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Begegnung mit 11980 Nonnen

Es gibt heute einen Extra-Blogeintrag. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, alle fünf oder sechs Tage etwas zu schreiben. Aber es gibt einfach noch mehr zu erzählen:

Es ging heute Morgen ziemlich genau um 08:00 Uhr los. Seit Sonnenaufgang hatte sich nicht viel ereignet, das einer Notiz wert gewesen wäre. Es war windstill, der Himmel hing mit einer dicken Schicht Wolken als graue Decke tief über der Insel, und aus der Wiese um die Hütte stieg noch immer die Kälte der Nacht. Ich fand, dass die Zeit für einen heißen Kaffee und ein kräftiges Stück Brot gekommen war.

Das fanden 11980 Nonnengänse allerdings nicht. Kaum stieg der Duft von seeehr schwarzem Kaffee aus der dampfbeschlagenen Blechtasse (das seeehr ist so eine leidige Krankenhausgewohnheit…), kaum hatte ich ein Messer in einen Laib Brot versenkt – da rannte ich schon wieder hinaus. Drei Stunden später war ich zurück.

Scharfes Flügelrauschen durchschnitt die Luft über der Hütte, dazu erklangen unverwechselbare Rufe: Das seltsame Geräusch, irgendwo angesiedelt zwischen verschnupfter Graugans und altersschwacher Sturmmöwe, kündigte endlose Reihen von Nonnengänsen an („Weißwangengans“ ist übrigens ein, wie ich finde, weniger schönes Synonym dieser Art. Der wissenschaftliche Name lautet Branta leucopsis.). Von Cuxhaven und Neuwerk kommend überflogen sie die Insel auf ihrem Weg in den hohen Norden, und ein glückseliger Vogelwart sah ihnen für die Dauer einiger Stunden dabei zu.

Das liest sich recht beschaulich. Es kommt allerdings ganz schön Betrieb auf, wenn ich von einem Ende der Hütte zum anderen sprinte, um weder die am Nord- noch die am Südende vorbeiziehenden Trupps zu verpassen, während ich versuche, mir die Zugrichtung des am Horizont anrückenden Bands 500 weiterer Gänse zu merken, von 200 im Sausewind über die Hütte schießenden Vögeln überrascht werde und plötzlich auch noch eine Brandseeschwalbe direkt vor der Nase habe, die offensichtlich ebenfalls dringend ihren Weg in mein Notizbuch finden möchte. Ganz kurz ergibt sich die Gelegenheit, einen Trupp nach Individuen durchzuzählen und somit das Schätzmaß zu adjustieren, das helfen muss, wenn die nächsten Großformationen anrücken. Außerdem gilt es, genau hinzuhören: Ertönt nicht doch irgendwo der hell kieksende Schrei einer seltenen Rothals- oder Zwerggans? Manchmal schließen sich nämlich andere Arten dem Schwung der Hauptdurchzügler an. Das Interessanteste, das ich vor vielen Jahren einmal beobachten konnte, war eine amerikanische Schneegans, die einen Trupp Kormorane anführte. Heute finde ich „nur“ einige Grau- und zwei Kanadagänse – aber einen gewissen Thrill bringt die Suche nach der ornithologischen Nadel im Federhaufen immer mit sich. Überraschungen sind jederzeit möglich.

Wenn Sie diese Zeilen lesen, sind die Gänse schon etliche hundert Kilometer weiter gezogen. Die schönen Tiere verbringen die Herbst- und Wintermonate zwar im verhältnismäßig milden Klima Mittel- und Westeuropas. Das namensgebende, kontrastreiche Gefieder zeugt aber davon, dass sie die Brustsaison nicht in blühender Maienwiese verbringen werden. Nonnengänse bauen ihr Nester in Kolonien an unzugänglichen, schroff-felsigen Meeresküsten im allerhöchsten Norden. Nicht gerade ein einladender Ort. Und doch: Wenn tausende Tiere mit so viel Schwung in eine Richtung ziehen – dann möchte man fast auch selbst ein kleines bisschen mitfliegen. Allerdings haben sich seit einigen Jahren auch ein paar der Tiere dauerhaft auf Trischen angesiedelt, so ganz verkehrt ist dieser Ort wohl doch nicht.

Den Kaffee habe ich übrigens zwischendurch getrunken. Er war eiskalt. Aber Eiscafé ist ein stimmiger Begleiter für arktische Gänse, oder?

Unten sehen Sie einen der vielen Trupps, die im Tiefflug über die Hütte sausten. Man hört dann wirklich das Federrauschen. Darunter mein von Minute zu Minute weiter sich füllendes Notizbuch, mit dem ich versuchte, der Zahlen Herr zu werden..

Vielleicht sehen Sie ja auch noch einige der Gänse auf ihrem Weg! Ich drücke die Daumen!

High Noon

Man kann ja ohne Weiteres viel Schönes über Sonnenauf- und -untergänge sagen, über den Zauber ganz früher, vom Tage und seinen Geschäften unbehelligter Morgenstunden, oder über einen lauschigen Sommerabend. Ich selbst habe mich immer für einen Nachtmenschen gehalten (ornithologisch gesprochen: Auf dieser berühmten Skala von Lerche bis Eule bin ich zu 100% der ausschließlich nachtaktive Rauhfußkauz). Aber gerade bin ich der Mittagsstunde verfallen.

Liegt es an der Kälte der letzten anderthalb Monate? Noch gestern habe ich bei der Vogelzählung mit Wehmut und schmerzenden Fingern an die Handschuhe gedacht, die ich angesichts eines trügerisch samtig blauen, wärmeverheißenden Himmels in der Hütte liegen lassen hatte. Als würden diese vergangenen Kältetage als Echo in irgendeinem Resonanzraum unbekannter Zellen nachhallen, verlangt mein Körper nun mit Macht danach, sich durchglühen zu lassen. Das ist für mich eine neue Erfahrung. Im städtischen Leben mit seinem Nicht-Wetter verwässern die Unbilden unsteter März- und Apriltage; Regen, Kälte und Hitze geschehen eher um einen („draußen“) als an einem. Ich denke mit neuem Respekt an die Menschen vergangener Tage und ferner Länder, denen das frühe Aufstehen in einer eiskalten Kammer und das Aufnehmen ihrer Arbeit – zumal, wenn man selbst derjenige ist, der den Kamin befeuern muss! – über Monate hinweg tägliche Routine war und ist. Das ist auch bei uns nicht lange her, noch meine Oma hat ihre Kinder- und Jugendtage auf einem Hof auf diese Weise zugebracht.

Aber nun die göttliche Mittagsstunde, die, ganz ohne Arbeit und Zutun meinerseits, den Körper durchwirkt und ihm ungefragt schenkt, wonach er sich verzehrt. Kein kraftraubendes Holzhacken. Keine vier Schichten Klamotten am unbeweglichen Leib. Händewaschen mit Wasser, das mehr als fünf Grad hat. Man kann sich leicht vorstellen, warum Sonne und Frühling seit Urzeiten Gegenstand menschlicher Verehrung sind. Als würde die Natur diesen Moment würdigen, ist dies auch die Stunde, in der eine seltsame Stille über die Insel kommt. Zwar kreischen über mir die Seeschwalben, aber sie fahren durch eine Luft, in der irgendetwas anderes schweigt, das sonst da ist. Manchmal sind auch sie plötzlich verschwunden. Das ist der Moment, in dem der Wiesenpieper sich auf einen Pfahl in der Salzwiese vor mir setzt und seine einfachen Geschichten erzählt. Wit-wit! Zit-zit-zit-zit-zit. Schipp.. Und ich freue mich, wenn mir dieser inzwischen so vertraute Vogel ein neues Wort aus seinem oberflächlich betrachtet etwas eintönig wirkenden Repertoire beibringt. Wenn man ihm eine Weile zuhört, ist da noch mehr.

Selbst wenn man sich sehr hütet, Tiere zu vermenschlichen: Es liegt doch nahe, dass der kleine Sänger mit der cremefarbenen, braungetupften Brust und der (nur manchmal singende) Vogelwart mit den blaugestreiften Schlappen auf einer ganz basalen Ebene etwas teilen: Das Gefühl, dass Wärme gut tut, und dass das Leben leichter ist, wenn nicht mehr Winter und Kälte herrschen, sondern für einige Monate lang das Licht das Szepter führt.

Unten finden Sie das Portrait meines freundlichen Compadres aus dem Text. Dass die Natur, die jedes Jahr eine Insel neu formt, auch an mir ihre Arbeit tut, sieht man am Bild darunter: Meine Hände wirken inzwischen, als kehrte ich gerade von einer Seereise bis mindestens Tahiti zurück (vom hier nicht abgebildeten U-Boot-Fahrer-Bart ganz zu schweigen..) – und die vornehme Blässe der Füße wird auch bald weichen!

Frühling lässt sein graues Band…

Es war genau 11:50h, als ich in flirrender Hitze von meinem Buch aufsah. Vor meinen Augen tanzten die Buchstaben am Himmel Ringelreihen, bevor sie sich mitten über dem Meer zerstreuten wie ein kleiner Schwarm auseinanderstiebender Vögel. Vielleicht war mir die Hitze zu Kopf gestiegen. An der Südseite der Veranda wird es bei Windstille nämlich inzwischen so warm, dass die Holzplanken diesen sommerlichen Geruch von Bohlen in den Dünen an einem Ferienbadetag im Juli ausströmen. Aber alles Augenreiben half nichts: Da standen immer noch vier Buchstaben am Himmel.

Nun muss man wissen, dass meine Augen erst jüngst daran gescheitert waren, zuverlässig ein C von einem O und all seinen weiteren Verwandten zu unterscheiden, die einem vorgesetzt werden, wenn man eine neue Brille benötigt. Ich war also skeptisch. Vier wechselweise nach unten und oben geöffnete Cs, wie ich sie nun sah, hätten meine Optikerin sicherlich in diesen Skeptizismus einstimmen lassen, aber in meiner Sonnendösigkeit begann mir langsam doch zu dämmern, dass die seltsamen Lettern nicht etwa die Fortsetzung meiner Lektüre, sondern die sich nach oben und unten öffnenden Schwingen einiger ziemlich großer Vögel waren, die direkt auf mich zukamen. Und dann war ich plötzlich doch ziemlich wach.

Das ist immer ein spannender Moment: Da fliegt etwas, es ist ungewöhnlich, es kommt in deine Richtung. Dreht es vielleicht doch ab? Lässt sich irgendetwas aus Haltung oder Frequenz der Flügelschläge ableiten? Ruft der Vogel womöglich gar seinen Namen? – Nach Verstreichen einiger Minuten, viel Flimmern über dem Meer, stummen Vögeln und einer gepfefferten Mischung fluchender und flehender Worte vom Vogelwart war dann aber doch klar, dass ich heute Glück hatte: Es waren vier Kraniche – die Vögel, die seit etlichen Menschenaltern und in verschiedensten Kulturen als Sonnen-, Frühlings-, Glücks- und Liebesboten verehrt werden. Das hängt sicher damit zusammen, dass sie nicht nur die majestätischsten, sondern auch die lautesten Künder der neuen Jahreszeit, von mildem Wetter und wieder erblühendem Leben sind. Und sie zogen direkt über meine Hütte hinweg.

Sie haben bestimmt auch schon einmal Kraniche gesehen. Wahrscheinlich sogar eher, als wenn Sie auf Trischen wohnen würden, denn diese Vögel ziehen zu Frühlingsbeginn auf breiter Front von Südwesten nach Nordosten und im Herbst andersherum über Deutschland hinweg. Trischen liegt fast am äußersten Rand der traditionellen Flugwege, die diese langlebigen Vögel von ihren Eltern erlernen wie Menschenkinder den Schulweg von den ihren. Und während über meiner Heimatstadt Hamburg alljährlich große Formationen ihre lauten Krrru-Krrru!-Rufe hören lassen, werden sie auf Trischen, wenn überhaupt, nur in geringer Anzahl beobachtet.

In Hamburg blühen inzwischen die Kirschen. Hier auf der Insel passiert alles etwas später, bisher streckt nur ein kleines Löffelkraut die weißen Blüten schüchtern in den Himmel. Aber nun weiß ich ja doch: Der Frühling kommt, die Glücksvögel können nicht lügen. Als sie schon weit entfernt über der Nordspitze Trischens sind, blicke ich ihnen noch immer nach. Sie hängen nun wie ein feines graues Band in der hellblauen Luft und ich denke „Frühling lässt sein graues Band wieder flattern durch die Lüfte…“..oder erinnere ich mich etwa falsch an die Zeilen des alten Mörike? Ich muss in der Hitze wohl ein paar Buchstaben vertauscht haben.

Ballettrevue oder: Von der schwierigen Frage nach dem Lieblingsvogel

Jeder wird eines Tages konfrontiert mit den schwierigen Fragen des Lebens. Welchen Beruf soll ich ergreifen? Sollte ich heiraten? Möchte ich Kinder? Wie verbringe ich meinen Ruhestand? Das ist ja alles wirklich nicht einfach, aber im Leben eines Ornithologen gibt es eine Frage, die das alles an Komplexität, endlosen Abwägungen und impulsiven Umentscheidungen bei weitem in den Schatten stellt: Was ist dein Lieblingsvogel?

Und wie bei vielen Fragen im Leben stellt sich im Laufe der Zeit auch hier Klarheit ein. Das Schöne ist ja übrigens auch, dass man diese Frage immer wieder neu beantworten darf. Sie wird übrigens meistens von Nicht-Ornithologen gestellt, und ich habe das Gefühl, dass in meiner Antwort bisweilen die Rechtfertigung einer auf Außenstehende etwas skurril anmutenden Leidenschaft mitschwingt. Was also ist dein Lieblingsvogel, Till?

Ich  hole das Bild einer Flussseeschwalbe hervor (sh. Link) – ich finde, das erklärt alles. Gut, nicht ganz. Ich will es ausführen.

https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/voegel/portraets/flussseeschwalbe/

Eine Seeschwalbe ist zweifellos ein wunderschöner Vogel. In tiefem Schwarz zieht sich eine Kappe bis knapp über das dunkel funkelnde Auge und kontrastiert mit dem hellen Körper, der sich in Form und Farbe zur Brust hin verdichtet. Sie changiert hier je nach Art von silbrig weiß (Rosenseeschwalbe) über ein lichtes Hellgrau (Flussseeschwalbe) bis hin zu tiefem Gewittergraublau (Weißbartseeschwalbe). Die Brust scheint der einzige Punkt zu sein, in dem dieses ätherische Wesen irgendeine Form von Masse zusammenbringt. Überhaupt, die Form: Wenn der Blick einen Moment an den Linien des Vogels entlangwandert, merkt man schnell, dass man nicht an eine Möwe geraten ist. Zu sanft schwingen die Linien, zu schnell irgendwie, der Körper wirkt wie gezeichnet in einem einzigen schwungvollen Zug, und alles was an einer Möwe sperrig oder klobig wirken könnte, ist hier im Beieinander einiger Federn negiert.

Aber das ist nur ein Foto. Und damit in etwa so, als würde ich Ihnen den Zauber einer Ballettrevue durch das Bild einer Ballerina erklären wollen. Stellen Sie sich nun also bitte vor, dass dieses federleichte Geschöpf eines Apriltags plötzlich aus dem Süden herangerauscht kommt. Eines Morgens ist es – sind sie – da, denn es sind mehrere. Hoch in der Luft über der Hütte höre ich ein scharfes kierrrikriekri!!kipkipkip und stolpere noch im Schlafanzug heraus. Ich bin kurz geblendet vom gleißenden Sonnenaufgang. Aber dann fallen sie aus dem Licht; zwei, drei, vier, in einer gewaltigen Kurve sausen sie herab und scharf an mir vorbei, schwingen sich sofort wieder hinauf in hundert Meter Höhe – kierrrikrrkierriii!!!  – und blitzen silbern im ersten Morgenlicht auf. Die Balz der Seeschwalben hat begonnen! Die Ballettrevue startet!

Denn was diese Tiere vollführen, wenn sie balzen, ist an atemberaubender Geschwindigkeit, federleichter Eleganz und vor allem perfekter Synchronisation kaum zu übertreffen. Andere haben das schon besser beschrieben als ich, und deshalb zitiere ich Ihnen aus „Terns“ (=Seeschwalben) von David Cabot und Ian Nesbit, über den Balzflug der Seeschwalben (und in meiner einfachen Übersetzung):

„Es beginnt, wenn ein Vogel, der bereits in der Luft ist, anfängt schnell aufzusteigen, mit tiefen und manchmal ruckartigen Flügelschlägen; ein zweiter Vogel in der Nähe folgt ihm, und bisweilen schließen sich weitere der Verfolgung an. Die Vögel fliegen in weiten Kreisen aufwärts und formen sich überschneidende Helices mit meist 20 – 50 m im Durchmesser. Am Gipfelpunkt des Aufstiegs legt der führende Vogel die Flügel zusammen und gleitet abwärts. Der Schlüsselmoment im high flight ist the pass, in dem der zweite Vogel (gewöhnlich ein Weibchen) den voranfliegenden Vogel (gewöhnlich ein Männchen) überholt und gerade eben über ihm vorbeizieht. Anschließend gleiten die beiden Vögel gemeinsam abwärts und schwingen von Seite zu Seite, sodass ihre Flugbahn sich immer wieder kreuzt.“

The Pass? Das ist purer Tanz. Es ist eine Choreographie. Und es ist offensichtlich nach Seeschwalben- und Menschenmaßstab gleichermaßen schön.

Man kann das entzaubern wollen und sagen, das sei eben alles Instinkt, der Vogel tue nunmal das, was seine Gene ihm flüstern. Das kann gut sein. Aber dann müssen wir uns das von unserem Tanz auch sagen lassen – die etwas plumperen Annäherungsversuche unseres Geschlechts, ob Freestyle im Club oder beim gesitteten Tanz nach einem Galadiner, sind in letzter Konsequenz nichts anderes. Was man darüber hinaus darin sieht, liegt an jedem selbst. Ich finde, dass Körperliches nie so leicht wirkt wie im Tanz der Seeschwalben. Als Arzt kam mir einmal in einem ganz anderen Zusammenhang (nämlich beim Anblick der hauchzarten Kapillaren des Hirns durchs OP-Mikroskop) ein Ausdruck in den Sinn, der sich mir hier sonderbarerweise wieder aufdrängt: Feinste Kalligraphie der Materie. Genau so wirkt es, wenn Seeschwalben wie körperlos durch die Luft ziehen.

Während ich das hier tippe, toben sie – es sind Flussseeschwalben – über die Insel wie Irrwische. Ich kann kaum den Blick am PC halten, aber ich möchte diese Erfahrung mit Ihnen teilen; umso mehr, weil auch die Seeschwalben stark unter veränderten Umweltbedingungen, vor allem aber unter Lebensraumverlust leiden. Ein Meer ohne Fische macht keine Küstenseeschwalbe satt, der steigende Meeresspiegel nimmt Brandseeschwalben die letzten Sandbank-Refugien außerhalb des Nordseebadebetriebs, und ein Strand mit herumtollenden Hunden ruiniert den Jahresbruterfolg einer Kolonie seltener Zwergseeschwalben mitunter in Minuten.

Seeschwalben haben über ihre Schönheit hinaus eine ausgesprochen interessante Biologie. Ich könnte Ihnen stundenlang davon erzählen. Vielleicht folgt das einmal in einem anderen Beitrag. Aber dass sie jedes Jahr aus afrikanischen, gar antarktischen Gefilden wieder zu uns zurückkehren, erfüllt mich mit Staunen und Freude. Ich möchte noch einmal die Seeschwalbenforscher Cabot und Nesbit zitieren:

„Das wäre ein trauriger, trübsinniger Naturfreund, der bei einem Besuch am Meer keine nahe der Küste fliegenden und jagenden Seeschwalben fände, so eindrucksvoll schön und zu einem gewissen Grad spirituell erhebend.“*

Dem schließe ich mich an. Seeschwalben sind wundervoll.

 

*Wer übrigens auf Englisch in dem exzellenten Band lesen möchte: Terns (New Naturalist Library, Band 123), David Cabot und Ian Nesbit,‎ Harper Collins Publ. UK; First Edition (6. Juni 2013); ISBN: 0007412487

Unten ein paar Eindrücke (Flussseeschwalbe mit the pass & solo), leider etwas unscharf, ich hoffe aber, die Worte treffen es besser.

 

 

 

 

 

Invasion der Rotkehlchen II – Die Rückkehr

Sie kommen in der Nacht..

Sie sitzen vor deinem Fenster..

Sie beobachten dich, wenn du schläfst..

Du wirst nicht hören, wenn sie kommen..

Du wirst nicht merken, dass sie dich beobachten..

Sie sehen dich, bevor du sie siehst – und wenn du die Tür öffnest,…!

Ein Mann lebt einsam und zurückgezogen in einer Hütte fernab jeglicher Zivilisation. Es ist ein friedliches Leben. Doch das Unerwartete lauert bereits. Als er eines abends ins Bett geht, ahnt er nicht, dass mit der Nacht etwas über ihn kommen wird, dem er nichts entgegenzusetzen hat. Der Morgen graut. Es geht kein Wind. Die Welt wirkt wie ausgestorben. Doch da ist ein neues Geräusch. Auf dem Dach der Hütte kratzt etwas. Unter den Bodendielen huscht es hin und her. Schemenhafte Gestalten flirren an den Fenstern vorbei. Wendet er den Blick, sind sie verschwunden.. Vorsichtig steht er auf, späht, horcht. Er öffnet die Tür – und dann bricht es über ihn herein! Von allen Seiten schwirrt es, flattert um seinen Kopf, und ehe er sich versieht sind sie bereits in die Hütte eingefallen: Rotkehlchen! Schon sitzt eines im Bett. Ein anderes verrichtet sein Geschäft auf dem Lieblingsbuch. Zwei schwirren im Dachstuhl hin und her. Eines inspiziert die Küche. Etliche sitzen auf dem Geländer der Hütte, im Zwischendeck, im Lockgebüsch und feixen. Bis die Hütte wieder dem Einsiedler alleine gehört, ist ein schweißtreibender Kampf ausgefochten – und der arme Mann fast umgekommen, denn Rotkehlchen sind einfach wirklich zum Sterben niedlich.

Ich kann ich das nicht leugnen. Als das Rotkehlchen letztes Jahr in einer öffentlichen Wahl zum Vogel des Jahres gekürt wurde, hat das bei mir dennoch für etwas Verwunderung gesorgt. Seit 1971 steht dieser Titel einem Vogel zu, der, von einem Expertengremium gewählt, eine im Schwinden begriffene Art oder einen bedrohten Lebensraumes repräsentiert. Selbstverständlich ist auch das Rotkehlchen ein schützenswertes Tier! Überhaupt ist ja der Begriff „schützenswert“ problematisch, da immer aus menschlicher Perspektive gedacht. Aber in einer Reihe mit Wanderfalke und Turteltaube wirkt es doch ein wenig wie der Klassensprecher der 8c auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen – fand ich.

Meine Umfrage unter den Kolleginnen und Kollegen in der Klinik ergab folgendes Bild:

Hanna, grundsätzlich Rotkehlchen-Fan, fand, dass „sie schon genügend Fame haben“. Marcus setzte sich lieber für die Mehlschwalbe ein, „aufgrund ihrer unscheinbaren Schönheit, […] die auch auf Dauer Freude macht“, während Sophie den Wiedehopf bevorzugte. In der Kinderheilkunde also kein eindeutiges Votum für das Rotkehlchen. Und das trotz Kindchenschema!

Woher also die Beliebtheit? Vielleicht schlicht daher, dass Rotkehlchens zurückhaltende Schönheit so zugänglich ist? Ein orange leuchtender Federball auf weißer Schneedecke, der gläsern klare Gesang eines Rotkehlchens an einem sonnigen Wintertag, die Zutraulichkeit des kleinen Wesens beim Gartenumgraben – irgendetwas davon hat jeder schon erlebt. Kein Berg muss erklommen, keine Sturzseen ausgehalten werden, um diesen freundlichen Gast willkommen zu heißen. Dass so viele gleichzeitig auftauchen, ist übrigens dem Drängen des Zuggeschehens geschuldet. Normalerweise sind die so unschuldig dreinschauenden Racker winters wie sommers ziemlich territorial und vertreiben Artgenossen aus ihren Revieren (oder haben Sie schon einmal mehr als zwei Rotkehlchen am Vogelhaus beobachtet?).

Als ich eines der verflogenen Rotkehlchen hinausbrachte, bemerkte ich, dass sein Rücken gar nicht nur graubraun, sondern oliv überhaucht ist. Und das tiefschwarze Perlenauge – das hat eine warme, samtbraune Iris. Das Besondere liegt eben auch im Gewöhnlichen. Es geht wohl eher um die Fähigkeit, es dort sehen, als darum, an irgendeinem Ort etwas Seltenes aufspüren zu können.

Das Rotkehlchen ist also doch ein ziemlich guter Botschafter für die Anliegen der Vogelwelt. Und das bereits zum zweiten Mal, wie ich erstaunt feststelle. 1992 war es nämlich auch schon – durch Expertengremium gewählt – Vogel des Jahres.  Rotkehlchen – die Rückkehr!

(Den Vorgänger dieses todesniedlichen Blog-Schockers aus dem Jahr 2017 finden Sie übrigens hier https://blogs.nabu.de/trischen/invasion-der-rotkehlchen/).