Überragendes öffentliches Interesse – ein Rechtsbegriff kommt in Mode

Überragendes öffentliches Interesse – ein Rechtsbegriff kommt in Mode

Ein Beitrag von Pauline Schur (NABU-Teamleiterin Verkehrspolitik)

Deutschlandtempo – eines der neuen Lieblingswörter der Ampel. Und sicherlich, bisher verbindet man mit Deutschlandtempo eher immer Baustellen, die ins Stocken kommen; Projekte, deren Eröffnung immer wieder nach hinten gelegt werden muss; Kosten, die explodieren, weil es immer länger dauert als geplant. Und das zu ändern, ist eine gute Idee – aber das wie, ist die Frage.  Und da kommt der Begriff des „überragenden öffentlichen Interesses“ um die Ecke. Was ist damit gemeint?

Festgeschrieben wurde „überragende öffentliche Interesse“ schon in der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie der EU von 1992, später im „Gesetz für den Netzausbau“ 2005, danach hat es wieder Anwendung im Kontext des Ausbaus von Erneuerbaren Energien gefunden, im letzten Jahr bei dem Bau von LNG-Terminals, vor ein paar Wochen wurde es auch für einige Vorhaben der Verkehrsinfrastruktur in einem Gesetz angewendet. Das „überragende öffentliche Interesse“ soll insbesondere Infrastrukturvorhaben, die für die Gesellschaft eine besondere Bedeutung haben, beschleunigen. Dies kann eine existenzielle Bedeutung sein (z.B. zu Abwehr von Gefahren), oder eine anderweitig gesamtgesellschaftlich soziale oder wirtschaftliche Bedeutung. 

Infrastruktur- und Bauvorhaben müssen bestimmte Genehmigungsverfahren durchlaufen und können beklagt werden. Das ist wichtig – denn so kann zu einem frühen Zeitpunkt sichergestellt werden, ob auch alle Gesetze und Vorgaben eingehalten wurden bevor ein möglicher Schaden entstanden ist. Die Festschreibung eines Vorhabens als von überragendem öffentlichen Interesse nimmt darauf Einfluss, es erleichtert die Genehmigung des Projekts erheblich und schwächt die ihm gegebenenfalls entgegenstehenden Belange, oft die des Natur- und Umweltschutzes.

Dadurch können zwar nicht komplette Gesetze bzw. Umweltstandards ausgehebelt werden. Dennoch bekommen die geplanten Vorhaben in der sogenannter „Abwägungsdirektive“ sowohl innerhalb  von Behörden als auch vor Gericht ein stärkeres Gewicht gegenüber anderen Belangen oder Vorhaben. Insbesondere dort, wo die Möglichkeit von Ausnahmen von Naturschutzstandards bestehen, z.B. im Bundesnaturschutzgesetz oder der EU-FFH-Richtlinie, kommt also dieser Rechtsbegriff zum Zuge. Oder beim Denkmalschutz (vgl. ein  Gerichtsurteil, das Windenergieanlagen Vorrang vor Denkmalschutzbedenken einräumt). Gleiches gilt auch bei Entscheidungen von Behörden, wenn es um die Bevorzugung eines Vorhabens in der Bearbeitung geht.

Das „überragende öffentliche Interesse“ gibt dem Ausbau von Erneuerbaren Energien Vorzug vor anderen Vorhaben. Foto: NABU/Sebastian Hennigs

 

Für den NABU ist vor allem die Einordnung aus Sicht von Umweltbelangen entscheidend. Es gibt dabei zwei Aspekte, die für uns von Bedeutung sind:  

Erstens reiht sich die verstärkte Anwendung des „übergeordneten öffentlichen Interesses“ ein in ein Gesamtbild, in dem Standards und Regulierungen als Hauptschuldige für mangelndes Tempo in der Planung ausgemacht werden.  Darunter fällt auch die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP), die gerne als „Sündenbock“ herangezogen wird. Dabei ist die UVP eine große Errungenschaft der deutschen und europäischen Gesetzgebung, die weltweit nachgeahmt wird. Mit gutem Grund, sie verbessert Planung und dient Lebensqualität, Sicherheit und Umweltschutz. Für die aktuelle Bundesregierung dagegen gilt die Aushebelung der UVP als Erfolg – insbesondere beim schnellen Bau von LNG-Terminals. Trotz gebotener Eile wäre eine sorgfältige Abwägung gegenüber den Belangen von Natur und Umwelt ratsam gewesen. So entstehend große Schäden durch am Bedarf vorbei geplante Kapazitäten.

Natürlich ist ein schnelleres Vorgehen, eine beschleunigte Planung sinnvoll, gerade wenn es um klimafreundliche Verkehrsinfrastruktur oder den Ausbau von Erneuerbaren Energien geht. Dies muss und sollte aber nicht auf Kosten der Umweltverträglichkeitsprüfung gehen. Der Begriff des übergeordneten öffentlichen Interesses sollte daher sehr vorsichtig genutzt werden.

Damit kommen wir aber zum zweiten Aspekt: Wenn immer mehr Vorhaben priorisiert werden, wenn nahezu „alles“ im übergeordneten Interesse steht, dann wird nicht nur der Umweltschutz ad absurdum geführt, sondern auch die Beschleunigung immer schwieriger, gerade angesichts des Personalmangels in den Behörden. Seit dem Oktober 2023 haben sogar Fernstraßen bzw. Autobahnausbauprojekte das Label des „übergeordneten Interesses“ erhalten – durch das Genehmigungsbeschleunigungsgesetz. Damit wird der Rechtsbegriff quasi nutzlos – diese kritische Einschätzung teilen auch viele Jurist*innen. Die inflationäre Anwendung wird die eigentlichen Planungsbremsen, Personalmangel und hinterherhinkende Digitalisierung im öffentlichen Dienst weiter verschärfen.  

Ein Beitrag von Pauline Schur (Teamleiterin Verkehrspolitik, NABU-Bundesgeschäftsstelle)

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Wie planen wir besser, schneller und nachhaltiger? In diesem NABU-Ticker schauen wir unter die wohlfeilen Überschriften von Deutschland-Tempo und Bürokratieabbau und in die Hinterzimmer der politischen Verhandlungen. Unterstützt durch Gastautor*innen sowie Kolleg*innen aus den NABU-Landesverbänden und der Bundesgeschäftsstelle gehen wir ins Detail: Welche Vorhaben zur Planungsverbesserung gibt es, welche steigern, welche vermindern unsere Chancen die Klima- und Biodiversitätskrise in den Griff zu bekommen? Wie positionieren sich einzelne Akteure in der Debatte und was passiert konkret in der Gesetzgebung? Abonnieren Sie den Blog Naturschätze.Retten um keine Folge des Tickers zu Planung und Naturschutz zu verpassen.

3 Kommentare

Thomas Schröder

13.01.2024, 19:56

Sehr geehrte Damen und Herren, Der Entwurf erkennt sehr gut, was an Schaden angerichtet wurde. Wir müssen konstatieren, dass es ausgerechnet eine GRÜNE Regierung ist, die den Schutz von Natur und Umwelt aus ideologischen Gründen hinten anstellt oder sogar komplett ad absurdum führt. Weshalb eigentlich konnte es passieren, dass NABU und andere sich sehenden Auges den GRÜNEN derart angebiedert haben, dass an solch perfider Gesetzgebung nichts mehr zu verhindern war ?

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Jochen Schwarz

14.01.2024, 01:00

Danke für diesen Beitrag. Er greift ein Thema auf, das mich schon seit Längerem beschäftigt. Und ich befürchte, dass wir künftig noch deutlich mehr mit diesem Begriff zu tun bekommen werden: Wenn gar kein sachlich-fachliches Argument mehr greift, wird die Planungs-Bazooka rausgeholt – das "überragende öffentliche Interesse". Womit dann allerdings auch klar wird, dass man sich in solchen Fällen die artenschutzrechtlichen Gutachten auch gleich hätte sparen können. Die Politikverdrossenheit in der Bevölkerung wird damit noch mal weiter zunehmen.

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Bodo Langguth

17.01.2024, 14:24

Es wäre doch schön, wenn auch der Klimaschutz und die Anpassung an den Klimawandel von "übergeordnetem öffentlichen Interesse" wäre! Wahrscheinlich muss das Bundesverfassungsgericht wieder eine Klärung herbeiführen, weil sich die Politik wieder keine Entscheidungen treffen will. Ein öffentliches Interesse sollte nicht nur von der Politik definiert werden dürfen, sondern auch von der Öffentlichkeit, die dazu befragt werden muss.

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