2022 Beiträge

1 Meter unter Wasser – die Frisur hält!

Erinnern Sie sich noch an diese Werbung aus den 90ern, in der eine hochgewachsene Dame in wichtiger Mission uns bei verschiedenen Wetterlagen vom Wert des richtigen Haarsprays überzeugen soll? „White Horse, Alaska – 23 Grad Minus und Orkanböen – die Frisur hält!“ Oder so ähnlich ging das.

Ziemlich oberflächlich, denkt man ja. Aber ich habe heute gelernt, dass ich den Wert der richtigen Frisur offensichtlich mein Leben lang unterschätzt habe. Leute, die mich kennen, haben das vielleicht bereits vermutet – aber lassen wir das. Die Geschichte geht so:

Ich hatte Ihnen ja vom Sommerhochwasser erzählt. Leider gab es recht bald nach dem letzten ein weiteres, das noch ein gutes Stück höher aufgelaufen ist. Schlussendlich haben doch noch etliche Vogelpaare ihre Gelege verloren. Da die höher liegenden Anteile der Insel aber trocken geblieben sind, konnten die bereits geschlüpften Küken flüchten (sie turnen jetzt wieder durch die Salzwiese). Aber was, wenn man nicht so lange Beine hat wie ein Rotschenkel? Was wenn man, sagen wir – eine Raupe ist?

Im Frühjahr sind die Wiesen auf Trischen über und über bedeckt mit einer der schönsten Raupen unserer Breiten. Es ist der Wolfsmilch-Ringelspinner: Auf einem pelzigen Körper in vornehmsten Rot- und Brauntönen schimmern taubenblaue Flanken, in der Mitte zieht sich wie eine Lebensader ein wunderhübsch kontrastierendes, leuchtend oranges Band. Als Schmetterling sieht das Tier dann aus wie ein dicker, brauner Teddy. Den zeige ich Ihnen dann später auch noch. Aber erstmal müssen die Raupen nun fressen, fressen, fressen. Also ab in die Salzwiese und ran an den Strandwegerich!

Aber gefressen wird nicht, ohne einen Preis dafür zu zahlen. Für die Insekten, die die produktive Vegetation der Salzwiese als Nahrungsgrundlage nutzen, heißt das im Gegenzug: Verluste durch Sommerhochwasser müssen einkalkuliert werden. Als die Flut am Abend des 28.05. auflief, sorgte ich mich also nicht nur um die Gelege der Seeschwalben – hing doch an fast jedem Halm eine dicke Raupe! Und nun sollte das Wasser hinfort nehmen, was wenige Wochen später hätte fliegen können…

Um so mehr war ich erstaunt, als am Abend danach, die Raupen wieder an Ort und Stelle waren, als wäre nichts gewesen. Wie hatten sie das gemacht? Ich muss zugeben, dass ich zufällig auf die Lösung gestoßen bin, als ich im Rahmen einer anderen Frage (es ging um schwer bestimmbare Schmetterlinge der Salzwiese) recherchierte. Plötzlich stand da ein Artikel mit diesem Namen:

Air-entrapping capacity in the hair coverage of Malacosoma castrensis (Lasiocampidae: Lepidoptera) caterpillar: a case study

…also zu Deutsch: „Die Fähigkeit zur Luftbindung in der Behaarung von Malacosoma castrensis-Raupen: Eine Fallstudie“ …und wenn man jetzt noch weiß, dass sich hinter dem rätselhaften lateinischen Namen nichts anderes verbirgt als eben unser Wolfsmilch-Ringelspinner, wird die Sache schnell klar.

Die Raupe bindet zwischen ihren auffälligen dichten Haaren einfach einen Luftsack, wenn sie überspült wird. Der Sauerstoff darin reicht aus, um eine Tidephase problemlos zu überstehen. Sie wird dabei nicht einmal nass.

Nun sollen wissenschaftliche Ergebnisse ja reproduzierbar sein..also kurzum, ich hab’s ausprobiert, und unten sehen Sie das Resultat. Man erkennt wunderschön die Luftblase, die sich durch die schlichte Physik des Nebeneinanders von Wasser, Sauerstoff und tausender Härchen bildet und wie eine Taucherglocke die gesamte Raupe umschließt. Ich habe sie nach dem Foto selbstverständlich sofort wieder an den Strandwegerich gesetzt; sie fraß weiter, als wäre nichts passiert. Die Frisur hält also nicht nur – sie hält unter Umständen sogar am Leben!

Und ich bin wieder einmal beeindruckt davon, dass offensichtlich die wenigsten Dinge zufällig so sind, wie sie sind. Und fahre mir sinnend mit den Fingern durch den Bart. Hm!

Der wissenschaftliche Artikel ist 2020 im Journal of Experimental Biology veröffentlich worden, Sie finden ihn hier:

https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32527961/

 

Auf ein Glas Wein?

Ich hatte Ihnen ganz zu Anfang versprochen, dass wir auch mal gemeinsam einen Abend in der Hütte verbringen werden. Nun, heute ist‘s so weit. Es ist Samstag, draußen heult der Sturm und ich habe mir ein Glas Wein eingeschenkt. Stoßen wir an?

Stellen Sie sich vor: Die ganze Hütte singt im Wind. Es säuselt, es pfeift und heult in allen Tonlagen. Wenn man abends im Bett liegt und die Aufmerksamkeit sich auf die Geräusche im Dunkeln richtet, bekommt man fast das Gefühl, dass das Holz mit einem riesigen Tier Zwiesprache hält, das nachts aus dem Meer steigt und in der Salzwiese umherstreift.. Aber so weit ist es noch nicht.

Aus dichten Wolkenbänken, die Grau auf Grau türmen, fallen verwehte Regentropfen in den Abend. Langsam sammelt sich im Schutz der Dünen wie in wachsenden Pfützen die Dunkelheit. Erst liegt sie noch als flacher Schatten unter Andelgras und Hüttenpfosten. Dann steigt sie langsam daran empor, richtet sich schließlich zu voller Größe auf – als wenn sie erwacht! – , und endlich versinkt die Insel in Nacht. Bald ist nur noch ein einziger Lichtpunkt zu sehen: Eine Kerze, die ich in eine Weinflasche gesteckt habe, verbreitet still ihren Schein. Das warme Leuchten meiner kleinen Schreibtischlampe, die angeschaltet bleiben muss, weil eine winzige Spinne noch ihrer Bestimmung harrt, gibt ihr etwas mehr Kraft. Doch was ist schon dieses verlorene Leuchten inmitten der See? Da draußen ist nur die Salzwiese, in der der Rotschenkel nach seinen Jungen ruft. Dann kommt die Düne. Ihr Bewuchs von Strandhafer wurde am Abend vom Wind gekämmt wie ein kleines Kind vor dem Zubettgehen. Dahinter liegt nur noch das Meer.

Eine tüchtige Portion Bratkartoffeln, die ich mittlerweile in so vielfältigen Variationen zubereite wie die See ihre Wellen (die richtige Pfanne ist das Geheimnis..), ist die Grundlage für manch ernstes und manch heiteres Gespräch mit dem Tagebuch. Und ein Glas Wein aus dem guten alten Senfkristall gibt mir zuverlässig die besseren Argumente ein als dem immer kritischen Gegenüber aus Papier.

Kaum setze ich an zu schreiben, bollert der Kamin; er beschwert sich, das Holz genügt nicht seinen Ansprüchen. Ist gut, alter Knabe. Hier hast du was Besseres! Bald ist die Hütte, meine kleine, leuchtende Kapsel aus Holz, in wohlige Wärme getaucht. Der dicke, graue Wollpullover tut ein Übriges zur Behaglichkeit. Im Regal locken ein paar gute Bücher. Regen prasselt ans Fenster. Es wird es Zeit für die Koje…Das ist ein kalter Maiabend auf Trischen – fühlen Sie es?

Und während draußen der Sturm weiter sein endloses Lied heult, träume ich davon, wie ich beim Gang durch die Salzwiese ein paar Blätter vom in der Wärme duftenden Strandwermut zwischen den Fingern zerreibe, träume vom Wind, der den Sand zeichnet, und vom wilden Ruf der Brandseeschwalbe, die irgendwo da draußen darauf wartet, sich in den neuen Morgen zu schwingen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht!

Trutz, blanke Hans?

Vergangenen Samstag ist eine Kolonie von Lachmöwen und Flussseeschwalben untergegangen. Das ist kein ungewöhnliches Phänomen (auch Anne Evers berichtete hier https://blogs.nabu.de/trischen/tag/hochwasser/ darüber). Aber die Szenen, die sich abspielten, waren schon herzzerreißend, auch für einen abgebrühten Naturkundler. Man kann anhand eines solchen Ereignisses allerdings einiges erklären. Und deshalb versuche ich Sie nun durch meinen Augen den Nachmittag des 21. Mai 2022 erleben zu lassen. Also – Katastrophenfilm ab!

Den ganzen Tag schon hatten starke Westwinde geweht. Gerade hatte ich mich noch gefreut, denn auf ihren wilden Lüften waren zwei Basstölpel, im Synchronflug wie mit unsichtbaren Fäden verknüpft, den Strand entlang gesaust. Des einen Freud, des andren Leid: Als ich mich umdrehte, bot sich mir ein Bild der Panik.

Etwa hundert Meter südlich der Hütte hat sich in der Salzwiese eine Brutgemeinschaft aus Lachmöwen und Flussseeschwalben angesiedelt. In ihrem Umfeld versuchen auch einige Paare Austernfischer und Rotschenkel ihr Glück. Die Kolonie schmiegt sich in die Südostbucht, ihr äußerster Rand schließt ziemlich genau mit der Vegetationskante ab, bevor kurz darauf das Watt beginnt. Von dieser Kante war aber nichts mehr zu sehen. Sie stand bereits tief unter Wasser – darüber kreischten in heller Aufregung hunderte Vögel, deren Gelege im Begriff waren, unterzugehen. Und es war noch eine Stunde bis Hochwasser…Flussseeschwalben sausten hin und her, völlig unfähig, den vordringenden Fluten mit ihren aufgeregten Schreien Einhalt zu gebieten; dazwischen flatterten wie große weiße Schmetterlinge Lachmöwen auf der Stelle und blickten ängstlich auf das untergehende Nest zu ihren Füßen. Besonders gerührt hat mich ein Paar Austernfischer, das sich schließlich eng aneinander kuschelte, als die Flut immer näher rückte. Sie hielten auf ihrem Gelege aus, bis das Wasser ihnen fast bist zum Bauch stand. Der menschliche Blick mag da einiges verklären, aber ich glaube es ist nicht zu weit hergeholt, zu vermuten, dass sie angesichts der Gefahr das Bedürfnis nach Geborgenheit und Halt verspürten.

Ich konnte noch eine weitere Beobachtung machen, die ich verhaltensbiologisch sehr interessant fand: Einige Lachmöwen begannen nämlich plötzlich, mitten im Chaos, Nistmaterial einzutragen. Natürlich stellt sich sofort der Gedanke ein: Na klar, die wollen schnell ihr Nest ein Stück höher bauen! Und wirklich ist bei Zwergseeschwalben beschrieben worden, dass sie ihr Gelege innerhalb kürzester Zeit bis zu 10 Zentimeter „hochbuddeln“ können, wenn Flugsand es zu begraben droht. Aber ganz so einfach ist es nicht. Denn „Nestbauaktivitäten“ beobachtet man bei Vögeln (und sogar Fischen!) auch als sogenannte Übersprungshandlung, wenn sie, zum Beispiel in einem Kampf an der Grenze ihres Reviers, nicht so recht wissen, ob sie fliehen oder angreifen sollen. Dann gähnen sie plötzlich, putzen sich oder picken nach Gras, ganz als würden sie ein Nest bauen, scheinbar völlig aus dem Kontext gegriffen. Das ist besonders gut für Silbermöwen und Dreistachlige Stichlinge beschrieben, und Niko Tinbergen hat sogar einen Nobelpreis, unter anderem für diese Beobachtungen, erhalten. Wenn Menschen trippeln, pfeifen usw. ist das vielleicht nichts so viel anderes. Ich bin mir also nicht ganz sicher, was die Lachmöwen wirklich dazu trieb, aber sie können es sich unten auf den Fotos einmal ansehen. Gerettet hat es sie nicht.

Als das Wasser wieder ablief, kehrte schließlich Ruhe ein und ich war ein bisschen traurig. Allerdings sind die meisten Küstenvögel an solche Ereignisse angepasst. Viele können ein zweites Gelege beginnen, manche wechseln dafür den Koloniestandort (ich habe am Folgetag gesehen, dass auch eine ganze Reihe übrig geblieben sind). Aber warum brüten sie denn überhaupt an so einer riskanten Stelle? Einfache Antwort: Weil es auch Vorteile hat. Trischen mag gelegentliche Sommerhochwasser erleben, aber dafür gibt es hier keinen Fuchs. Und warum dann nicht wenigstens ein bisschen höher auf dem Dünenkamm? Auch nicht so klug – denn da sitzen die Großmöwen, die nur allzu gerne Eier und Küken fressen würden. Die Stelle „auf der Kante“ ist also gar nicht so unklug gewählt. Unnötig zu erwähnen, dass klimawandelbedingt immer häufigere und höhere Hochwasser – und vor allem mangelnde Ausweichmöglichkeiten – schließlich doch limitierend für den Erhalt einer Art werden. Deshalb ist ein Raum wie Trischen so wichtig!

Übrigens – wir Menschen machen es nicht anders. Schließlich siedeln auch wir an der Küste. Vorteile bringt es ja auch für uns mit sich: Fruchtbare Böden, Handelsmöglichkeiten, Fischreichtum – und auch wir müssen gelegentlich einen Preis dafür zahlen. Nur ein Beispiel:

Mitte des vierzehnten Jahrhunderts lief es ohnehin nicht so gut für die Menschen in Mitteleuropa. In die Häuser der durch eine kleines Eiszeit mit Ernteausfällen geschwächten Bevölkerung kroch der schwarze Tod. Und nachdem die Pest überstanden war, brach 1362 schließlich eine Sturmflut nie dagewesenen Ausmaßes (der „blanke Hans“) über die „Uthlande“ der Nordsee herein. Etliche tausend Menschen kamen  in der „groten Mandränke“ um; übrig blieb das, was wir heute als die nordfriesischen Inseln kennen. Umsiedeln? Ausweichen? Nicht immer möglich. Und was hier bei mir Lachmöwen erleben, passiert den Menschen in Bangladesch und Ozeanien schon heute. In Detlev von Liliencrons berühmtem Gedicht wird aus dem allzu selbstbewussten „Trutz, blanke Hans!“ in der letzten Zeile eine Frage.

 

Bild 1: Kolonie in Panik. Zwischen den Grasbulten steht gewöhnlich auch bei Flut kein Wasser. An diesem Tag ist es etwa 50 cm höher als sonst angestiegen.

Bild 2: Lachmöwen tragen Nistmaterial ein.

Bild 3: Rat- und hilflose Austernfischer, darüber warnende Flussseeschwalbe.

Jurassic Trischen

Als Jurassic Park 1993 in die Kinos kam, war ich gerade sechs Jahre alt. Selbstverständlich durfte ich den Film, in dem sich ein buntes Dino-Allerlei an den Parkbesuchern gütlich tut, nicht sehen. Für einen kleinen Jungen, der ganze Herden von Gummidinosauriern hegte und pflegte (und die größeren Exemplare sogar an einer Leine über den Campingplatz zog), bedeutete das eine harte Zumutung, denn ich war wirklich vernarrt in die Biester. Meine Mutter kann heute noch fehlerfrei Namen wie Micropachycephalosaurus aussprechen.

Vor einigen Tagen stehe ich bei der Brutvogelkartierung am Nest einer Mantelmöwe. Plötzlich bin ich in die Zeit meiner Dino-Magazine zurückversetzt: Mir geht schlagartig auf, wie sehr dieses Nest jenen auf den Abbildungen von fossilen Dinosauriernestern, die in der Mongolei oder in Kanada gefunden wurden, ähnelt. Diesen Geistesblitz hatten andere natürlich schon vor mir. Paläontologen haben nachgewiesen, dass Dinosaurier nicht nur Nester bauten, sondern auch Brutpflege betrieben – und es gibt sogar Funde von mit Federn gepolsterten Nestern! Sie haben sicherlich auch schon einmal davon gehört, dass die Vorfahren der heutigen Vögel die Dinosaurier sind. Man kann es auch pointierter ausdrücken: Unsere Vögel sind die direkten Nachfahren der Dinosaurier. Noch mehr: Nach aktuellem Stand der Stammesgeschichte sind Vögel Dinosaurier.

Dass diese in der Folge eines Asteroideneinschlags vor 65 Millionen Jahren sämtlich umkamen, ist nämlich nicht die ganze Wahrheit. Die kurze Erzählung geht so: Aus dem großen Stamm der Dinosaurier gingen irgendwann zweibeinige Raubsaurier, die sogenannten Theropoden hervor. Zu ihnen gehörten so ikonische Arten wie Tyrannosaurus rex und Velociraptor. Einige von ihnen entwickelten in einem Jahrmillionen andauernden Prozess Federn und schließlich die Fähigkeit zu fliegen. Aber er hat sich gelohnt: Während alle ihre Verwandten ausstarben, überlebten genau diese gefiederten Leichtgewichte die ausgeprägten Umweltveränderungen. Genau wie ihre Urgroßeltern legten auch sie weiter Eier. Heute nennen wir sie Vögel. Und nun stehe ich verhinderter Paläontologe hier vor meinem Mantelmöwennest.

Ich werfe also einen vorsichtigen, neuen Blick auf die mich aus sicherer Entfernung skeptisch musternden Möwen. Eine von ihnen, stolze Urururururunekelin von T-Rex, „brüllt“, und ich finde, dass die Ähnlichkeit frappierend ist. Sollten die untenstehenden Bilder Sie nicht überzeugen, sehen Sie sich mal den Fuß eines Huhnes an. Oder, falls Sie gerade keines zur Hand haben, googlen Sie „Kasuar Fuß“. Überzeugt? Mit etwas Gänsehaut und erdgeschichtlich-nostalgischen Gedanken trete ich den Rückzug an.

In Jurassic Park (ich habe dann später heimlich das Buch gelesen) besteht der Witz der Erzählung darin, dass eine Neuzüchtung mithilfe von Dino-Erbmaterial gelingt. In der Geschichte wird dieses aus Mücken gewonnen, die DNA-haltiges Dino-Blut gesaugt hatten und danach in Harz eingeschlossen wurden, das durch Versteinerung zu Bernstein wurde. Bernstein angebohrt, Mücke ausgesaugt – Dino fertig! Aber so einfach ist es in Wirklichkeit nicht. Aus meiner eigenen Laborerfahrung weiß ich, dass DNA selbst aus frischen Biopsien nicht immer gut zu verwerten ist. Geschweige denn, man versucht ein 65 Millionen Jahre altes Molekül zu rekonstruieren und daraus ein Lebewesen zu machen..

Der Gedanke ist ja verführerisch: Wenn so viele Arten aussterben, können wir sie doch später einfach wieder neu erschaffen. Einige Forscher versuchen das gerade mit Mammuts. Ich finde, diese teuren und zeitaufwendigen Bemühungen verkennen, dass wir uns vor allem anstrengen sollten, bestehende Ökosysteme zu erhalten. Übrigens lehrt die Geschichte der Dinos auch, dass Arten sich nicht „mal eben“ anpassen können, auch wenn einige wenige die erdgeschichtlichen Katastrophen überleben. Dass die Möwen mich beim Nestbesuch nicht gefressen haben liegt daran, dass zwischen der Mantelmöwe Larus marinus und Tyrannosaurus rex eben doch ein paar Jahrmillionen liegen. Die vielzitierte Anpassung im evolutionären Sinne braucht Zeiträume, die den Teil der Erdgeschichte, der für den Menschen relevant ist, bei weitem übersteigen, und die bei den schnellen Veränderungen, die wir dem Planeten aufbürden, in der Regel nicht mithalten.

Neben den Vögeln gehören zu Trischen auch Strandfunde. Nun spülte mir der Zufall neulich einen recht großen Bernstein vor die Füße. Ich weiß ja, dass das alles Hirngespinste sind. Aber manchmal, abends, halte ich ihn ins Licht der Lampe und schaue, ob nicht vielleicht doch eine Mücke…nun ja. Aber der kleine Junge in mir hätte so gerne einen Velociraptor!

 

Im Bild brüllender Tyrannosaurus vs. Heringsmöwe (Stellen Sie sich mal kleine Ärmchen an der Möwe vor! Ein Mantelmöwenbild habe ich leider gerade nicht parat). Darunter rechts Fossilfund eines brütenden Citipati-Dinosauriers auf seinem Nest mit Eiern. Das Fossil heißt „Big Mama“ und ist im American Museum of Natural History in New York ausgestellt. Links das Nest der Mantelmöwe – nebenan waren schon zwei Küken geschlüpft. Ganz unten der Bernstein.

 

Bildreferenz Dinosauriernest:

By ★Kumiko★ – https://www.flickr.com/photos/kmkmks/6188900283/, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=96895479

 

 

 

 

 

 

 

Mein Manifesttag

Liebe LeserInnen,

heute gibt es einen Blogeintrag, der vom herkömmlichen Schema abweicht. Ich verrate später, warum ich mir das herausnehme. Den Bogen zu Trischen schlagen Sie wahrscheinlich bereits selbst beim Lesen. Danke für Ihre Geduld!

Ich kann sehr dankbar sein: Seit ich denken kann, habe ich einen Freund. Dieser Freund hat inzwischen einen zweijährigen Sohn. Sie können sich vorstellen, dass das ein gar herziger Bub ist, dessen Gedeihen und Zukunft mir sehr am Herzen liegen. Und dieser Sohn hat ein Gute-Nacht-Buch, in dem allerlei Tiere auftauchen: Da ist die Rede von Elefanten, die sehr schnell laufen, von Löwen, die ganz viel raufen; der Reihe nach hat jede diese berühmt-vertrauten Tiergestalten aus Kindertagen ihren Auftritt und am Ende sagen sich alle Gute Nacht. Schön. Beim Vorlesen ging mir auf, dass der Kleine mit großer Wahrscheinlichkeit in einer Welt leben wird, in der es diese Tiere nicht mehr gibt, wenn er so alt ist wie ich jetzt.

Nun fällt Afrika ja nicht direkt in meinen Zuständigkeitsbereich. Aber die Natur ist weltweit auf dem Rückzug. Irgendwann nach meinem Gutenachtbucherlebnis stieß ich in einem anderen Buch auf ein Kapitel mit dem Namen „Vom Tod der Kindheitstiere“. Ich war wie gebannt: Hier wurde Wort für Wort mit Daten untermauert, was sich in mir als diffuses Gefühl eingestellt hatte. Unter Verweis auf etliche Quellen tauchen sie alle wieder auf: Afrikanische Elefanten (Noch 1.7 Millionen in den 70er Jahren, aktuell etwa 350.000), Tiger (97% Verlust im vergangenen Jahrhundert), Löwen (96% Verlust, gleicher Zeitraum). Aber es trifft auch die bei uns lebenden Tiere: Bestände von ehemaligen Allerweltsarten wie Feldlerche, Rebhuhn, Kiebitz und Star befinden sich seit Jahren im freien Fall. Und die Liste lässt sich beliebig verlängern.

Das Buch heißt „Das Ende der Evolution“ und wurde von Matthias Glaubrecht verfasst. Glaubrecht ist Direktor des Zentrums für Naturkunde in Hamburg (Cenak). Sein Buch wirkt wie in Wut geschrieben. Den Titel verdankt es der erschreckenden Tatsache, dass neben dem Verlust der Arten auch die Gesamtzahlen der Wildtiere rapide abnehmen. Seit 1970 hat sich der Gesamtbestand wildlebender Tiere um durchschnittlich 68% verringert. Wissen Sie, wie groß der Anteil von Haustieren, also Rindern, Schweinen, Hühnern usw. an allen Tieren dieser Welt ist? Schätzen Sie mal. Es sind, je nach Studie, ungefähr 95%. Von hundert Tieren dienen 95 der Ernährung von Menschen. Der Rest ist das, was von Natur bleibt.

Teuflisch, dass uns das meist nicht einmal bewusst ist. Denn die jeweils nächste Generation kennt ja bereits nur eine noch arten-, tier- und pflanzenärmere Welt. Das Problem nennt man generation shift. Für mich ist es schon Normalzustand, dass keine Zwergseeschwalben mehr entlang unserer binnenländischen Flüsse brüten, dass der Schlangenadler in Deutschland ausgestorben ist und dass ich erst mit Mitte zwanzig das erste Mal einem Feuersalamander begegnet bin. Die nächste Generation wird in einer Welt ohne Kiebitz und Feldlerche leben. Und die übernächste? Bleiben irgendwann nur noch Menschen, irgendwo zwischen Autobahnen und in glattgeschliffenen Städten, sich selbst das Maß aller Dinge?

Diese Vision verkennt, dass wir als Menschheit ohne Natur nicht überlebensfähig sind. Eine Welt „nur mit Menschen“ würde nicht funktionieren. Wenn ich Schwebegarnele und Goldregenpfeifer für unser Überleben verantwortlich mache, klingt das zunächst weit hergeholt. Aber wer – jüngst so gelesen und hier sinngemäß wiedergegeben – moniert, dass „da ja nur wieder irgendwelche Naturschützer ihre [!] dreifach gefleckte Tümpelunke“ bewahren wollen, hat offensichtlich immer noch nicht verstanden, dass wir Teil eines Netzwerkes sind. „Mein“ Goldregenpfeifer ist eben nicht vergleichbar mit irgendeinem persönlichen Hobby wie, sagen wir, einer Modelleisenbahn im Keller. Ein Netz mit nur einer Masche ist kein Netz mehr.

Trischen ist seit mehreren Jahrzehnten sich selbst überlassen. Ich habe das riesige Privileg, wenigstens einmal in meinem Leben weitestgehend (sieht man von Plastikmüll, Ölbohrinsel in Sichtweite usw. ab) intakte Natur zu erleben und Ihnen davon berichten zu dürfen. Es ist wundervoll, dass es diesen Ort gibt. Aber Trischen wird nicht reichen. Experten gehen davon aus, dass bis zu 30% der Fläche aller Ozeane und Landmassen unter Schutz gestellt werden müssen, damit die Natur dauerhaft eine Chance hat – und wir mit ihr. Es wird viel Engagements und vieler kluger Köpfe bedürfen, um dies mit den Bedürfnissen einer weiterhin wachsenden Weltbevölkerung in Einklang zu bringen.

Deshalb bitte ich Sie heute: Engagieren Sie sich. Engagieren Sie sich in den Naturschutzverbänden für den Erhalt von Lebensräumen und Artenfvielfalt. Engagieren Sie sich gegen Armut. Menschen müssen eine Chance zum Überleben haben, ohne gezwungen zu sein Natur zu zerstören. Engagieren Sie sich gegen die absurden Auswüchse von zu viel Reichtum mit all den sinnlosen, ressourcenfressenden und zerstörerischen Ansprüchen, die er mit sich bringt. Oder teilen Sie diesen Blog oder diesen Eintrag.

Nun bin ich heute 35 Jahre alt geworden. In diesen 35 Jahren sind knapp 30 Vogelarten ausgestorben und ein erheblicher Prozentsatz des wilden Lebens auf der Erde verschwunden. Das darf nicht so weitergehen. Der Zufall bringt es mit sich, dass ich gerade einige Menschen mit meinen Gedanken erreichen kann – sehen Sie mir bitte nach, wenn ich Ihnen diese nun aufbürde. Es ist mir eine Herzensangelegenheit.

Zu guter Letzt: Ich schreibe Ihnen das nicht nur als Naturschützer (Sie wissen, der mit „seiner“ Irgendwaskröte). Ich schreibe Ihnen das auch als Kinderarzt. Mein Projekt wird sinnlos, wenn ich die Kinder nicht in eine Welt entlassen kann, die ihnen eine lebenswerte Zukunft bietet. Für die Generation nach mir wünsche ich mir eine Welt mit Kiebitzen. Mit Feldlerchen. Und mit Löwen nicht nur im Bilderbuch!

Ich danke Ihnen, wirklich, sehr, sehr für’s Lesen. Und ich verspreche Ihnen, dass es das nächste Mal wieder etwas Schönes gibt. Denn ich will nicht müde werden von dem zu erzählen, was wir verlieren, wenn wir uns nicht verdammt anstrengen.

Herzlichst,

Ihr

Till Holsten

Zum Weiterlesen: Matthias Glaubrecht, Das Ende der Evolution, Pantheon, ISBN 3570102416

(genauere Quellenangaben zu den Zahlen folgen!)

Unten ein Kleinod, das bald verloren gehen könnte: Die wunderschöne Zwergseeschwalbe, die in Deutschland als vom Aussterben bedroht gilt. Mit etwa dreißig bis vierzig Brutpaaren darf ich die Insel teilen.