Papiervögel

 

 

Wege über das Meer sind mit Unsicherheiten behaftet.

Ich finde, das wäre auch ein ganz treffender Schlusssatz für Homers Odyssee gewesen – dort werden ja bekanntlich die endlosen Irrfahrten des namensgebenden Helden geschildert. Der Held dieser Erzählung führt, ich muss das leider zugeben, bisher ein etwas weniger episches Leben als der edle Laertid. Aber ich arbeite daran, das zu ändern.

Und dafür steht der Wind gut – morgen geht die große Reise los! Das ist gar nicht so selbstverständlich, denn nach Trischen kann man nicht einfach mal eben übersetzen. Oft gelingt es sogar erst Ende März oder gar Anfang April. Zu dieser Jahreszeit muss Poseidon einem schon sehr gewogen ein, damit ein sicherer Weg durch die Untiefen des Wattenmeeres möglich ist. Denn die Stürme des Winterhalbjahres verändern es gewaltig. Ich bin aber zuversichtlich, dass Axel Rohwedder uns sicher an den Nordsee-Äquivalenten der homerischen Seeungeheuer Scylla und Charybdis vorbeisteuern wird. Axel fährt schon sehr lange zur See; ich traue ihm fast wirklich zu, dass er mich in einer ruhigen Minute vor Zyklopen, Sirenen oder anderen vergessen geglaubten Fabelwesen warnen wird. Letztere sind laut Odyssee übrigens Σειρήν: Vögel mit Frauenköpfen – und fallen also zumindest teilweise in meinen ornithologischen Fachbereich. Sollten wir welchen begegnen verspreche ich, Ihnen eine Aufnahme anzufertigen.

Bei aller Liebe zum Märchen: Das Packen der Kisten in den letzten Tagen war begleitet von Gedanken, die dann doch sehr in der Realität verhaftet waren. Ich kann angesichts der Nachrichtenlage nicht umhin, immer wieder daran zu denken, was für ein unschätzbar wertvolles Privileg es ist, freiwillig die sieben Sachen packen und in voller Sicherheit an den Ort gehen zu dürfen, der mir behagt. Niemand treibt mich; kein Zwang und keine Drohung, keine Gefahr an Leib und Leben hatte Anteil an meiner Entscheidung. Über den größten Teil der Menschheitsgeschichte teilen die Wenigsten diese Erfahrung.

Als nun das klare Wetter letzte Woche die ersten Kranichschwärme mit sich brachte, musste ich also auch daran denken, dass diese Tiere keine Grenzen in unserem Sinne kennen. Ein Vergleich zwischen Mensch und Tier hat immer seine Tücken. Aber vielleicht geht es auch weniger um einen Vergleich als um eine Art Erinnerung daran, ein Symbol dafür, dass eine stacheldraht- und minenbewährte Grenze – anders als eine natürliche, wie etwa ein hoher Gebirgszug oder ein Fluss – zunächst einmal im Kopf eines Menschen entsteht, bevor sie konkret wird. Sie, und im schlimmsten Falle der Tod an oder wegen ihr, ist keine natürliche Notwendigkeit.

Zugvögel sind wohl schon immer ein Symbol für Freiheit gewesen, vor allem für die Freiheit dorthin zu gehen, wohin es einen treibt. Dabei stellt sich häufig ein Gefühl von Hoffnung und Sehnsucht ein, denn die  Begegnung mit ihnen verleitet zum Aufschauen und lenkt den Blick für einen kurzen Moment aus den irdischen Verhältnissen heraus. An meinen Ausführungen weiter oben haben Sie schon gemerkt, dass Sie bei mir an einen Bibliomanen geraten sind. Ich habe in Ermangelung echter Vögel einmal zwei, drei Stücke Literatur aus meinem Bücherregal gesucht, in denen Menschen in Gefangenschaft oder Gefahr ihrer Begegnung mit Zugvögeln Ausdruck verliehen haben:

Der Schriftsteller Ernst Toller hatte während seiner Gefangenschaft im Festungsgefängnis Niederschönenfeld Besuch von einem Schwalbenpaar, das sich seine Zelle aussuchte, um darin ein Nest zu bauen.

Von den Ufern des Senegal, vom See Omandaba

Kommt Ihr, meine Schwalben,

Von Afrikas heiliger Landschaft.

Was trieb euch zum kalten April des kalten Deutschland?

Wo soll ich euch eine Stätte bereiten, Vögel der Freiheit?

Ein anhaltender Kampf zwischen nestzerstörenden Gefängniswärtern und nestschützenden Häftlingen entspann sich mit wechselnden Erfolgen. Die heimlich geschriebenen Zeilen konnten schließlich aus dem Gefängnis herausgeschmuggelt werden und liegen heute als „Das Schwalbenbuch“  vor.

Walter Flex gehörte 1914, heute kaum noch nachvollziehbar, zur großen Schar der Kriegsbegeisterten. 1916 schrieb er im Schützengraben:

Wildgänse rauschen durch die Nacht

Mit schrillem Schrei nach Norden

Unstete Fahrt, habt Acht, habt Acht

Die Welt ist voller Morden.

Schon 1917 war er tot. Während die Gänse im nächsten Jahr sicherlich den gleichen Weg zurück genommen haben, war Flex als Teil des „Mordens“ schnell Opfer seiner eigenen Kriegslust geworden. Dass auch in diesen Tagen Menschen ihr Leben lassen müssen, während am Himmel Vögel dem Leben entgegen ziehen, macht mich unendlich traurig.

Die Literatur ist voll von solchen Beispielen. Rosa Luxemburg freut sich in ihren Gefängnisbriefen, dass sie den Ruf des Wendehals (das ist eine ziehende Spechtart) gehört und erkannt hat: „Mir ist, als hätte ich ein Geschenk gekriegt, seit ich weiß, wer der Vogel mit der klagenden Stimme ist.“ Und Dante besingt seine Kraniche sogar im Inferno, also in der Hölle.

E come i gru van cantando lor lai, facendo in aere di sé lunga riga…

Und wie die Kraniche mit Klagetönen die Lüfte rasch durchziehen in langen Fahnen…

Ich bin voll Dankbarkeit, dass ich mich den Vögeln nun wirklich anschließen darf. Kraniche werde ich auf Trischen eher nicht begegnen, ihre Zugrouten verlaufen weiter östlich. Aber sie führen mich gen Norden, aus Hamburg heraus. Und deshalb möchte ich mit ein paar Zeilen schließen, die Ihnen gewissermaßen an die Flügel geheftet – und von einem sehr bekannten Freiheitsapostel geschrieben worden sind:

Seid mir gegrüßt, befreundte Scharen!

Die mir zur See Begleiter waren.

Zum guten Zeichen nehm ich euch,

mein Los, es ist dem euren gleich!

Vielleicht kennt das ja noch jemand von Ihnen aus der Schule!

 

Sie hören von mir, sobald ich Inselboden unter den Füßen habe.

Bis dahin  bleibe ich Ihr

Till Holsten

PS: Vielen Dank für den zahlreichen Zuspruch für meine Anfänge hier!

 

 

Till Holsten

Vogelwart 2022