EU-Kommission noch Hüterin der EU-Verträge?
Lange Dauer und Intransparenz von Vertragsverletzungsverfahren Problem für Umwelt und Rechtsstaatlichkeit
Ein Blogbeitrag von Luca Gussner
Verfahren von sehr langer Dauer und hoher Intransparenz untergraben die Rolle der EU-Kommission als „Hüterin der Verträge“ und beeinträchtigen die Rechtsdurchsetzung auf europäischer Ebene. Darunter leiden nicht zuletzt die Umwelt und die Rechtsstaatlichkeit. Der NABU fordert daher grundlegende Reformen von der EU-Kommission.
Worum geht es?
Wichtigstes Rechtsinstrument der EU-Kommission zur Erfüllung ihrer Aufgabe als „Hüterin der Verträge“ ist das Vertragsverletzungsverfahren. Das Vertragsverletzungsverfahren ist eines der wenigen europäischen Rechtsmittel, das im Grundsatz auch von der interessierten Öffentlichkeit initiiert werden kann. Auch der NABU macht davon bei begründetem Verdacht einer EU-Umwelt-Rechtsverletzung durch Deutschland bisweilen Gebrauch. Der Rechtsschutz durch diese Verfahren leidet jedoch zunehmend darunter, dass diese zum einen teilweise intransparent ausgestaltet sind und zum anderen meist mehrere Jahre in Anspruch nehmen. In dieser Zeit können die fraglichen Vertragsverletzungen, in unseren Fällen Umweltschädigungen, munter fortgesetzt werden. Die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen muss sich daher fragen lassen, ob sie es mit ihrer politischen Leitlinie der „konsequenteren [Rechts-]Durchsetzung“ ernst nimmt und ihrer Rolle als „Hüterin der EU-Verträge“ noch gerecht wird.
Wie läuft ein Vertragsverletzungsverfahren in der Theorie ab?
Grundsätzlich besteht das in Art. 258 AEUV geregelte Vertragsverletzungsverfahren aus bis zu drei Verfahrensschritten: zunächst teilt die Kommission dem betreffenden Mitgliedsstaat ihren Verdacht einer Vertragsverletzung mit und fordert weitere Informationen für die Beurteilung an (förmliche Mitteilung / letter of formal notice). Besteht auf dieser Grundlage der Verdacht der Vertragsverletzung fort, wird die Kommission dies dem Mitgliedsstaat in einer mit Gründen versehenen Stellungnahme (reasoned opinion) ausführlicher darstellen und ihn förmlich zur Beachtung ihrer Rechtsauffassung auffordern. Sollte der Mitgliedsstaat der Aufforderung nicht nachkommen, kann die Kommission den Fall vor den EuGH bringen. Die Kommission hat dem Mitgliedsstaat für seine erforderlichen Mitwirkungen im jeweiligen Verfahrensabschnitt Fristen zu setzen – laut eigener Auskunft bemisst sie diese in der Regel mit 2 Monaten. Das Vertragsverletzungsverfahren, das formal erst mit der Mitteilung des Verdachts der Verletzung beginnt, kann mittels des Instruments der Beschwerde von jeder*m beantragt werden.
Aus diesem Verfahrensablauf würde sich also eine Minimaldauer von 4 Monaten zwischen der Mitteilung an den Mitgliedsstaat und der Einreichung des Falles beim EuGH ergeben, sollte sich der Verdacht aufrechterhalten. Würde man der Kommission ebenso viel Zeit einräumen wie den Mitgliedsstaaten, um auf deren Antworten einzugehen, sollte ein Verfahren um die 8 Monate dauern. Die Realität sieht jedoch leider gravierend anders aus.
Lange Verfahrensdauer (insbesondere im Bereich Umweltrecht)
So hat etwa eine kürzlich erhobene Umfrage unseres europäischen Dachverbands BirdLife Europe, mit dem sich der NABU auch Büroräume in Brüssel teilt, unter den nationalen Partnerorganisationen ergeben, dass derzeit mindestens 14 anhängige Vertragsverletzungsverfahren im Naturschutzbereich bekannt sind, die von den Partnern durch Beschwerden initiiert wurden. Diese 14 Verfahren sind jedoch im Durchschnitt bereits seit fast sechs Jahren anhängig. Von jenen14 Verfahren waren nur neun so weit fortgeschritten, dass in diesen die Kommission beide erforderlichen Schritte, die Mitteilung und die mit Gründen versehene Stellungnahme, unternommen hatte. Innerhalb dieser neun Verfahren waren im Durchschnitt zwischen der Information und der Stellungnahme dreieinhalb Jahre vergangen (für weitere Details siehe die Auswertung in diesem Dokument). Zum Vergleich: laut der Selbstauskunft der EU-Kommission haben im Jahr 2022 Vertragsverletzungsverfahren durchschnittlich insgesamt rund zwei Jahre in Anspruch genommen, einschließlich der Zeit nach Versendung der mit Gründen versehenen Stellungnahme bis zu einer Entscheidung (Einstellung oder Verweisung). Die überlange Dauer der in der Umfrage erfassten Fälle deckt sich auch mit anderen Untersuchungen, die eine wesentliche längere Bearbeitung von Umweltfällen feststellen konnten.
Auch der NABU hat entsprechende Erfahrungen mit langen Verfahren gemacht. So vergingen etwa in dem Fall betreffend der unzureichenden Ausweisung und des mangelhaften Schutzes von Natura2000-Gebieten (Rechtssache C-116/22), welches jüngst zu einer (teilweisen) Verurteilung Deutschlands durch den EuGH führte, zwischen der ersten Mitteilung im Jahr 2015 und der mit Gründen versehenen Stellungnahme im Jahr 2020 fünf Jahre. Fünf Jahre, während derer zahlreiche Lebensräume von gemeinschaftlicher Bedeutung ungeschützt naturschädigenden Einwirkungen und Nutzungen offenstanden. Gleiches gilt für die bereits 2017 zusammen mit dem BUND eingereichte Beschwerde (hier abrufbar) betreffend die vollkommen unzulängliche Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie. Diese befindet sich seit 2020 im intransparenten, dem Vertragsverletzungsverfahren vorgeschalteten, Pilot-Verfahren. Während dieser insgesamt sechs Jahre lässt eine rechtskonforme Umsetzung des Oberflächengewässerschutzes durch Deutschland auf sich warten. Das ursprünglich gesetzte Ziel übrigens, dessen Verfehlung die Beschwerde angreift, sieht vor, bis 2015 (und nur in Ausnahmefällen bis 2027) einen guten Gewässerzustand zu erreichen. Dass dieses Ziel nicht erreicht wird, selbst nicht im Ausnahmezeitraum bis 2027, war angesichts 8% guter ökologischer Oberflächengewässer damals ebenso klar wie heute mit 9%.
Fauler Kompromiss – politische Unterstützung auf Kosten der Rechtsstaatlichkeit?
Die Gründe für die Verzögerungen mögen vielfältig sein, aber die Ursache machen die Autor*innen des auf eine qualitative Studie gestützten Fachbeitrags „Where have the Guardians gone?“ (hier kostenpflichtig abrufbar) darin aus, dass die EU-Kommission die ihr eigentlich zugewiesene Rolle als Hüterin der Verträge zugunsten der ihr ebenfalls zukommenden Rolle als Motor der europäischen Integration schleifen ließe. Denn, so die Kernaussage der Untersuchung, die Toleranz von Rechtsverletzungen sei als Verhandlungsmasse genutzt worden, um die Zustimmung der Mitgliedsstaaten im Rat der europäischen Union zu Gesetzesvorhaben der Kommission zu gewinnen. Und diese Zurückhaltung in der eigentlich selbstverständlichen Rechtsdurchsetzung sei zur Regel geworden.
Kommissionspräsidentin von der Leyen beim Wort genommen, die in ihrem Mandatsschreiben an Frans Timmermans schrieb, dass jede Gesetzgebung nur so gut sei wie ihre Durchsetzung, bedeutete dieser Kompromiss auch für die europäische Integration bestenfalls ein Nullsummenspiel. Zusätzlich zu der Schwächung der Rule of Law in der EU leidet die Natur oft mit jedem weiteren Monat, den die überlangen Vertragsverletzungsverfahren in Umweltsachen in Anspruch nehmen.
Deswegen fordern wir vom NABU mit unseren EU-Dachverbänden BirdLife Europe und dem Europäischen Umweltbüro EEB, dass die EU-Kommission spätestens mit der nächsten Legislatur grundlegende Reformen zur Durchführung der Vertragsverletzungsverfahren vorlegt (siehe hierzu auch unseren Blogbeitrag vom 15. Juni 2022). Eine unser Kernforderungen ist dabei die Veröffentlichung aller Schreiben des Vertragsverletzungsverfahren. Das Einhalten von EU-Recht soll schließlich keine Verhandlungsfrage hinter verschlossener Tür sein. Transparenz könnte indes für mehr Vertrauen in die Institutionen und für insgesamt mehr Druck zur Rechtsdurchsetzung führen. Bisher werden die Schreiben nicht veröffentlicht. Auch auf explizite Nachfrage verweigert die EU-Kommission entsprechende Informationsbegehren (wir wir gerade nochmal explizit getestet hatten anhand eines cypriotischen Falls, mit negativer Antwort der EU-Kommission, hier).
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