1 Meter unter Wasser – die Frisur hält!
Erinnern Sie sich noch an diese Werbung aus den 90ern, in der eine hochgewachsene Dame in wichtiger Mission uns bei verschiedenen Wetterlagen vom Wert des richtigen Haarsprays überzeugen soll? „White Horse, Alaska – 23 Grad Minus und Orkanböen – die Frisur hält!“ Oder so ähnlich ging das.
Ziemlich oberflächlich, denkt man ja. Aber ich habe heute gelernt, dass ich den Wert der richtigen Frisur offensichtlich mein Leben lang unterschätzt habe. Leute, die mich kennen, haben das vielleicht bereits vermutet – aber lassen wir das. Die Geschichte geht so:
Ich hatte Ihnen ja vom Sommerhochwasser erzählt. Leider gab es recht bald nach dem letzten ein weiteres, das noch ein gutes Stück höher aufgelaufen ist. Schlussendlich haben doch noch etliche Vogelpaare ihre Gelege verloren. Da die höher liegenden Anteile der Insel aber trocken geblieben sind, konnten die bereits geschlüpften Küken flüchten (sie turnen jetzt wieder durch die Salzwiese). Aber was, wenn man nicht so lange Beine hat wie ein Rotschenkel? Was wenn man, sagen wir – eine Raupe ist?
Im Frühjahr sind die Wiesen auf Trischen über und über bedeckt mit einer der schönsten Raupen unserer Breiten. Es ist der Wolfsmilch-Ringelspinner: Auf einem pelzigen Körper in vornehmsten Rot- und Brauntönen schimmern taubenblaue Flanken, in der Mitte zieht sich wie eine Lebensader ein wunderhübsch kontrastierendes, leuchtend oranges Band. Als Schmetterling sieht das Tier dann aus wie ein dicker, brauner Teddy. Den zeige ich Ihnen dann später auch noch. Aber erstmal müssen die Raupen nun fressen, fressen, fressen. Also ab in die Salzwiese und ran an den Strandwegerich!
Aber gefressen wird nicht, ohne einen Preis dafür zu zahlen. Für die Insekten, die die produktive Vegetation der Salzwiese als Nahrungsgrundlage nutzen, heißt das im Gegenzug: Verluste durch Sommerhochwasser müssen einkalkuliert werden. Als die Flut am Abend des 28.05. auflief, sorgte ich mich also nicht nur um die Gelege der Seeschwalben – hing doch an fast jedem Halm eine dicke Raupe! Und nun sollte das Wasser hinfort nehmen, was wenige Wochen später hätte fliegen können…
Um so mehr war ich erstaunt, als am Abend danach, die Raupen wieder an Ort und Stelle waren, als wäre nichts gewesen. Wie hatten sie das gemacht? Ich muss zugeben, dass ich zufällig auf die Lösung gestoßen bin, als ich im Rahmen einer anderen Frage (es ging um schwer bestimmbare Schmetterlinge der Salzwiese) recherchierte. Plötzlich stand da ein Artikel mit diesem Namen:
Air-entrapping capacity in the hair coverage of Malacosoma castrensis (Lasiocampidae: Lepidoptera) caterpillar: a case study
…also zu Deutsch: „Die Fähigkeit zur Luftbindung in der Behaarung von Malacosoma castrensis-Raupen: Eine Fallstudie“ …und wenn man jetzt noch weiß, dass sich hinter dem rätselhaften lateinischen Namen nichts anderes verbirgt als eben unser Wolfsmilch-Ringelspinner, wird die Sache schnell klar.
Die Raupe bindet zwischen ihren auffälligen dichten Haaren einfach einen Luftsack, wenn sie überspült wird. Der Sauerstoff darin reicht aus, um eine Tidephase problemlos zu überstehen. Sie wird dabei nicht einmal nass.
Nun sollen wissenschaftliche Ergebnisse ja reproduzierbar sein..also kurzum, ich hab’s ausprobiert, und unten sehen Sie das Resultat. Man erkennt wunderschön die Luftblase, die sich durch die schlichte Physik des Nebeneinanders von Wasser, Sauerstoff und tausender Härchen bildet und wie eine Taucherglocke die gesamte Raupe umschließt. Ich habe sie nach dem Foto selbstverständlich sofort wieder an den Strandwegerich gesetzt; sie fraß weiter, als wäre nichts passiert. Die Frisur hält also nicht nur – sie hält unter Umständen sogar am Leben!
Und ich bin wieder einmal beeindruckt davon, dass offensichtlich die wenigsten Dinge zufällig so sind, wie sie sind. Und fahre mir sinnend mit den Fingern durch den Bart. Hm!
Der wissenschaftliche Artikel ist 2020 im Journal of Experimental Biology veröffentlich worden, Sie finden ihn hier:
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32527961/