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Trutz, blanke Hans?

Vergangenen Samstag ist eine Kolonie von Lachmöwen und Flussseeschwalben untergegangen. Das ist kein ungewöhnliches Phänomen (auch Anne Evers berichtete hier https://blogs.nabu.de/trischen/tag/hochwasser/ darüber). Aber die Szenen, die sich abspielten, waren schon herzzerreißend, auch für einen abgebrühten Naturkundler. Man kann anhand eines solchen Ereignisses allerdings einiges erklären. Und deshalb versuche ich Sie nun durch meinen Augen den Nachmittag des 21. Mai 2022 erleben zu lassen. Also – Katastrophenfilm ab!

Den ganzen Tag schon hatten starke Westwinde geweht. Gerade hatte ich mich noch gefreut, denn auf ihren wilden Lüften waren zwei Basstölpel, im Synchronflug wie mit unsichtbaren Fäden verknüpft, den Strand entlang gesaust. Des einen Freud, des andren Leid: Als ich mich umdrehte, bot sich mir ein Bild der Panik.

Etwa hundert Meter südlich der Hütte hat sich in der Salzwiese eine Brutgemeinschaft aus Lachmöwen und Flussseeschwalben angesiedelt. In ihrem Umfeld versuchen auch einige Paare Austernfischer und Rotschenkel ihr Glück. Die Kolonie schmiegt sich in die Südostbucht, ihr äußerster Rand schließt ziemlich genau mit der Vegetationskante ab, bevor kurz darauf das Watt beginnt. Von dieser Kante war aber nichts mehr zu sehen. Sie stand bereits tief unter Wasser – darüber kreischten in heller Aufregung hunderte Vögel, deren Gelege im Begriff waren, unterzugehen. Und es war noch eine Stunde bis Hochwasser…Flussseeschwalben sausten hin und her, völlig unfähig, den vordringenden Fluten mit ihren aufgeregten Schreien Einhalt zu gebieten; dazwischen flatterten wie große weiße Schmetterlinge Lachmöwen auf der Stelle und blickten ängstlich auf das untergehende Nest zu ihren Füßen. Besonders gerührt hat mich ein Paar Austernfischer, das sich schließlich eng aneinander kuschelte, als die Flut immer näher rückte. Sie hielten auf ihrem Gelege aus, bis das Wasser ihnen fast bist zum Bauch stand. Der menschliche Blick mag da einiges verklären, aber ich glaube es ist nicht zu weit hergeholt, zu vermuten, dass sie angesichts der Gefahr das Bedürfnis nach Geborgenheit und Halt verspürten.

Ich konnte noch eine weitere Beobachtung machen, die ich verhaltensbiologisch sehr interessant fand: Einige Lachmöwen begannen nämlich plötzlich, mitten im Chaos, Nistmaterial einzutragen. Natürlich stellt sich sofort der Gedanke ein: Na klar, die wollen schnell ihr Nest ein Stück höher bauen! Und wirklich ist bei Zwergseeschwalben beschrieben worden, dass sie ihr Gelege innerhalb kürzester Zeit bis zu 10 Zentimeter „hochbuddeln“ können, wenn Flugsand es zu begraben droht. Aber ganz so einfach ist es nicht. Denn „Nestbauaktivitäten“ beobachtet man bei Vögeln (und sogar Fischen!) auch als sogenannte Übersprungshandlung, wenn sie, zum Beispiel in einem Kampf an der Grenze ihres Reviers, nicht so recht wissen, ob sie fliehen oder angreifen sollen. Dann gähnen sie plötzlich, putzen sich oder picken nach Gras, ganz als würden sie ein Nest bauen, scheinbar völlig aus dem Kontext gegriffen. Das ist besonders gut für Silbermöwen und Dreistachlige Stichlinge beschrieben, und Niko Tinbergen hat sogar einen Nobelpreis, unter anderem für diese Beobachtungen, erhalten. Wenn Menschen trippeln, pfeifen usw. ist das vielleicht nichts so viel anderes. Ich bin mir also nicht ganz sicher, was die Lachmöwen wirklich dazu trieb, aber sie können es sich unten auf den Fotos einmal ansehen. Gerettet hat es sie nicht.

Als das Wasser wieder ablief, kehrte schließlich Ruhe ein und ich war ein bisschen traurig. Allerdings sind die meisten Küstenvögel an solche Ereignisse angepasst. Viele können ein zweites Gelege beginnen, manche wechseln dafür den Koloniestandort (ich habe am Folgetag gesehen, dass auch eine ganze Reihe übrig geblieben sind). Aber warum brüten sie denn überhaupt an so einer riskanten Stelle? Einfache Antwort: Weil es auch Vorteile hat. Trischen mag gelegentliche Sommerhochwasser erleben, aber dafür gibt es hier keinen Fuchs. Und warum dann nicht wenigstens ein bisschen höher auf dem Dünenkamm? Auch nicht so klug – denn da sitzen die Großmöwen, die nur allzu gerne Eier und Küken fressen würden. Die Stelle „auf der Kante“ ist also gar nicht so unklug gewählt. Unnötig zu erwähnen, dass klimawandelbedingt immer häufigere und höhere Hochwasser – und vor allem mangelnde Ausweichmöglichkeiten – schließlich doch limitierend für den Erhalt einer Art werden. Deshalb ist ein Raum wie Trischen so wichtig!

Übrigens – wir Menschen machen es nicht anders. Schließlich siedeln auch wir an der Küste. Vorteile bringt es ja auch für uns mit sich: Fruchtbare Böden, Handelsmöglichkeiten, Fischreichtum – und auch wir müssen gelegentlich einen Preis dafür zahlen. Nur ein Beispiel:

Mitte des vierzehnten Jahrhunderts lief es ohnehin nicht so gut für die Menschen in Mitteleuropa. In die Häuser der durch eine kleines Eiszeit mit Ernteausfällen geschwächten Bevölkerung kroch der schwarze Tod. Und nachdem die Pest überstanden war, brach 1362 schließlich eine Sturmflut nie dagewesenen Ausmaßes (der „blanke Hans“) über die „Uthlande“ der Nordsee herein. Etliche tausend Menschen kamen  in der „groten Mandränke“ um; übrig blieb das, was wir heute als die nordfriesischen Inseln kennen. Umsiedeln? Ausweichen? Nicht immer möglich. Und was hier bei mir Lachmöwen erleben, passiert den Menschen in Bangladesch und Ozeanien schon heute. In Detlev von Liliencrons berühmtem Gedicht wird aus dem allzu selbstbewussten „Trutz, blanke Hans!“ in der letzten Zeile eine Frage.

 

Bild 1: Kolonie in Panik. Zwischen den Grasbulten steht gewöhnlich auch bei Flut kein Wasser. An diesem Tag ist es etwa 50 cm höher als sonst angestiegen.

Bild 2: Lachmöwen tragen Nistmaterial ein.

Bild 3: Rat- und hilflose Austernfischer, darüber warnende Flussseeschwalbe.

Jurassic Trischen

Als Jurassic Park 1993 in die Kinos kam, war ich gerade sechs Jahre alt. Selbstverständlich durfte ich den Film, in dem sich ein buntes Dino-Allerlei an den Parkbesuchern gütlich tut, nicht sehen. Für einen kleinen Jungen, der ganze Herden von Gummidinosauriern hegte und pflegte (und die größeren Exemplare sogar an einer Leine über den Campingplatz zog), bedeutete das eine harte Zumutung, denn ich war wirklich vernarrt in die Biester. Meine Mutter kann heute noch fehlerfrei Namen wie Micropachycephalosaurus aussprechen.

Vor einigen Tagen stehe ich bei der Brutvogelkartierung am Nest einer Mantelmöwe. Plötzlich bin ich in die Zeit meiner Dino-Magazine zurückversetzt: Mir geht schlagartig auf, wie sehr dieses Nest jenen auf den Abbildungen von fossilen Dinosauriernestern, die in der Mongolei oder in Kanada gefunden wurden, ähnelt. Diesen Geistesblitz hatten andere natürlich schon vor mir. Paläontologen haben nachgewiesen, dass Dinosaurier nicht nur Nester bauten, sondern auch Brutpflege betrieben – und es gibt sogar Funde von mit Federn gepolsterten Nestern! Sie haben sicherlich auch schon einmal davon gehört, dass die Vorfahren der heutigen Vögel die Dinosaurier sind. Man kann es auch pointierter ausdrücken: Unsere Vögel sind die direkten Nachfahren der Dinosaurier. Noch mehr: Nach aktuellem Stand der Stammesgeschichte sind Vögel Dinosaurier.

Dass diese in der Folge eines Asteroideneinschlags vor 65 Millionen Jahren sämtlich umkamen, ist nämlich nicht die ganze Wahrheit. Die kurze Erzählung geht so: Aus dem großen Stamm der Dinosaurier gingen irgendwann zweibeinige Raubsaurier, die sogenannten Theropoden hervor. Zu ihnen gehörten so ikonische Arten wie Tyrannosaurus rex und Velociraptor. Einige von ihnen entwickelten in einem Jahrmillionen andauernden Prozess Federn und schließlich die Fähigkeit zu fliegen. Aber er hat sich gelohnt: Während alle ihre Verwandten ausstarben, überlebten genau diese gefiederten Leichtgewichte die ausgeprägten Umweltveränderungen. Genau wie ihre Urgroßeltern legten auch sie weiter Eier. Heute nennen wir sie Vögel. Und nun stehe ich verhinderter Paläontologe hier vor meinem Mantelmöwennest.

Ich werfe also einen vorsichtigen, neuen Blick auf die mich aus sicherer Entfernung skeptisch musternden Möwen. Eine von ihnen, stolze Urururururunekelin von T-Rex, „brüllt“, und ich finde, dass die Ähnlichkeit frappierend ist. Sollten die untenstehenden Bilder Sie nicht überzeugen, sehen Sie sich mal den Fuß eines Huhnes an. Oder, falls Sie gerade keines zur Hand haben, googlen Sie „Kasuar Fuß“. Überzeugt? Mit etwas Gänsehaut und erdgeschichtlich-nostalgischen Gedanken trete ich den Rückzug an.

In Jurassic Park (ich habe dann später heimlich das Buch gelesen) besteht der Witz der Erzählung darin, dass eine Neuzüchtung mithilfe von Dino-Erbmaterial gelingt. In der Geschichte wird dieses aus Mücken gewonnen, die DNA-haltiges Dino-Blut gesaugt hatten und danach in Harz eingeschlossen wurden, das durch Versteinerung zu Bernstein wurde. Bernstein angebohrt, Mücke ausgesaugt – Dino fertig! Aber so einfach ist es in Wirklichkeit nicht. Aus meiner eigenen Laborerfahrung weiß ich, dass DNA selbst aus frischen Biopsien nicht immer gut zu verwerten ist. Geschweige denn, man versucht ein 65 Millionen Jahre altes Molekül zu rekonstruieren und daraus ein Lebewesen zu machen..

Der Gedanke ist ja verführerisch: Wenn so viele Arten aussterben, können wir sie doch später einfach wieder neu erschaffen. Einige Forscher versuchen das gerade mit Mammuts. Ich finde, diese teuren und zeitaufwendigen Bemühungen verkennen, dass wir uns vor allem anstrengen sollten, bestehende Ökosysteme zu erhalten. Übrigens lehrt die Geschichte der Dinos auch, dass Arten sich nicht „mal eben“ anpassen können, auch wenn einige wenige die erdgeschichtlichen Katastrophen überleben. Dass die Möwen mich beim Nestbesuch nicht gefressen haben liegt daran, dass zwischen der Mantelmöwe Larus marinus und Tyrannosaurus rex eben doch ein paar Jahrmillionen liegen. Die vielzitierte Anpassung im evolutionären Sinne braucht Zeiträume, die den Teil der Erdgeschichte, der für den Menschen relevant ist, bei weitem übersteigen, und die bei den schnellen Veränderungen, die wir dem Planeten aufbürden, in der Regel nicht mithalten.

Neben den Vögeln gehören zu Trischen auch Strandfunde. Nun spülte mir der Zufall neulich einen recht großen Bernstein vor die Füße. Ich weiß ja, dass das alles Hirngespinste sind. Aber manchmal, abends, halte ich ihn ins Licht der Lampe und schaue, ob nicht vielleicht doch eine Mücke…nun ja. Aber der kleine Junge in mir hätte so gerne einen Velociraptor!

 

Im Bild brüllender Tyrannosaurus vs. Heringsmöwe (Stellen Sie sich mal kleine Ärmchen an der Möwe vor! Ein Mantelmöwenbild habe ich leider gerade nicht parat). Darunter rechts Fossilfund eines brütenden Citipati-Dinosauriers auf seinem Nest mit Eiern. Das Fossil heißt „Big Mama“ und ist im American Museum of Natural History in New York ausgestellt. Links das Nest der Mantelmöwe – nebenan waren schon zwei Küken geschlüpft. Ganz unten der Bernstein.

 

Bildreferenz Dinosauriernest:

By ★Kumiko★ – https://www.flickr.com/photos/kmkmks/6188900283/, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=96895479

 

 

 

 

 

 

 

Im ornithologischen Süßwarenladen

Wie erkläre ich Ihnen das Birdrace?

Stellen Sie sich ein durchschnittliches sechsjähriges Kind vor. Nehmen Sie das Kind an die Hand, führen es vor die frischbestückte Süßwarenabteilung eines riesigen Kaufhauses und sagen Sie ihm: „Du hast 24 Stunden Zeit. Iss, so viel du kannst.“

Und nun tauschen Sie bitte das Kind gegen einen (Hobby-)Ornithologen und die Süßigkeiten gegen möglichst viele Arten Vögel in einem interessanten Revier aus. So funktioniert das Birdrace.

Seit 2004 hat sich in Deutschland der Brauch etabliert, am ersten Maiwochenende gemeinsam mit Freunden in die Natur zu gehen und zu versuchen, innerhalb von 24 Stunden möglichst viele verschiedene Vogelarten zu beobachten. Ich weiß, das klingt etwas nerdig, aber gewisse andere sich im Mai abspielende Bräuche mit gemeinsam losziehenden Freunden sind ja nicht minder seltsam. Und abgesehen vom schönen Erlebnis ergeben sich aus den Beobachtungen auf lange Sicht Daten, die man wissenschaftlich verwerten kann: Wenn fünfzehn Jahre lang jedes Jahr zum gleichen Zeitpunkt 100 Gruppen mit fünf Beobachtern losziehen und im Laufe der Zeit immer weniger davon einen Kuckuck oder Star auf ihrer Liste abhaken können, hat das etwas zu bedeuten.

Ehrensache, dass auch Trischen mit dabei ist! Im Vorfeld macht es mir immer besonderen Spaß, einen möglichst albernen Teamnamen zu entwerfen. Nachdem wir in den Vorjahren auf der Halbinsel Eiderstedt radelnd als „Easy Eider“ unterwegs waren (und coronabedingt virtuelle Gruppen erlaubt sind), firmieren wir diesmal unter „Easy Eider & Insulaner-Jones: Jäger des verlorenen Spatzes“. Allerdings gibt es heute auch noch andere Programmpunkte. Mein Versorger Axel kommt mit Frischwasser und Post, und der Festlandtrupp muss einen guten halben Tag in offizieller Funktion Brutvögel kartieren. Es bleibt also bei einer lockeren Telefonverbindung.  Aber kommen Sie einfach mal mit:

00:00 Uhr: Noch einmal kurz vor die Tür und die Ohren gespitzt: Ich höre die Rufe von Austernfischer, Ringelgans, Rotschenkel, Flussseeschwalbe, Lach-, Sturm-, Silber- und Heringsmöwe, einen flötenden Kiebitzregenpfeifer und das Trillern des Großen Brachvogels. Notiert. Und nun ab in die Federn, es geht früh raus!

04:55 Uhr: Erster Blick vor die Tür: Nebel und Nieselregen. Das erste Mal seit über vier Wochen. Ausgerechnet heute! An der Hütte rasten genau zwei Vögel: Ein Rotkehlchen (danke, auf dich ist Verlass!) und ein Zilpzalp. Keine Spur von Singdrosseln, die sonst jeden Morgen ihre Vertreter entsenden, geschweige denn von ungewöhnlicheren Gästen. Beim Kaffee werden die Wiesenpieper munter. Wenig später singt die erste Feldlerche. Kormorane und Löffler in der Kolonie, beim Blick über die Insel Brand- und Graugans.

05:45 Uhr: Das rauhe „Kärrick“ zweier Brandseeschwalben klingt wie Musik in meinen Ohren. Klasse! Im trüben Morgenlicht schnell die Wasserkante abgescannt: Sanderling, Sandregenpfeifer, Alpenstrandläufer, Steinwälzer, Eiderente. Vier Stockenten fliegen über die Hütte. Ein ziehender Trupp Nonnengänse weit draußen.

06:30h Uhr: Eine Gebirgsstelze zieht gen Nord! Immerhin, die taucht nicht jeden Tag auf. Die Welt liegt Grau in Grau. Passenderweise finde ich noch einen Dunklen Wasserläufer. Und am Strand bekrächzen zwei Rabenkrähen begeistert einen Seehundskadaver. Huh!

07:15h: Nun schnell zur Südspitze, denn Axel ist mit seiner Luise ist bereits früh morgens vor Anker gegangen. Außerdem habe ich dort dieses Jahr schon Fischadler ziehen sehen. Wer weiß? Meinen Weg am Strand kreuzt aber der Wanderfalke. Danke für’s Erscheinen, treuer Geselle! An Bord gibt es dann erstmal ein gemütliches Frühstück und heißen Kaffee, bevor ich die schweren Wasserkanister mit dem Handwagen zur Hütte ziehe und im zunehmenden Regen ziemlich durchnässt werde. Der Nebel wird immer dichter. Die Sicht beträgt vielleicht noch hundert Meter. Irgendwo über mir balzen trotzdem Zwergseeschwalben, und auch ein Paar Küstenseeschwalben gibt sich die Ehre.

10:00 Uhr: Kontakt zum Festland: Holger hat „eine finnische Spezialität“ entdeckt – den Terekwasserläufer, einen sehr, sehr seltenen Durchzügler! Im ornithologischen Süßwarenladen wäre das eine ziemlich dicke Marzipan-Nougat-Praline. Gehört sich auch so – Holger hat mir einst die Grundzüge der Ornithologie beigebracht. Ein anderer Freund, der in einem Team am Bodensee mitmacht, erzählt mir von seiner Schwarzspechtsichtung. Auf den kann ich hier lange warten…An der Hütte rutsche ich erstmal tüchtig aus und schlage mir den Kopf an, bevor ich weiter in den Nebel starre.

12:15 Uhr: Zwei Bachstelzen, und, immerhin, ein Gartenrotschwanz, haben den Weg durch die dicke Suppe gefunden. Langsam klart es auf. Ich beschließe, den Strand abzusuchen, denn die Luft um die Hütte wirkt wie ausgestorben. Ah, doch, da rufen die Schwarzkopfmöwen!

13:30 Uhr: In weiter Ferne ein Seeadler auf der Sandbank. Eine Trauerente, wo ich vor einer Woche noch 500 zählte. Keine Spur von Sterntauchern, sie sind wie von der Meeresoberfläche verschluckt – abgezogen!

14:25 Uhr: Ganz im Norden sehe ich unter jagenden Flussseeschwalben eine Zwergmöwe im Wind tanzen. Ich tanze auch. Auf dem Rückweg zur Hütte begleitet mich ein hübscher Steinschmätzer.

15:10 Uhr: Eine Hohltaube saust über die Insel, gefolgt von fünf Regenbrachvögeln.

18:25 Uhr: Nichts tut sich. Es ist im Wind schon wieder so kalt, dass ich mit zwei Pullovern, Handschuhen und Mantel Wache schiebe. Es is doch zum..! Schließlich donnern wie die Feuerwehr mit Tatütata als Retter in der Not zehn feuerrote Knutts über die Südostbucht. Eine halbe Stunde später kann ich noch eine Pfuhlschnepfe „rausarbeiten“. Keine Spur von Zwergstrandläufer, Grünschenkel, Schnatterente…die alle gestern noch da waren.

19:00 Uhr: Im Abendlicht stolziert eine vorjährige Steppenmöwe am Strand. Und dann, bis zum Sonnenuntergang – nichts.

Mit einer eher mageren Ausbeute von 46 Arten und einer größer werdenden Beule am Kopf beschließe ich um 21:00 Uhr den Tag. Immerhin kann ich Wanderfalke, Zwergmöwe und Steppenmöwe zu den Funden der Truppe am Festland beisteuern; sie wurden heute nur hier beobachtet. So kommen wir insgesamt auf über 140 verschiedene Vogelarten. Viele Winterarten waren bereits abgezogen, viele Sommerarten noch nicht anwesend. Vor allem fehlte der Singvogelzug fast völlig: Bei über 16 Stunden Beobachtungszeit hat nicht eine einzige Schwalbe sich meiner erbarmt (heute balzen sie an der Hütte). Ich muss mir also sagen, was ich so vielen erlebnishungrigen Leuten auf so vielen Führungen schon gepredigt habe, wenn der erhoffte Vogel sich nicht einstellen wollte: Die Natur ist kein Zoo. Und genau darin besteht der Reiz.

Auch wenn ich es schon ziemlich frech vom Fischadler fand, dass er am nächsten Abend im schönsten Licht über der Hütte kreiste. Er saß bestimmt die ganze Zeit im Nebel auf dem Dach, der Schelm!

Bild 1 – Birdrace: Vögel im Nebel

Bild 2 – Kein Birdrace: Fischadler in der Sonne

Begegnung mit 11980 Nonnen

Es gibt heute einen Extra-Blogeintrag. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, alle fünf oder sechs Tage etwas zu schreiben. Aber es gibt einfach noch mehr zu erzählen:

Es ging heute Morgen ziemlich genau um 08:00 Uhr los. Seit Sonnenaufgang hatte sich nicht viel ereignet, das einer Notiz wert gewesen wäre. Es war windstill, der Himmel hing mit einer dicken Schicht Wolken als graue Decke tief über der Insel, und aus der Wiese um die Hütte stieg noch immer die Kälte der Nacht. Ich fand, dass die Zeit für einen heißen Kaffee und ein kräftiges Stück Brot gekommen war.

Das fanden 11980 Nonnengänse allerdings nicht. Kaum stieg der Duft von seeehr schwarzem Kaffee aus der dampfbeschlagenen Blechtasse (das seeehr ist so eine leidige Krankenhausgewohnheit…), kaum hatte ich ein Messer in einen Laib Brot versenkt – da rannte ich schon wieder hinaus. Drei Stunden später war ich zurück.

Scharfes Flügelrauschen durchschnitt die Luft über der Hütte, dazu erklangen unverwechselbare Rufe: Das seltsame Geräusch, irgendwo angesiedelt zwischen verschnupfter Graugans und altersschwacher Sturmmöwe, kündigte endlose Reihen von Nonnengänsen an („Weißwangengans“ ist übrigens ein, wie ich finde, weniger schönes Synonym dieser Art. Der wissenschaftliche Name lautet Branta leucopsis.). Von Cuxhaven und Neuwerk kommend überflogen sie die Insel auf ihrem Weg in den hohen Norden, und ein glückseliger Vogelwart sah ihnen für die Dauer einiger Stunden dabei zu.

Das liest sich recht beschaulich. Es kommt allerdings ganz schön Betrieb auf, wenn ich von einem Ende der Hütte zum anderen sprinte, um weder die am Nord- noch die am Südende vorbeiziehenden Trupps zu verpassen, während ich versuche, mir die Zugrichtung des am Horizont anrückenden Bands 500 weiterer Gänse zu merken, von 200 im Sausewind über die Hütte schießenden Vögeln überrascht werde und plötzlich auch noch eine Brandseeschwalbe direkt vor der Nase habe, die offensichtlich ebenfalls dringend ihren Weg in mein Notizbuch finden möchte. Ganz kurz ergibt sich die Gelegenheit, einen Trupp nach Individuen durchzuzählen und somit das Schätzmaß zu adjustieren, das helfen muss, wenn die nächsten Großformationen anrücken. Außerdem gilt es, genau hinzuhören: Ertönt nicht doch irgendwo der hell kieksende Schrei einer seltenen Rothals- oder Zwerggans? Manchmal schließen sich nämlich andere Arten dem Schwung der Hauptdurchzügler an. Das Interessanteste, das ich vor vielen Jahren einmal beobachten konnte, war eine amerikanische Schneegans, die einen Trupp Kormorane anführte. Heute finde ich „nur“ einige Grau- und zwei Kanadagänse – aber einen gewissen Thrill bringt die Suche nach der ornithologischen Nadel im Federhaufen immer mit sich. Überraschungen sind jederzeit möglich.

Wenn Sie diese Zeilen lesen, sind die Gänse schon etliche hundert Kilometer weiter gezogen. Die schönen Tiere verbringen die Herbst- und Wintermonate zwar im verhältnismäßig milden Klima Mittel- und Westeuropas. Das namensgebende, kontrastreiche Gefieder zeugt aber davon, dass sie die Brustsaison nicht in blühender Maienwiese verbringen werden. Nonnengänse bauen ihr Nester in Kolonien an unzugänglichen, schroff-felsigen Meeresküsten im allerhöchsten Norden. Nicht gerade ein einladender Ort. Und doch: Wenn tausende Tiere mit so viel Schwung in eine Richtung ziehen – dann möchte man fast auch selbst ein kleines bisschen mitfliegen. Allerdings haben sich seit einigen Jahren auch ein paar der Tiere dauerhaft auf Trischen angesiedelt, so ganz verkehrt ist dieser Ort wohl doch nicht.

Den Kaffee habe ich übrigens zwischendurch getrunken. Er war eiskalt. Aber Eiscafé ist ein stimmiger Begleiter für arktische Gänse, oder?

Unten sehen Sie einen der vielen Trupps, die im Tiefflug über die Hütte sausten. Man hört dann wirklich das Federrauschen. Darunter mein von Minute zu Minute weiter sich füllendes Notizbuch, mit dem ich versuchte, der Zahlen Herr zu werden..

Vielleicht sehen Sie ja auch noch einige der Gänse auf ihrem Weg! Ich drücke die Daumen!

High Noon

Man kann ja ohne Weiteres viel Schönes über Sonnenauf- und -untergänge sagen, über den Zauber ganz früher, vom Tage und seinen Geschäften unbehelligter Morgenstunden, oder über einen lauschigen Sommerabend. Ich selbst habe mich immer für einen Nachtmenschen gehalten (ornithologisch gesprochen: Auf dieser berühmten Skala von Lerche bis Eule bin ich zu 100% der ausschließlich nachtaktive Rauhfußkauz). Aber gerade bin ich der Mittagsstunde verfallen.

Liegt es an der Kälte der letzten anderthalb Monate? Noch gestern habe ich bei der Vogelzählung mit Wehmut und schmerzenden Fingern an die Handschuhe gedacht, die ich angesichts eines trügerisch samtig blauen, wärmeverheißenden Himmels in der Hütte liegen lassen hatte. Als würden diese vergangenen Kältetage als Echo in irgendeinem Resonanzraum unbekannter Zellen nachhallen, verlangt mein Körper nun mit Macht danach, sich durchglühen zu lassen. Das ist für mich eine neue Erfahrung. Im städtischen Leben mit seinem Nicht-Wetter verwässern die Unbilden unsteter März- und Apriltage; Regen, Kälte und Hitze geschehen eher um einen („draußen“) als an einem. Ich denke mit neuem Respekt an die Menschen vergangener Tage und ferner Länder, denen das frühe Aufstehen in einer eiskalten Kammer und das Aufnehmen ihrer Arbeit – zumal, wenn man selbst derjenige ist, der den Kamin befeuern muss! – über Monate hinweg tägliche Routine war und ist. Das ist auch bei uns nicht lange her, noch meine Oma hat ihre Kinder- und Jugendtage auf einem Hof auf diese Weise zugebracht.

Aber nun die göttliche Mittagsstunde, die, ganz ohne Arbeit und Zutun meinerseits, den Körper durchwirkt und ihm ungefragt schenkt, wonach er sich verzehrt. Kein kraftraubendes Holzhacken. Keine vier Schichten Klamotten am unbeweglichen Leib. Händewaschen mit Wasser, das mehr als fünf Grad hat. Man kann sich leicht vorstellen, warum Sonne und Frühling seit Urzeiten Gegenstand menschlicher Verehrung sind. Als würde die Natur diesen Moment würdigen, ist dies auch die Stunde, in der eine seltsame Stille über die Insel kommt. Zwar kreischen über mir die Seeschwalben, aber sie fahren durch eine Luft, in der irgendetwas anderes schweigt, das sonst da ist. Manchmal sind auch sie plötzlich verschwunden. Das ist der Moment, in dem der Wiesenpieper sich auf einen Pfahl in der Salzwiese vor mir setzt und seine einfachen Geschichten erzählt. Wit-wit! Zit-zit-zit-zit-zit. Schipp.. Und ich freue mich, wenn mir dieser inzwischen so vertraute Vogel ein neues Wort aus seinem oberflächlich betrachtet etwas eintönig wirkenden Repertoire beibringt. Wenn man ihm eine Weile zuhört, ist da noch mehr.

Selbst wenn man sich sehr hütet, Tiere zu vermenschlichen: Es liegt doch nahe, dass der kleine Sänger mit der cremefarbenen, braungetupften Brust und der (nur manchmal singende) Vogelwart mit den blaugestreiften Schlappen auf einer ganz basalen Ebene etwas teilen: Das Gefühl, dass Wärme gut tut, und dass das Leben leichter ist, wenn nicht mehr Winter und Kälte herrschen, sondern für einige Monate lang das Licht das Szepter führt.

Unten finden Sie das Portrait meines freundlichen Compadres aus dem Text. Dass die Natur, die jedes Jahr eine Insel neu formt, auch an mir ihre Arbeit tut, sieht man am Bild darunter: Meine Hände wirken inzwischen, als kehrte ich gerade von einer Seereise bis mindestens Tahiti zurück (vom hier nicht abgebildeten U-Boot-Fahrer-Bart ganz zu schweigen..) – und die vornehme Blässe der Füße wird auch bald weichen!