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Mein Freund, der Rotschenkel

Langjährige Leserinnen und Leser des Trischenblogs kennen sie inzwischen genau so gut wie der Vogelwart. Man kommt schlichtweg nicht um sie herum – und das meine ich ganz wörtlich, denn seit ich im März den ersten Fuß auf die Treppe der Hütte gesetzt habe, haben mir die Trischener Rotschenkel deutlich gemacht, dass das hier ihr Reich ist: Morgens sitzen sie bereits vor Sonnenaufgang auf dem Geländer, mittags jagen sie sich in wild sausenden Gruppen um den Turm, in der Abenddämmerung schauen sie neugierig zum Fenster herein und beäugen kritisch meine Kochkünste. Alles (!) geschieht unter permanentem, lautem Flöten. Wenn es einen Kommentar der Natur zu meinem Leben hier gibt, dann lautet er: Tü-tü-tü-tü-tü-tü-tüüü!

Ich bilde mir aber ein, dass sich unser Verhältnis zueinander im Laufe der Zeit geändert hat. Anfangs konnte von Freundschaft natürlich keine Rede sein. Im Tü steckte vor allem Protest. „Was willst du hier? Hau ab! Und zu blöd, uns zu fangen, ist er auch noch!“ übersetzte ich im Geiste. Im Mai war vor liebestrunkenem Geflöte kein Halten mehr. Meine Übersetzung erspare ich Ihnen. Ich war völlig abgeschrieben. Doch inzwischen werde ich offensichtlich wieder interessanter.

Da gibt es einen Moment, der mich immer wieder tief berührt: Es ist der Moment, in dem mir bewusst wird, dass ich jetzt von einem Tier wahrgenommen werde. Ich meine damit nicht die Brandgänse, die hoch über mich hinwegfliegen und mich als kleinen Punkt unter vielen am Strand sehen. Und ich meine auch nicht die Mücke, mit der ich nachts einen Kampf um das Blut führe, das sie unter meiner Haut wittert. Ich meine den Moment, in dem man sich gegenseitig ins Auge schaut.

Diese Momente sind selten. Ich erinnere mich an einen Fuchs, der einmal plötzlich wie aus dem Boden gewachsen im Wald vor mir stand. Wie gebannt sahen wir uns vielleicht zehn Sekunden lang an. Dann drehte er sich um und rannte fort. Ich denke an eine Küstenseeschwalbe, die fast eine halbe Minute über mir in der Luft stand. Sie blickte herunter, mir direkt ins Gesicht. Ich blickte hoch. Ich konnte sehen, wie ihre Augen meinen Blick – nicht etwa meinen Körper – fixierten. Wir nahmen uns wahr. Zu spüren, wie sich im tierischen Gegenüber etwas tut, dass man in diesem so unendlich fremden und doch so nahen Bewusstsein in irgendeiner Form in gerade diesem Augenblick präsent ist, macht etwas mit einem. Ich kann es gar nicht so richtig beschreiben, aber ich glaube es hat damit zu tun, dass man sich seiner eigenen Kreatürlichkeit bewusst wird.

Die Rotschenkel liefern mir diesen Moment häufig. Fast jeden Morgen sehen wir uns an. Oft blinzeln wir uns auch zu. Das kurze Schließen der Augen signalisiert: Ich bin nicht zu 100% aufmerksam. Ich will dich nicht fangen und weiß, dass auch du mich nicht fangen willst. Es ist erstaunlich, aber es klappt wirklich. Sie kennen den Effekt vielleicht von Ihrem Hund oder Ihrer Katze. Und der Rotschenkel bleibt sitzen, wenn ich die Treppe hinab gehe.

Was spielt sich da ab? Keine Frage, der Vogel denkt nicht wie ich. Zwar teilen wir bestimmte Formen der Wahrnehmung, aber schon da tun sich Unterschiede auf: Mein Sehvermögen ist viel geringer und mein Abstraktionsvermögen viel ausgeprägter als seines. Und weiß ich auch nur, ob er überhaupt in so etwas wie Begriffen denkt? Habe ich die geringste Ahnung davon, welches Bild er in seinem Köpfchen von mir hat und was er empfindet, wenn sein Gehirn es erzeugt? Ich weiß es nicht. Und hier wird es interessant. Denn streng genommen weiß ich das bei einem menschlichen Gegenüber ja auch nicht. Natürlich können wir darüber reden, wie wir Dinge oder uns gegenseitig wahrnehmen. Aber, um einen ganz einfachen erkenntnistheoretischen Kniff zu nutzen: Ob wir wirklich das Gleiche meinen, wenn wir von „Blau“ oder „Schmerz“ oder gar so komplizierten Begriffen wie „Liebe“ sprechen, können wir niemals wissen, sondern allenfalls hoffen. Und doch fühlen wir uns ja häufig verstanden, oder, im Falle des Rotschenkels und mir, zumindest wahrgenommen. Er ist ein kleiner Spiegel, der mir bestätigt: Du bist da.

Es gibt eine kleine Geschichte, die noch einen neuen Twist in die Angelegenheit bringt. Sie stammt von einem klugen Mann namens Zhuangzhi und ist ungefähr 2400 Jahre alt. Da ich meine Bücher gerade nicht dabei habe, versuche ich sie aus dem Gedächtnis aufzuschreiben:

„Zhuangzhi geht mit einem Freund über eine Brücke. Im sonnendurchfluteten Wasser tummeln sich die Fische. Er sagt: „Schau, wie fröhlich sie spielen, die Fische!“ Sein Freund entgegnet: „Woher willst du denn wissen, dass sie fröhlich sind? Du bist doch gar kein Fisch!“ Darauf Zhuangzhi: „Woher willst du denn wissen, dass ich es nicht weiß? Du bist doch gar nicht ich!“

Da kann man lange drüber nachdenken. Am Ende steht wohl der Gedanke, dass wir uns niemals wirklich sicher sein können, dass wir von anderen verstanden werden. Wir können aber ebenso wenig mit Sicherheit sagen, dass wir nicht verstanden werden. Und darin liegt die Hoffnung.

Was also mag der Rotschenkel über mich denken? Ich weiß es nicht. Ich blinzel ihm einfach zu. Der Rotschenkel blinzelt zurück.

 

Requiem für einen Kühlschrank

Man kann den Menschen sehr technisch betrachten: Bei einer Temperatur von etwa 37°C, einem Blut-pH-Wert um 7.4 (das ist der Wert für den Säure-Basen-Haushalt) und einem bestimmten Gehalt verschiedener Salze darin läuft der Betrieb optimal. Das sind sozusagen die Werkseinstellungen. Ihre Grenzen sind, anders als bei einigen Pflanzen und Tieren, recht eng bemessen. Besonders wir Säugetiere sind da empfindlich. Verrutscht der pH-Wert um wenige Punkte hinter dem Komma, hat das Blut nur ein paar Grad mehr oder weniger – schon ist das schöne Leben ist dahin.

Und obwohl wir uns bei Frost nicht einfach in Winterstarre begeben können (Amphibien, Insekten) oder wochenlang von nichts leben als dem Tau, der sich auf unserer Haut sammelt (einige Wüstenkäfer), obwohl wir längst keinen schützenden dicken Pelz mehr tragen, haben wir doch den gesamten Erdball besiedelt. Wie konnte das passieren? Das Gehirn macht’s möglich. Denn das lässt uns Dinge erfinden wie: Kleidung, Zisternen, Pumpen, Dächer, Heizungen und – Kühlschränke! Ich habe meinen hier auf der Insel sehr geliebt. Zwanzig Jahre lang hat er unermüdlich seinen Dienst getan. Letzte Woche hat er sein Leben ausgehaucht.

Unter dem Gefrierfach hatte sich seit längerem ein dicker Eispanzer gebildet. Zuletzt konnte ich kaum noch etwas ins obere Fach legen. Allein, das Abtauen war von einem unguten Zischen begleitet. Das schmelzende Eis gab schließlich den Blick auf ein kleines Leck frei, durch das Kühlgas austrat. Da half alle verzweifelte Erste Hilfe nichts, kein Panzerband, kein Sekundenkleber – mein schöner Kühlschrank lag in seinen letzten, schnaufenden Zügen.

Er war wirklich ein Unikum. Die Herstellerfirma gibt es nicht mehr. Das einzige Modell, das räumlich passt und mit der Solaranlage kompatibel ist, hat eine unbestimmte Lieferzeit im Rahmen mehrerer Wochen. Na schön, es wird auch ohne gehen. Schließlich ist die Menschheit einen Großteil ihrer Geschichte ohne diesen Luxus ausgekommen. Ein findiger Freund rät mir zum Bau eines Mini-Kühlschrankes, der sich einfache Physik zunutze macht: Kleiner Topf in großen Topf, dazwischen Sand. Befeuchtet man den Sand, kühlt die Verdunstungskälte das Innere des kleinen Topfes. Funktioniert! Bietet aber kaum Raum – eine Grube muss her. Unter der Hütte ist den ganzen Tag Schatten.

Mit der nächsten Post kommt eine Kühlbox an, die ich an die Steckdose anschließen kann. Die brummt zwar laut, macht das Leben aber leichter. Als es nachts plötzlich energisch piept und das Brummen schlagartig verstummt, bin ich hellwach. Verdammt! Schnell das Licht angeknipst – kein Licht. Der Strom ist weg. In der Hitze der Nacht wälze ich panisch den Gedanken, dass mir die Box womöglich die gesamte Verstromung zerschossen hat. Auch mein Handyakku ist nahezu leer – ich stolpere hinaus und knipse die Powerbank von der Lichtfalle zum Nachtfalterfang ab; es gilt alle Reserven sinnvoll zu nutzen. Schließlich will ich notfalls wenigstens noch Bescheid geben oder mir ein faltbares Solarmodul bestellen können…

Morgens habe ich wieder Strom, das Modul ist in Ordnung. Aber ein paar ungute Gedanken aus der Nacht bleiben. Ein kleiner Ausfall der Technik, und schon lebt es sich wie im Mittelalter. Gewiss, man kann sich helfen. Abgesehen davon lebe ich zumindest hier auf der Insel ja in Sachen Strom schon autark, das ist ein gutes Gefühl. Aber der kleine Vorfall demonstriert doch anschaulich unsere Abhängigkeit von der Energieversorgung. Es ist verzwickt: Gerade die Fähigkeit, unsere „Betriebstemperatur“ mittels Technik innerhalb der nächsten Umgebung zu gewährleisten, lässt das Klima im Ganzen immer schneller in lebensfeindliche Temperaturen kippen. Während Dürren, Hunger, Waldbrände und Korallensterben den Planeten heimsuchen, während wir wie nie zuvor vor Augen geführt bekommen, dass unsere Abhängigkeit von fossilen Energieträgern Unrechtsregimes in die Hände spielt, legitimieren die USA erneut eine klimafeindliche Politik, die G7 stimmen fröhlich ein und in Deutschland baut man eine Autobahn durch klimaschützende Moorgebiete. Und jetzt bin ich nicht mehr wütend, weil mein Kühlschrank kaputt ist, sondern weil ich im Jahr 2022, nachdem man seit Jahrzehnten weiß, wohin die Reise geht, noch solche Sätze schreiben muss.

Lieber, kleiner Waeco-Kühlschrank, du hast mir gezeigt, wie wertvoll Energie ist. Ich werde dich vermissen.

Oben: Der Alte. Mitte: Der Neue. Die Pappwände lasse ich stehen, damit keine Tiere hineinfallen. Unten: Der Hausrotschwanz fand die Baustelle ausgesprochen interessant. Beim Buddeln sind ein paar Schlickkrebse für ihn mit abgefallen.

Die Schatzinsel

Inseln! Ich muss wahrscheinlich gar nicht viel mehr Worte machen, und schon haben Sie die schönsten Bilder im Kopf. Aber dann wäre dieser Blogeintrag reichlich kurz. Ich frage also: Was macht die Faszination aus? Aus welcher Quelle speist sich der Strom an Vorstellungen, Projektionen, Sehnsüchten? Und warum stellt sich eigentlich nicht die gleiche Assoziationsfülle ein, wenn ich „Felder!“, „Hügel!“ oder „Fußgängerzonen!“ schreibe?

Beim Grübeln über solche Fragen wandere ich barfuß den Strand „meiner“ Insel entlang. Mit den Wellen schwappen Gedanken durch den Kopf, eine leicht Brise verweht sie wieder – es ist wohl die schönste Art des Nachdenkens. Ein Gedanke aber bleibt schließlich haften: Ob Lanzarote oder Wangerooge, ob sturmzerklüftete Felshaufen im Südatlantik oder die vulkangeborenen Schönheiten in den unendlichen Weiten des Pazifiks, eines eint sie alle: Das Versprechen von Geheimnis.

Fernab liegt die Insel im Meer. Vielleicht sieht man sie auf einer Seekarte, vielleicht auch am Horizont. Was sie birgt, lässt sich nur erahnen. Und was wurde dort nicht alles vermutet! Sagenhafte Gestalten, fremde Völker mit noch fremderen Sitten, ausgestorbene Tiere, heilende Pflanzen, die Nähe zu sich selbst, die Nähe zu Gott..die Liste ist lang. Der Clou ist: Man hat das alles gefunden. Inseln halten ihre Versprechen.

Kennen Sie noch „Die Schatzinsel“? Der X-fach verfilmte Roman von Robert Louis Stevenson begeistert ja seit über hundert Jahren Leserinnen und Leser. Er bricht das Konzept aufs Wesentliche herunter: Da ist die Insel, auf der es ein wertvolles Geheimnis, eben den Schatz, gibt, und der will unter Mühen und Gefahren gehoben werden. Die Bilder sind ikonisch, sie prägen unsere Vorstellung vom einsamen Eiland bis heute. Wenn ich hier durch den heißen Sand auf den Dünen stapfe, muss ich oft an die verschwitzten Piraten aus dem Buch denken. Ich habe bisher zwar kein Gold gefunden. Aber etwas Wertvolles ist mir dort dennoch begegnet, und auch Trischen hat ein kleines Geheimnis preisgegeben. Es kam allerdings nicht in einer modrigen Kiste, sondern auf flinken Flügeln daher.

Als ich vor einigen Tagen eine Raubfliege aus dem Insektenkescher holte, ahnte ich noch nicht, dass mir da etwas Besonderes ins Netz gegangen war. Ich hatte sie in eben jenen Schatzinsel-Dünen gefangen, wo diese interessanten Insekten, die so witzige Namen wie „Gemeiner Sandwicht“ oder „Braune Rabaukenfliege“ tragen, in der Mittagshitze auf Beute lauern (und ich bin gerade ziemlich dankbar für jeden Brummer, den sie mir vom Leibe halten). Sand-Raubfliegen hatte ich schon öfters gefunden. Sie sind typisch für dieses Habitat. Aber diese hier sah mit ihren rötlich geringelten Beinen ein klein wenig anders aus – Tolmerus – eine schwer zu bestimmende Gattung! Eine Art dieser Gruppe, die extrem seltene Cowin’s Raubfliege, war in Deutschland bisher nur an ganz wenigen Standorten nachgewiesen worden, unter anderem auf Borkum, Baltrum und Mellum…hmm..! Ich lud das Bild im Internet hoch. Und Hilfe nahte: Dr. Danny Wolff hatte sie gleich am nächsten Morgen bestimmt. Es war tatsächlich Cowin’s Raubfliege. Ein Erstnachweis für den Nationalpark – und sogar für ganz Schleswig-Holstein!

Und so wird auch Trischen zur Schatzinsel. Für mich für einen Sommer. Für die Natur hoffentlich für alle Zeit. Wer weiß schon, was sie noch birgt? Ich werde weiter stöbern und versuchen, die Schatzkarte, die meine Vorgängerinnen und Vorgänger mit ihren Entdeckungen gezeichnet haben, um einige Details zu bereichern.

Unten sehen sie die beiden Raubfliegen im Detail: Sand-Raubfliege oben, in der Mitte Cowin’s Raubfliege, ganz unten der Fundort in den Dünen.

Falls Sie selbst eine Raubfliege entdecken (und am besten fotografieren!), können Sie sie Dr. Wolff unter info@asilidae.de melden, er hilft Ihnen bei der Bestimmung. Citizen Science! Das exzellente Buch Die Raubfliegen Deutschlands, das er mit Markus Gebel und Fritz Geller-Grimm verfasst hat, empfehle ich wärmstens!

Ich zôch mir einen valken

Trischen versinkt im Regen. Das erste schwere Sommergewitter hängt über der Insel. Dicke Tropfen tränken die durstige Salzwiese. Ich habe den Stecker des Laptops herausgezogen und sitze bei einer Kerze an der offenen Tür. Manchmal wallt eine Brise herein, lässt die Kerze flackern und trägt das nimmermüde Flöten der Rotschenkel herein. Wie ein mittelalterlicher Herold vollbringt ein kleiner Admiral das Kunststück, seine bunten Farben vor den dunklen Wolken durch den Regen zu führen. Eine schöne Stimmung. Ich finde, es ist Zeit für eine Geschichte. Machen Sie es sich gemütlich!

Es war noch früh im März, als ich morgens an der Südspitze der Insel stand. Ich lief auf knirschenden weißen Muschelbänken, die der gerade vergangene Winter zurückgelassen hatte. Darüber spannte sich kühl ein unendlich weiter, blauer Himmel. Plötzlich hörte ich ein schrilles Keckern: Wanderfalken! Ein balzendes Paar! Ich konnte kaum den Blick wenden, so schnell waren sie vorbei. Vorweg sauste – mit Beute in den Fängen! – ein großes Weibchen, und hinterdrein schoss in rasender Fahrt das kleinere Männchen. Meine Blicke folgten ihnen lange. Erst ganz am Ende der Insel verlor ich sie aus den Augen. Ich war glückselig. Ein Weibchen? Ich wagte kaum zu hoffen: Vergangenes Jahr war das langjährige Brutweibchen auf Trischen im stolzen Alter von sechzehn Jahren gestorben. Vor einigen Jahren hatte ich selbst einmal eines ihrer Küken beringt. Wie die meisten Greifvögel leben Wanderfalken monogam. Da sie alt werden, lohnt es sich für die Partner, sich aufeinander einzustellen. Das Ergebnis ist ein höherer Bruterfolg. Sollte der Witwer etwa…?

Falken faszinieren den Menschen schon seit sehr langer Zeit. Vom Orient über das mittelalterliche Europa bis hin zu den Mythen der Inuit tauchen sie immer wieder auf. Der Staufferkaiser Friedrich II war ebenfalls Fan und schrieb sogar eines der ersten ornithologischen Werke überhaupt (De arte venandi com avibus – Über die Kunst, mit Vögeln zu jagen), und viele Jahre später versuchte der kleine Till in immer neuen Versuchen, einen Wanderfalken zu malen, der nie so ganz gelang wie er in echt aussah. Damals hatte ich nie darauf gehofft, jemals wirklich einen zu sehen; in meinen Kinderbüchern galt er als nahezu ausgestorben. Pestizide waren schuld. DDT sammelte sich am Ende der Nahrungskette – also im Falken – und machte die Eierschalen brüchig. Die Eltern brüteten ihren Nachwuchs tot.

Und nun waren sie da. In den nächsten Wochen sah ich die beiden jeden Tag in der Morgendämmerung auf dem Nordturm sitzen. Oft kröpften sie frische Beute. Das ging so bis Anfang April. Und meine Freude wuchs, als ich irgendwann nur noch das Männchen sah. Ich ging inzwischen davon aus, dass das Weibchen sich zum Brüten niedergelassen hatte. Als ich den Terzel (so heißt das Männchen, es ist ein „Terzel“ = Drittel, kleiner als das Weibchen) auch nicht mehr sah, war ich zunächst nicht beunruhigt. Irgendwann aber sah ich gar keinen der beiden mehr. Im Rahmen der Brutvogelkartierung musste ich das fragliche Gebiet schließlich zweimal begehen. Wanderfalken warnen laut und aggressiv, wenn man ihr Revier betritt. Es passierte – nichts. In großer Höhe flog zwar der Terzel vorüber, aber er wirkte irgendwie sehr verloren. Ich sah ihn schließlich noch einmal am siebten Mai. Er flog am Strand durch den Regen gen Festland.

Kennen Sie das, wenn man eine lang gehegte Hoffnung aufgeben muss? Man hat sich in den schönsten Farben etwas ausgemalt, vielleicht sogar mit viel Mühe an etwas gearbeitet, und langsam sickert die Erkenntnis durch, dass es nichts wird. Dass der Traum zerfällt. Das scheint besonders oft der Fall zu sein, wenn man etwas zu sehr haben will. Lass die Dinge los, heißt es ja oft. Und es gibt da ein kleines, sehr altes Lied, das dieses immer wiederkehrende Motiv besingt. Es heißt: Ich zog mir einen Falken. Ja, genau. Es geht so:

Ich zog mir einen Falken, länger als ein Jahr.

Als ich ihn gezähmt hatte, wie ich ihn haben wollte,

und ich sein Gefieder mit Goldfäden schön umwunden hatte,

hob er sich in die Höhe und flog in fremde Reviere.

Das Lied stammt aus dem 12. Jahrhundert und ist in Mittelhochdeutsch verfasst, der Autor ist als „Der von Kürenberg“ bekannt. Sicher hat er beim Verfassen des Liedes nicht wirklich an einen Falken gedacht. Aber irgendwie spiegelten die Verse dieses fernen Menschen aus dem Mittelalter, in denen der Falke nur Symbol ist, das, was ich hier mit meinen echten Falken erlebte  – ich hatte es so sehr gewünscht, und mir die Hoffnung so zurechtgezähmt, bis die Vorstellung auf meinen Wunsch passte – aber ich hatte es wohl zu sehr gewollt. Mein Falke war entflogen.

Ich weiß nicht, ob Der von Kürenberg am Ende noch glücklich geworden ist. Ich weiß aber, dass sein Lied dann doch etwas zaghaft hoffend mit einer Bitte endet:

Gott sende sie zusammen, die einander lieb sein wollen.

Und ich weiß, dass vor ein paar Tagen in den Dünen völlig unerwartet und wirklich ziemlich spät im Jahr ganz still ein Vogel vor mir aufflog. Es war ein Wanderfalkenweibchen. Und für mich hieß es einmal mehr den Rückzug antreten. Denn es saß auf zwei wunderschönen Eiern.

Das große Rasenstück

Ich krieche auf den Knien durch die Salzwiese und denke an den Maler Albrecht Dürer. Den kennen Sie bestimmt. Die „Betenden Hände“ sind vielleicht das bekannteste Bild menschlicher Hände überhaupt. Vielleicht haben Sie auch schon einmal den „Feldhasen“ gesehen oder seinen Holzschnitt vom „Rhinocerus“, einem indischen Panzernashorn, das er nach Beschreibungen anfertigte. Es sieht deshalb nicht ganz naturgetreu aus.

Aber wie ich so krieche, denke ich an ein anderes, viel genauer und von Dürer selbst beobachtetes Bild. Neben mir wogen im Wind raschelnde Gräser mit ihren grünen Rispen, darüber tütet im hellblauen Himmel der Rotschenkel. Und wenn man ganz, ganz nahe an die dicken Raupen des Wolfsmilch-Ringelspinners heran kommt, kann man sogar ihrem nimmermüden Knabbern am saftigen Grün lauschen. Ich bin mittendrin. Und ich denke an Dürers „Großes Rasenstück.“

Der Titel klingt unendlich banal, nicht? Ich weiß noch, wie wir uns als Schüler im Kunstunterricht schief anguckten, als das Bild von ein bisschen Grünzeug auf einem winzigen Flecken Erde Thema wurde. Glücklicherweise hatte ich eine tolle Kunstlehrerin (Hallo, Frau Giörtz!), und deshalb ist bei mir doch ein bisschen was hängen geblieben. Im Jahre 1503 war die Darstellung von Banalitäten nämlich skandalös! In der Kunst galt es gefälligst Gott zu preisen, oder wenigstens zu suchen. Dieser Gedanke spiegelt sich ja auch in den himmelwärts strebenden gotischen Kathedralen wider, in denen eine ganze Architektur den Blick nach oben zieht. Wer wagt es da, den Blick gen Boden zu wenden?

Ich krieche weiter, in Gedanken beim Rasenstück. Dürer hat so genau gemalt, dass man auf dem fünfhundert Jahre alten Bild sehr gut verschiedene Pflanzen identifizieren kann, unter anderem den Breitwegerich. Mein kleiner Weg ist voll von Strandwegerich, einer verwandten Art. Und wie Dürer versuche ich, genau hinzusehen: Ich finde etliche Ameisen, die emsig ihren Geschäften nachgehen. Ein „Drahtwurm“, die harthäutige Larve eines Schnellkäfers, ist ihnen in die Fänge geraten und kämpft ums Überleben. Unter der Lupe sieht das aus wie die blutrünstigen Bilder in meinen alten Dinosaurierheften. Wie kleine Palmen ragen ganze Wälder von Strand-Milchkraut aus dem Boden, rot und weiß stehen ihre Blüten wie Miniaturen von Papierlaternen um den quietschgrünen Stengel. Ein winziger Laufkäfer kreuzt hastig meinen Weg. Er ist keinen halben Zentimeter groß (achten Sie im Bild unten mal auf die Größe der Sandkörner!), und ich werde ihm keinen „ganzen“ Namen geben können: Bis zur Gattung „Bembidion“ schaffe ich es noch. Seine riesigen, seitlich am Kopf sitzenden Augen und sein metallisch schwarz schimmernder Körper lassen ihn für seine Beute wahrscheinlich wie ein ungeheures, lebensgefährliches Untier erscheinen.

Und während ich weiterkrieche und den kleinen Wundern auf der Spur bin, sausen über mir die Flussseeschwalben mit lautem „kiääärr“ durch die Luft und versichern sich immer wieder, dass ich kein Fuchs bin. Keine Sorge, so viel Eleganz bringe ich nicht auf!

Ich erinnere mich nun an eine Episode aus meinem Studium: In unserem Anatomiesaal, in dem wir auch das Mikroskopieren lernten, stand in riesigen Lettern an der Wand IN MINIMIS DEUS MAXIMUS – Im Kleinsten ist Gott am größten. Vielleicht hat Dürer also doch an der richtigen Stelle gesucht, als er, statt den Papst zu porträtieren, lieber Rispengräser malte. Gott habe ich übrigens nicht zwischen den Gräsern gefunden. Aber eben Strand-Milchkraut und Bembidion. Ob das vielleicht ein winziger Teil von etwas viel Größerem ist, mag jeder selbst entscheiden. Ich freue mich jedenfalls über die kleinen Wunder, die das Leben alle Tage wieder hervorbringt.

Oben mein „Großes Rasenstück“ mit Flussseeschwalben, in der Mitte ein unbestimmter Bembidion-Laufkäfer, unten Strand-Milchkraut nebst unbestimmter Ameise.