High Noon

Man kann ja ohne Weiteres viel Schönes über Sonnenauf- und -untergänge sagen, über den Zauber ganz früher, vom Tage und seinen Geschäften unbehelligter Morgenstunden, oder über einen lauschigen Sommerabend. Ich selbst habe mich immer für einen Nachtmenschen gehalten (ornithologisch gesprochen: Auf dieser berühmten Skala von Lerche bis Eule bin ich zu 100% der ausschließlich nachtaktive Rauhfußkauz). Aber gerade bin ich der Mittagsstunde verfallen.

Liegt es an der Kälte der letzten anderthalb Monate? Noch gestern habe ich bei der Vogelzählung mit Wehmut und schmerzenden Fingern an die Handschuhe gedacht, die ich angesichts eines trügerisch samtig blauen, wärmeverheißenden Himmels in der Hütte liegen lassen hatte. Als würden diese vergangenen Kältetage als Echo in irgendeinem Resonanzraum unbekannter Zellen nachhallen, verlangt mein Körper nun mit Macht danach, sich durchglühen zu lassen. Das ist für mich eine neue Erfahrung. Im städtischen Leben mit seinem Nicht-Wetter verwässern die Unbilden unsteter März- und Apriltage; Regen, Kälte und Hitze geschehen eher um einen („draußen“) als an einem. Ich denke mit neuem Respekt an die Menschen vergangener Tage und ferner Länder, denen das frühe Aufstehen in einer eiskalten Kammer und das Aufnehmen ihrer Arbeit – zumal, wenn man selbst derjenige ist, der den Kamin befeuern muss! – über Monate hinweg tägliche Routine war und ist. Das ist auch bei uns nicht lange her, noch meine Oma hat ihre Kinder- und Jugendtage auf einem Hof auf diese Weise zugebracht.

Aber nun die göttliche Mittagsstunde, die, ganz ohne Arbeit und Zutun meinerseits, den Körper durchwirkt und ihm ungefragt schenkt, wonach er sich verzehrt. Kein kraftraubendes Holzhacken. Keine vier Schichten Klamotten am unbeweglichen Leib. Händewaschen mit Wasser, das mehr als fünf Grad hat. Man kann sich leicht vorstellen, warum Sonne und Frühling seit Urzeiten Gegenstand menschlicher Verehrung sind. Als würde die Natur diesen Moment würdigen, ist dies auch die Stunde, in der eine seltsame Stille über die Insel kommt. Zwar kreischen über mir die Seeschwalben, aber sie fahren durch eine Luft, in der irgendetwas anderes schweigt, das sonst da ist. Manchmal sind auch sie plötzlich verschwunden. Das ist der Moment, in dem der Wiesenpieper sich auf einen Pfahl in der Salzwiese vor mir setzt und seine einfachen Geschichten erzählt. Wit-wit! Zit-zit-zit-zit-zit. Schipp.. Und ich freue mich, wenn mir dieser inzwischen so vertraute Vogel ein neues Wort aus seinem oberflächlich betrachtet etwas eintönig wirkenden Repertoire beibringt. Wenn man ihm eine Weile zuhört, ist da noch mehr.

Selbst wenn man sich sehr hütet, Tiere zu vermenschlichen: Es liegt doch nahe, dass der kleine Sänger mit der cremefarbenen, braungetupften Brust und der (nur manchmal singende) Vogelwart mit den blaugestreiften Schlappen auf einer ganz basalen Ebene etwas teilen: Das Gefühl, dass Wärme gut tut, und dass das Leben leichter ist, wenn nicht mehr Winter und Kälte herrschen, sondern für einige Monate lang das Licht das Szepter führt.

Unten finden Sie das Portrait meines freundlichen Compadres aus dem Text. Dass die Natur, die jedes Jahr eine Insel neu formt, auch an mir ihre Arbeit tut, sieht man am Bild darunter: Meine Hände wirken inzwischen, als kehrte ich gerade von einer Seereise bis mindestens Tahiti zurück (vom hier nicht abgebildeten U-Boot-Fahrer-Bart ganz zu schweigen..) – und die vornehme Blässe der Füße wird auch bald weichen!

Till Holsten

Vogelwart 2022