas bierseligen Sommerspaziergang in Hannover Linden. Auch diese Erlebnisse waren, im Wortsinn, einmalig. Neue warten, aber genau so wird mir kein einziger Moment mehr geschehen, den ich schon durchlebt habe.

Und wer weiß? Vielleicht erzähle ich Ihnen beim nächsten Mal schon wieder vom bescheidenen Wiesenpieper, vom flüsternden Strandroggen, aus dem fremden Leben eines Schlickkrebses oder von der ersten Amsel, die ein ganz zarter Hauch von Herbst zu mir auf die Insel weht. Natur ist überall. Sie verdient einen Platz auch in unserem Alltag. Schauen wir hin! Und vor allem: Erzählen wir uns davon!

 

Besuch von den Schönen der Nacht

Nein, nicht, was Sie womöglich denken. Die einzige Menschenseele auf der Insel bin nach wie vor ich. Und mir ist beim abendlichen Strandspaziergang auch keine Nixe begegnet. Aber Besuch bekomme ich doch allnächtlich. Und wenn der Tanz der Formen und Farben beginnt, steht meine Veranda keinem Parkett eines ehrwürdigen Ballsaals nach.

Das Fest tobt am wildesten, wenn die Nacht sehr dunkel und drückend warm ist. Abende, an denen die schlummernde Salzwiese noch lange nach Sonnenuntergang die Hitze des Tages in schweren Wellen ausatmet, wenn der Mond tief in den Schatten der Wolken versinkt und das Dunkel so dick ist, dass man beim Gehen einen Widerstand fühlt – dann zünde ich die Laternen für den Ball der Schmetterlinge an.

Und sie kommen. Von überall her. Sie tragen ihre schönsten, buntesten und ausgefallensten Kleider. Schmetterlinge leben selbst hier draußen im Wattenmeer. Zu den Bewohnern der Insel gesellen sich zahlreiche Gäste auf der Durchreise. Meine Einladung an sie besteht aus einer starken UV-Lampe, die Licht in besonders verlockenden Farben ausstrahlt, die für Menschen allerdings zum Teil gar nicht sichtbar sind. Kurz bevor das letzte Licht des Tages erlischt, hänge ich sie an eine Wand der Hütte. Und damit nicht nur mit Ausstattung geprunkt wird, stelle ich auch etwas auf den Tisch: In einer Flasche habe ich altes Obst, Multivitaminsaft, Dunkelbier und einen Schuss Rum gemischt und gären lassen. Diese wird nun geöffnet und verströmt ihren süßlich-klebrigen Duft in die Nacht. Manche Gäste bezaubert eher das Funkeln des Lichts, andere kommen nur wegen des Alkohols – viele mögen beides. Wer kennt es nicht? Warum aber das Licht die Nachtfalter eigentlich anzieht, ist nach wie vor nicht restlos geklärt.

Eigentlich ist unter der Lampe ein Trichter aus Gaze angebracht, in den die Nachtfalter fallen, wenn sie anfliegen. Am nächsten Morgen kann ich sie in Ruhe bestimmen, zählen und schließlich unversehrt wieder freilassen. Oft kann ich aber gar nicht anders, als noch nachts um die Hütte zu tigern und meine Gäste zu bewundern. Man sieht den Gastgeber dann mit vergessener Zahnbürste im Mund auf der Hüttenveranda staunend die größte Schönheit der Nacht küren.

Nachtfaltern, die genau wie Kohlweißling und Admiral zu den Schmetterlingen gehören, haftet immer noch der etwas altbackene Ruf der „Motte“ an. Bis auf die unscheinbare Kleidermotte (die mir hier übrigens noch nicht begegnet ist) ernähren sie sich allerdings fast ausschließlich von Nektar oder in vielen Fällen – gar nicht. Einige Arten haben nicht einmal mehr einen Rüssel zur Nahrungsaufnahme, sie leben nur noch der Liebe wegen und sterben, wenn die Herzensangelegenheiten erledigt sind. Viele entwickeln betörend schöne Muster, die in Tönen von zartestem, silbrigem Weiß über rötlich changierende Braun- und Beigetöne in allen denkbaren Abstufungen bis hin zum düsteren Schwarz einer Neumondnacht reichen. Das Spektrum der Farben entspricht in etwa denen, die Marmor annehmen kann. Und betrachtet man die Muster unter einer Lupe, erhält man den Eindruck, dass irgendwann im Laufe der Evolution Halluzinogene im Spiel gewesen sein müssen: Die Architektur der Flügelzeichnung entwickelt die verspieltesten Symmetrien aus Augen, Netzen, Lianen, Kreisen und anderen geometrischen Figuren. Jede Art stellt ein nur ihr eigenes Muster zur Schau. Manchmal überraschen auch die Nachtfalter mit einer Farbexplosion. Gestern Nacht haben sich zwei Große Eichenkarmine die Ehre gegeben. Wenn diese beeindruckend großen Falter auffliegen, offenbaren sie unter ihrem fein ziselierten braunen Kleid einen leuchtend roten Unterrock mit schwarzem Zickzackband – ein perfekte, abschreckende Ergänzung zum Tarnmuster, die auf Verblüffung und das Schreckmoment setzt. Einmal war ein kleiner Schmetterling dabei, der wirkte wie aus winzigen Jadesteinchen und Türkisen zusammengesetzt: Ein Graugrüner Apfelblütenspanner.

Je nachdem, wie der Wind steht, erwarte ich andere Gäste. Die Eichenkarmine hatte ein Südostwind zu mir getragen. Ihr Name zeugt ja schon von der Vorliebe für einen anderen Lebensraum. Ich habe aber auch schon eine Reihe Arten entdeckt, die heimisch auf Trischen, also typisch für eine unberührte Küstenlandschaft – und damit sehr selten geworden sind. Ohne die Dünen mit ihren charakteristischen Pflanzen, ohne von Menschenschritten und Autos unbehelligten Boden, in dem sich die Raupen entwickeln können, verschwinden sie bald.

Ich glaube, die Leser dieses Blogs muss ich nicht noch einmal dazu auffordern, sich für den Erhalt von Lebensräumen einzusetzen. Ich will deshalb heute mit etwas Schönem schließen, und zwar mit den Namen der Nachtfalter, die fast genau so interessant sind wie die Tiere selbst. Und zwar nicht den lateinischen, die immer ein bisschen klingen wie ein Zauberspruch – „Catocala sponsa!!“ – und auch nicht den deutschen, die sich oft im Deskriptiven verlieren („Schmalflügelige Strandroggeneule“) – sondern im Englischen. Im englischen Bestimmungsbuch tummeln sich nämlich wundervolle, fantastische Namen. Da heißen die Falter etwa Alchymist, Sorcerer, The Feline, Old Lady, Conformist und Nonconformist, Willow Beauty. Zu Deutsch also in etwa Alchemist, Zauberer, Die Katze, der Angepasste und der Unangepasste und die Weidenschönheit, die im Deutschen allerdings mit: Weißes Ordensband, gar keinem deutschen Namen, Weißer Gabelschwanz, Schwarzes Ordensband, Braungraue Holzeule und Gagelstrauch-Moor-Eule übersetzt werden. Und die wundervolle „Weidenschönheit“ wird gar zum Rauten-Rindenspanner..

Ist das nicht ein herrliches Spiel mit Sprache und Natur? Eine Freundin war davon ganz inspiriert. Sie sagte (wir sprachen über den englischen Namen des Schönbären Callimorpha dominula): „Wow! Scarlet Tiger! Jetzt habe ich einen Namen für meine nächste Tochter!“ Ich habe mich schnell versichert, dass das ein Witz war. Schließlich bin ich ja auch noch Kinderarzt..

In diesem Sinne – geben Sie der Nacht und ihren Schönheiten eine Chance! Die Galerie ist etwas größer, aber die Falter verdienen so viel Platz, finde ich. Ich gehe jetzt mal den Ballsaal herrichten..

Bild 1: Bei Dunkelheit lockt ein unwiderstehliches Licht die Schönheiten der Nacht zur Hütte..

Bild 2: Das herrliche Große Eichenkarmin („Dark Crimson Underwing“) Catocala sponsa aus dem Text. Das Streichholz war natürlich bereits vorher benutzt und nur eine Hilfe, um ganz vorsichtig unter die Vorderflügel zu linsen.

Bild 3: Die Schmalflügelige Strandroggeneule („Lyme Grass“) Longalatedes elymi. Auf Trischen ist sie noch häufig. Schleswig-Holstein trägt für diese Küstenart eine besondere Verantwortung.

Bild 4: Die Achateule („Angle Shades“) Phlogophora meticulosa können Sie auch im heimischen Garten finden.

Bild 5: Ein Mosaik aus grünen Steinchen: Der Graugrüne Apfelblütenspanner („Green pug“) Eupithecia rectangulata.

Bild 6: Die Strand-Erdeule („Sand Dart“) Agrotis ripae kommt in etlichen hübschen Variationen vor und ist in Deutschland durch Lebensraumverlust stark gefährdet.

Wind

Er zeichnet das Meer und die Salzwiese. Er trägt blaue Regenfahnen vom Meer auf die Insel und nimmt sie mit sich hinfort bis weit hinter den Horizont. Er hebt die Möwen in den Himmel, er lässt die Köpfe der Disteln auf den Kämmen der Dünen tanzen und drückt die Käfer tief in ihre Täler. Mit Sand malt er rätselhafte Bilder, die nur Sekunden bestehen. Er streichelt den Strandroggen mit sanfter Hand und schlägt mir mit harter Faust ins Gesicht. Der Wind ist allgegenwärtig. Ich lebe mit ihm wie mit der Präsenz eines unsichtbaren Wesens, das sich nicht entscheiden kann, ob es in Streit oder Frieden mit mir leben will.

Heute Morgen weckte er mich. Es fühlte sich an, als hätte eine eiserne Klaue die Pfähle der Hütte fest im Griff und würde nicht eher aufhören an ihnen zu zerren und zu stoßen, bis sie mich aus dem Bett geschüttelt hätte. Aber die Gewalt, die mich aus dem Schlaf trieb, war keine feste Hand. Es war bewegte Luft, eine körperlose Kraft, ein unendlich mächtiges Nichts.

Als visuellen Wesen fällt es uns schwer, die Wirkmacht einer Gewalt zu fassen, die nicht sichtbar ist. Es ist wie bei einem Zauberer im Märchen: Überall sieht man, was der Wind tut, nur ihn selbst, ihn sieht man nicht. Gerade jetzt weht der Wind hier stark, aber warm; seine Kraft wird gemildert durch den Sommer, der sich an seine Fahnen hängt. Aber in den stürmischen Märznächten kurz nach meiner Ankunft, wenn es nicht Wärme, sondern graupeliger Schnee war, den er mit sich führte, wanderten meine Gedanken beim Wachliegen und Lauschen zurück in graue Vorzeit mit ihrer Verehrung von Sturm- und Windgöttern, die mir plötzlich unglaublich verständlich, ja, natürlich, erschien.

Deren Herkunft spiegelt sich noch heute in ihren Namen wider. In Mittel- und Nordeuropa gibt es ja die Geschichten von Odin, Thor und Freya. Odin? Ein Sturmgott! Odin, Wotan, Woden sind Variationen seines Namens. Sprechen Sie sie einmal mit einem Hauch aus, so ähnlich wie bei „Wow“. Dann merkt man – diese Namen sind ein Kind des Windes, man hört ihn darin klingen. Auch die Eiderente trägt solch einen Namen, weil sie den Gewalten Aegirs (=Eiders), eines Meeresriesen, auf der kalten, grauen See trotzt. Von Thor = Donar = Donner ganz zu schweigen. Götter und Riesen sind Bilder für die Elementargewalten, die über Jahrtausende hinweg das Leben der Menschen geprägt haben.

Wenn ich dem Wind eine Gestalt geben müsste, wäre er ein bärtiger, verrückter expressionistischer Maler; so etwa nach dem Muster von Klingsor in der berühmten Erzählung von Hermann Hesse. Ich stelle ihn mir vor:

Unsichtbar steht er auf riesigen Beinen im Meer vor der Insel. Drum herum toben die Wellen. Für einen einzigen Moment kann ich ihn sehen. Seine beklecksten Leinenkleider flattern in der Luft. Unter dem düstren Schlapphut wächst ein krauser roter Bart hervor, die Augen funkeln zornig, wenn er mit Gewalt den Pinsel schwingt. Er malt die Salzwiese: Man sieht die Pinselstriche kräftig sich hindurchziehen: Schilfgrün, silbrig, hier ein gelber Fleck, dort ein blassila Streif. Er malt das Meer: Grau, Blau, Grün aus satt in Farbe getunktem Pinsel; in Wirbeln obenauf schaumblasig geschlagenes Weiß. Er malt die Vögel: Ein strahlendes Kreuz über den Wellen, das ist ein Basstölpel im wilden Flug. Was von den Borsten des Pinsels zufällig daneben sprenkelt, wird zu einem Schwarm Lachmöwen. Mit dröhnendem Lachen kleckst er einen anthrazitenen Fleck an den Strand; er hat sich einen Witz erlaubt, das ist der Vogelwart in seinem Wollpulli. Dann ist die Vision verschwunden. Fort mit dem Wind..

Und nun stehe ich vor einer Schwierigkeit: Wie kann ich Ihnen den Wind sichtbar machen? Ich tue mein Bestes, Ihnen mit Worten einen Schlüssel zur Insel Trischen in die Hand zu geben, aber ich möchte Ihnen auch ein schönes Bild, sozusagen als Wegweiser für die Fantasie, übermitteln. Den Wind kann ich nicht fotografieren. Oder doch? Meine Pfeife hilft mir.

Sehen Sie ihn? Im Rauch, in den Pflanzen, in den Wellen spielt der Wind in tausend Gestalten. Welche nimmt er für Sie an?