Ballettrevue oder: Von der schwierigen Frage nach dem Lieblingsvogel

Jeder wird eines Tages konfrontiert mit den schwierigen Fragen des Lebens. Welchen Beruf soll ich ergreifen? Sollte ich heiraten? Möchte ich Kinder? Wie verbringe ich meinen Ruhestand? Das ist ja alles wirklich nicht einfach, aber im Leben eines Ornithologen gibt es eine Frage, die das alles an Komplexität, endlosen Abwägungen und impulsiven Umentscheidungen bei weitem in den Schatten stellt: Was ist dein Lieblingsvogel?

Und wie bei vielen Fragen im Leben stellt sich im Laufe der Zeit auch hier Klarheit ein. Das Schöne ist ja übrigens auch, dass man diese Frage immer wieder neu beantworten darf. Sie wird übrigens meistens von Nicht-Ornithologen gestellt, und ich habe das Gefühl, dass in meiner Antwort bisweilen die Rechtfertigung einer auf Außenstehende etwas skurril anmutenden Leidenschaft mitschwingt. Was also ist dein Lieblingsvogel, Till?

Ich  hole das Bild einer Flussseeschwalbe hervor (sh. Link) – ich finde, das erklärt alles. Gut, nicht ganz. Ich will es ausführen.

https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/voegel/portraets/flussseeschwalbe/

Eine Seeschwalbe ist zweifellos ein wunderschöner Vogel. In tiefem Schwarz zieht sich eine Kappe bis knapp über das dunkel funkelnde Auge und kontrastiert mit dem hellen Körper, der sich in Form und Farbe zur Brust hin verdichtet. Sie changiert hier je nach Art von silbrig weiß (Rosenseeschwalbe) über ein lichtes Hellgrau (Flussseeschwalbe) bis hin zu tiefem Gewittergraublau (Weißbartseeschwalbe). Die Brust scheint der einzige Punkt zu sein, in dem dieses ätherische Wesen irgendeine Form von Masse zusammenbringt. Überhaupt, die Form: Wenn der Blick einen Moment an den Linien des Vogels entlangwandert, merkt man schnell, dass man nicht an eine Möwe geraten ist. Zu sanft schwingen die Linien, zu schnell irgendwie, der Körper wirkt wie gezeichnet in einem einzigen schwungvollen Zug, und alles was an einer Möwe sperrig oder klobig wirken könnte, ist hier im Beieinander einiger Federn negiert.

Aber das ist nur ein Foto. Und damit in etwa so, als würde ich Ihnen den Zauber einer Ballettrevue durch das Bild einer Ballerina erklären wollen. Stellen Sie sich nun also bitte vor, dass dieses federleichte Geschöpf eines Apriltags plötzlich aus dem Süden herangerauscht kommt. Eines Morgens ist es – sind sie – da, denn es sind mehrere. Hoch in der Luft über der Hütte höre ich ein scharfes kierrrikriekri!!kipkipkip und stolpere noch im Schlafanzug heraus. Ich bin kurz geblendet vom gleißenden Sonnenaufgang. Aber dann fallen sie aus dem Licht; zwei, drei, vier, in einer gewaltigen Kurve sausen sie herab und scharf an mir vorbei, schwingen sich sofort wieder hinauf in hundert Meter Höhe – kierrrikrrkierriii!!!  – und blitzen silbern im ersten Morgenlicht auf. Die Balz der Seeschwalben hat begonnen! Die Ballettrevue startet!

Denn was diese Tiere vollführen, wenn sie balzen, ist an atemberaubender Geschwindigkeit, federleichter Eleganz und vor allem perfekter Synchronisation kaum zu übertreffen. Andere haben das schon besser beschrieben als ich, und deshalb zitiere ich Ihnen aus „Terns“ (=Seeschwalben) von David Cabot und Ian Nesbit, über den Balzflug der Seeschwalben (und in meiner einfachen Übersetzung):

„Es beginnt, wenn ein Vogel, der bereits in der Luft ist, anfängt schnell aufzusteigen, mit tiefen und manchmal ruckartigen Flügelschlägen; ein zweiter Vogel in der Nähe folgt ihm, und bisweilen schließen sich weitere der Verfolgung an. Die Vögel fliegen in weiten Kreisen aufwärts und formen sich überschneidende Helices mit meist 20 – 50 m im Durchmesser. Am Gipfelpunkt des Aufstiegs legt der führende Vogel die Flügel zusammen und gleitet abwärts. Der Schlüsselmoment im high flight ist the pass, in dem der zweite Vogel (gewöhnlich ein Weibchen) den voranfliegenden Vogel (gewöhnlich ein Männchen) überholt und gerade eben über ihm vorbeizieht. Anschließend gleiten die beiden Vögel gemeinsam abwärts und schwingen von Seite zu Seite, sodass ihre Flugbahn sich immer wieder kreuzt.“

The Pass? Das ist purer Tanz. Es ist eine Choreographie. Und es ist offensichtlich nach Seeschwalben- und Menschenmaßstab gleichermaßen schön.

Man kann das entzaubern wollen und sagen, das sei eben alles Instinkt, der Vogel tue nunmal das, was seine Gene ihm flüstern. Das kann gut sein. Aber dann müssen wir uns das von unserem Tanz auch sagen lassen – die etwas plumperen Annäherungsversuche unseres Geschlechts, ob Freestyle im Club oder beim gesitteten Tanz nach einem Galadiner, sind in letzter Konsequenz nichts anderes. Was man darüber hinaus darin sieht, liegt an jedem selbst. Ich finde, dass Körperliches nie so leicht wirkt wie im Tanz der Seeschwalben. Als Arzt kam mir einmal in einem ganz anderen Zusammenhang (nämlich beim Anblick der hauchzarten Kapillaren des Hirns durchs OP-Mikroskop) ein Ausdruck in den Sinn, der sich mir hier sonderbarerweise wieder aufdrängt: Feinste Kalligraphie der Materie. Genau so wirkt es, wenn Seeschwalben wie körperlos durch die Luft ziehen.

Während ich das hier tippe, toben sie – es sind Flussseeschwalben – über die Insel wie Irrwische. Ich kann kaum den Blick am PC halten, aber ich möchte diese Erfahrung mit Ihnen teilen; umso mehr, weil auch die Seeschwalben stark unter veränderten Umweltbedingungen, vor allem aber unter Lebensraumverlust leiden. Ein Meer ohne Fische macht keine Küstenseeschwalbe satt, der steigende Meeresspiegel nimmt Brandseeschwalben die letzten Sandbank-Refugien außerhalb des Nordseebadebetriebs, und ein Strand mit herumtollenden Hunden ruiniert den Jahresbruterfolg einer Kolonie seltener Zwergseeschwalben mitunter in Minuten.

Seeschwalben haben über ihre Schönheit hinaus eine ausgesprochen interessante Biologie. Ich könnte Ihnen stundenlang davon erzählen. Vielleicht folgt das einmal in einem anderen Beitrag. Aber dass sie jedes Jahr aus afrikanischen, gar antarktischen Gefilden wieder zu uns zurückkehren, erfüllt mich mit Staunen und Freude. Ich möchte noch einmal die Seeschwalbenforscher Cabot und Nesbit zitieren:

„Das wäre ein trauriger, trübsinniger Naturfreund, der bei einem Besuch am Meer keine nahe der Küste fliegenden und jagenden Seeschwalben fände, so eindrucksvoll schön und zu einem gewissen Grad spirituell erhebend.“*

Dem schließe ich mich an. Seeschwalben sind wundervoll.

 

*Wer übrigens auf Englisch in dem exzellenten Band lesen möchte: Terns (New Naturalist Library, Band 123), David Cabot und Ian Nesbit,‎ Harper Collins Publ. UK; First Edition (6. Juni 2013); ISBN: 0007412487

Unten ein paar Eindrücke (Flussseeschwalbe mit the pass & solo), leider etwas unscharf, ich hoffe aber, die Worte treffen es besser.

 

 

 

 

 

Till Holsten

Vogelwart 2022