Trutz, blanke Hans?

Vergangenen Samstag ist eine Kolonie von Lachmöwen und Flussseeschwalben untergegangen. Das ist kein ungewöhnliches Phänomen (auch Anne Evers berichtete hier https://blogs.nabu.de/trischen/tag/hochwasser/ darüber). Aber die Szenen, die sich abspielten, waren schon herzzerreißend, auch für einen abgebrühten Naturkundler. Man kann anhand eines solchen Ereignisses allerdings einiges erklären. Und deshalb versuche ich Sie nun durch meinen Augen den Nachmittag des 21. Mai 2022 erleben zu lassen. Also – Katastrophenfilm ab!

Den ganzen Tag schon hatten starke Westwinde geweht. Gerade hatte ich mich noch gefreut, denn auf ihren wilden Lüften waren zwei Basstölpel, im Synchronflug wie mit unsichtbaren Fäden verknüpft, den Strand entlang gesaust. Des einen Freud, des andren Leid: Als ich mich umdrehte, bot sich mir ein Bild der Panik.

Etwa hundert Meter südlich der Hütte hat sich in der Salzwiese eine Brutgemeinschaft aus Lachmöwen und Flussseeschwalben angesiedelt. In ihrem Umfeld versuchen auch einige Paare Austernfischer und Rotschenkel ihr Glück. Die Kolonie schmiegt sich in die Südostbucht, ihr äußerster Rand schließt ziemlich genau mit der Vegetationskante ab, bevor kurz darauf das Watt beginnt. Von dieser Kante war aber nichts mehr zu sehen. Sie stand bereits tief unter Wasser – darüber kreischten in heller Aufregung hunderte Vögel, deren Gelege im Begriff waren, unterzugehen. Und es war noch eine Stunde bis Hochwasser…Flussseeschwalben sausten hin und her, völlig unfähig, den vordringenden Fluten mit ihren aufgeregten Schreien Einhalt zu gebieten; dazwischen flatterten wie große weiße Schmetterlinge Lachmöwen auf der Stelle und blickten ängstlich auf das untergehende Nest zu ihren Füßen. Besonders gerührt hat mich ein Paar Austernfischer, das sich schließlich eng aneinander kuschelte, als die Flut immer näher rückte. Sie hielten auf ihrem Gelege aus, bis das Wasser ihnen fast bist zum Bauch stand. Der menschliche Blick mag da einiges verklären, aber ich glaube es ist nicht zu weit hergeholt, zu vermuten, dass sie angesichts der Gefahr das Bedürfnis nach Geborgenheit und Halt verspürten.

Ich konnte noch eine weitere Beobachtung machen, die ich verhaltensbiologisch sehr interessant fand: Einige Lachmöwen begannen nämlich plötzlich, mitten im Chaos, Nistmaterial einzutragen. Natürlich stellt sich sofort der Gedanke ein: Na klar, die wollen schnell ihr Nest ein Stück höher bauen! Und wirklich ist bei Zwergseeschwalben beschrieben worden, dass sie ihr Gelege innerhalb kürzester Zeit bis zu 10 Zentimeter „hochbuddeln“ können, wenn Flugsand es zu begraben droht. Aber ganz so einfach ist es nicht. Denn „Nestbauaktivitäten“ beobachtet man bei Vögeln (und sogar Fischen!) auch als sogenannte Übersprungshandlung, wenn sie, zum Beispiel in einem Kampf an der Grenze ihres Reviers, nicht so recht wissen, ob sie fliehen oder angreifen sollen. Dann gähnen sie plötzlich, putzen sich oder picken nach Gras, ganz als würden sie ein Nest bauen, scheinbar völlig aus dem Kontext gegriffen. Das ist besonders gut für Silbermöwen und Dreistachlige Stichlinge beschrieben, und Niko Tinbergen hat sogar einen Nobelpreis, unter anderem für diese Beobachtungen, erhalten. Wenn Menschen trippeln, pfeifen usw. ist das vielleicht nichts so viel anderes. Ich bin mir also nicht ganz sicher, was die Lachmöwen wirklich dazu trieb, aber sie können es sich unten auf den Fotos einmal ansehen. Gerettet hat es sie nicht.

Als das Wasser wieder ablief, kehrte schließlich Ruhe ein und ich war ein bisschen traurig. Allerdings sind die meisten Küstenvögel an solche Ereignisse angepasst. Viele können ein zweites Gelege beginnen, manche wechseln dafür den Koloniestandort (ich habe am Folgetag gesehen, dass auch eine ganze Reihe übrig geblieben sind). Aber warum brüten sie denn überhaupt an so einer riskanten Stelle? Einfache Antwort: Weil es auch Vorteile hat. Trischen mag gelegentliche Sommerhochwasser erleben, aber dafür gibt es hier keinen Fuchs. Und warum dann nicht wenigstens ein bisschen höher auf dem Dünenkamm? Auch nicht so klug – denn da sitzen die Großmöwen, die nur allzu gerne Eier und Küken fressen würden. Die Stelle „auf der Kante“ ist also gar nicht so unklug gewählt. Unnötig zu erwähnen, dass klimawandelbedingt immer häufigere und höhere Hochwasser – und vor allem mangelnde Ausweichmöglichkeiten – schließlich doch limitierend für den Erhalt einer Art werden. Deshalb ist ein Raum wie Trischen so wichtig!

Übrigens – wir Menschen machen es nicht anders. Schließlich siedeln auch wir an der Küste. Vorteile bringt es ja auch für uns mit sich: Fruchtbare Böden, Handelsmöglichkeiten, Fischreichtum – und auch wir müssen gelegentlich einen Preis dafür zahlen. Nur ein Beispiel:

Mitte des vierzehnten Jahrhunderts lief es ohnehin nicht so gut für die Menschen in Mitteleuropa. In die Häuser der durch eine kleines Eiszeit mit Ernteausfällen geschwächten Bevölkerung kroch der schwarze Tod. Und nachdem die Pest überstanden war, brach 1362 schließlich eine Sturmflut nie dagewesenen Ausmaßes (der „blanke Hans“) über die „Uthlande“ der Nordsee herein. Etliche tausend Menschen kamen  in der „groten Mandränke“ um; übrig blieb das, was wir heute als die nordfriesischen Inseln kennen. Umsiedeln? Ausweichen? Nicht immer möglich. Und was hier bei mir Lachmöwen erleben, passiert den Menschen in Bangladesch und Ozeanien schon heute. In Detlev von Liliencrons berühmtem Gedicht wird aus dem allzu selbstbewussten „Trutz, blanke Hans!“ in der letzten Zeile eine Frage.

 

Bild 1: Kolonie in Panik. Zwischen den Grasbulten steht gewöhnlich auch bei Flut kein Wasser. An diesem Tag ist es etwa 50 cm höher als sonst angestiegen.

Bild 2: Lachmöwen tragen Nistmaterial ein.

Bild 3: Rat- und hilflose Austernfischer, darüber warnende Flussseeschwalbe.

Till Holsten

Vogelwart 2022