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Sand

Er ist überall. In den Schuhen, im Rucksack, im Brot, das ich mir zur Strandpatrouille mitgenommen habe und an jeder einzelnen Wimper. Er klebt auf der Brille, die ich kurz in die Hosentasche gesteckt habe, rieselt aus meinem Bestimmungsbuch und sitzt nach dem Brot nun auch zwischen den Zähnen. Wenn man keine Disziplin wahrt, mindestens einmal am Tag ausfegt und sich dazu zwingt, Schuhe und Hose vor dem Betreten der Hütte zu wechseln, begleitet er einen bis ins Bett. Am meisten nervt mich der Sand auf der Spüle; es knirscht, wenn man die Tasse abstellt – weiß der Teufel, wie er wieder dorthin gekommen ist, ich habe heute doch schon zweimal durchgewischt! Der Sand findet einen Weg.

Es stürmt nun seit fast zwei Wochen. West, West, West, wenn der Sturm mir einmal etwas Abwechslung gönnen will, schwenkt er auf Nordwest und manchmal auf Südwest. Als ich auf die Insel kam, war der Strand über und über von feinen, weißen Sanddünen bedeckt, die den Eindruck erweckten, man flöge mit einem Flugzeug über die Sahara, und in die man tückisch einsank, weil Tausende winziger Körnchen dem Fuß keinen Halt boten. Nur ihr kalt strahlendes Weiß, das Fehlen jeder Nuance von Rot verriet, dass der Äquator und seine Hitze fern sind.

Jetzt ist der Strand fest und graubraun und macht beim Auftreten ein dumpfes Geräusch. Sein Sand ist – nun ja, in meinen Schuhen, im Brot, auf den Wimpern…Trischen wirkt tatsächlich wie leergefegt. Ein paar Tage Sturm haben hinweggetragen, was wochenlang aussah, als würde es die Insel langsam wieder aufschütten nach den Sturmfluten des Winters. Theoretisch wandert Trischen nach Osten. Und wäre die Welt ein einfacher Ort, würde sie wohl in ein paar Hundert Jahren die Küste erreichen. Da aber Strömungen, Wetter und Gezeiten sich in kaum zu überschätzender Komplexität entwickeln und ein neuer Priel am anderen Ende des Wattenmeeres noch hier Auswirkungen zeitigen kann, ist das nicht so genau zu sagen. Peter Todt, der langjährige Vogelwart, hatte noch prognostiziert, dass es Trischen womöglich bereits 2020 nicht mehr geben könnte, wie meine Vorgängerin Anne in ihrem Jahresbericht 2020 (!) zitiert. Und Axel Rohwedder sagt, er halte für nahezu unvorhersehbar, wie genau sich die Form der Insel in den nächsten Jahren entwickelt. Der Sand kommt, der Sand geht. Gerade wirkt es, als sei die Insel ihre eigene Sanduhr, deren Zeit mit ihren Körnern verrinnt. Aber das kann in ein paar Monaten schon wieder ganz anders aussehen.

Der Vogelzug ist nahezu komplett zum Erliegen gekommen. Nur eine einsame Wacholderdrossel harrt seit Tagen an der Hütte aus und kann offensichtlich nicht weiter; zu viel Rückenwind ist auch nicht das Wahre, sie ist ja kein Albatros. Ich freue mich jeden Morgen, wenn sie mich mit ihrem schieferblauen Köpfchen aus dem Lockgebüsch neben der Hütte anschaut und zwei, drei Grußworte schackert. Tagsüber verberge ich mich mit dem Fernrohr im Windschutz einer Hüttenecke und hoffe, dass Westwind und Hochwasser mir einen der legendären Hochseevögel zutragen. Aber ich hoffe vergeblich. Kein Eissturmvogel. Keine Raubmöwe. Erst recht kein seltener Sturmtaucher. Die Finger sind eisig, trotz gefütterter Handschuhe.

Und dann, kurz vor dem Zusammenpacken, passiert es plötzlich doch: Weit draußen vor dem Weststrand scheint sich in Sekundenbruchteilen das Weiß eines Wellenkamms zu verdichten, aus dem Tal der Welle schießt auf langen, starren Flügeln ein herrlicher Basstölpel und kreuzt, kaum für eine halbe Minute sichtbar, im Sturm über der tosenden See, die im Wechselspiel des Lichts grün und grau flackert. Was für eine Dramatik! Ich jauchze vor Freude, es ist wie eine Erlösung. Auch, wenn ich jetzt wieder Sand zwischen den Zähnen habe.

Unten sehen Sie, wie der weiße Sandstrand hinweggefegt worden ist, nur der feste braune Grund ist geblieben. Darunter habe ich die Windgeschwindigkeit gemessen (max. 87 km/h); sie nahm sogar noch zu, aber dann konnte ich keine Fotos mehr machen.

Trotz Wind und Wetter – halten Sie die Ohren steif!

Am Nabel meiner Welt

Ich habe Ihnen etwas vorenthalten. An einem windigen Märztag, bereits einen Tag nach meiner Ankunft, stand ich plötzlich vor einem Graugansnest. Drei Eier waren bereits gelegt. Die Tiere hatten einfach ohne mich angefangen.

Nach der Anreise hatte ich zunächst einmal meine Rucksäcke ausgepackt und mir sozusagen das eigene Nest bereitet. Schließlich ist jeder Gang in die Natur noch schöner, wenn eine behagliche Heimstatt wartet. Trotzdem wollte ich mir gerne zügig einen Überblick über mein neues Revier verschaffen. Einmal die Insel komplett gesehen haben, auch in der Fläche der ausgedehnten Salzwiesen, bevor die Brutsaison beginnt und ich jede Störung vermeiden möchte – das war mein Plan. Zu wissen, wie das Gelände strukturiert ist, welche Bodensenken gut einsehbar sind und wo sich hinter einer Prielkante oder etwas höherer Vegetation vielleicht eine Überraschung verbergen kann, ist Gold wert, wenn später im Jahr tausende Vögel schwärmen und man auf große Entfernung versucht festzustellen, wer denn da in welcher Anzahl was genau tut.

Ich hatte bereits ein gutes Stück der Insel durchwandert, als sich plötzlich zwei braungraue Hälse aus den trockenen Pflanzen reckten: Ein Grauganspaar. Ich konnte ihnen an der Schnabelspitze ansehen, dass da im Wortsinne etwas im Busch war; man kriegt so ein Gefühl dafür. Kaum eine Sekunde später flogen sie mit rauhkehligem Schrei auf. Und zwischen den strohfarbenen Halmen der vorjährigen Salzwiese schimmerten in einer flachen Mulde mattweiß drei wunderschöne Eier.

Ich war etwas überrascht. Nun ist Mitte März für Graugänse zwar gar nicht besonders zeitig, zumal das Gelege noch nicht vollständig war und vor dem Beginn des eigentlichen Brütens weitere Eier hinzukommen würden. Ich hatte in all meiner Ankunftsaufregung aber nicht mehr bedacht, dass mein Beginn auf dieser Insel nicht der Nabel ist, um den sich alles dreht und ich nicht die Person, auf die alles wartet. Man fällt leicht immer wieder darauf herein, insbesondere, wenn man die einzige Hütte auf einem ansonsten menschenleeren Eiland bewohnt (vielleicht aber sogar noch eher als Einwohner einer großen Stadt, die gar keine nicht-menschlichen Bezugspunkte mehr bietet). Aber die Prozesse hier laufen auch ohne mich ab. Die Vögel werden balzen und ihre Eier legen, die Seeschwalben zurückkehren. Die Salzwiese wird blühen, der Herbst den Queller rot färben. Die Nordsee wird die Insel weiter formen. Und selbstverständlich hat auch keine Graugans auf den Vogelwart gewartet, bis sie geruhte ihr Nest zu bauen.

Selbstverständlich hieß es nun schnell den Rückzug antreten. Genau das hatte ich ja vermeiden wollen; und Störungen an Nestern gilt es, wenn sie denn überhaupt nötig sind – und diese Notwendigkeit dürfen allenfalls gelegentlich einmal Feldbiologen und Wissenschaftler für sich in Anspruch nehmen – so kurz wie möglich zu halten. Das Gelege darf nicht auskühlen, und viele hungrige Schnäbel warten nur auf einen bloß liegenden Leckerbissen. Aber ich war seltsam berührt. Ein Nest finden ist ein bisschen, als hätte man versehentlich ein schönes Geheimnis erfahren.

Ich habe dann aus der Entfernung noch beobachten können, wie die beiden Grauganseltern wieder zurückgekehrt sind. Mit etwas Glück gibt es dann in ein paar Tagen die ersten gebürtigen „Trischener“ zu bestaunen. Ich bin gespannt, mit wem ich die Insel bald teilen darf. Denn der Nabel der Welt, das ist, für die Graugänse genau wie für mich, nun eben für einen Sommer lang – Trischen!

 

Ice, Ice, Baby!

Nun ist es so weit, der Winter verabschiedet sich endgültig. Aber er hat einen verdammt festen Händedruck! Das habe ich Sonntag spüren müssen, als ich die Tür kaum gegen den eisigen Ostwind aufstemmen konnte. Bei Böen bis 60 km/h muss ich (so stelle ich mir das zumindest in meiner wilden Fantasie vor) ausgesehen haben wie ein Polarforscher, als ich in eine Art Roald-Amundsen-Gedächtnismantel gehüllt und mit  einer dicken Pelzmütze auf dem Kopf am Strand nach Treibholz für den Ofen gesucht habe. Glücklicherweise hatte das Meer mir genug vor die Tür gelegt, sodass abends schließlich ein lustiges Feuer im Kamin knisterte.

Als letzte Boten hat der Winter mir zwei besondere gefiederte Gäste geschickt, von denen ich noch einmal erzählen möchte, bevor wir dann im nächsten Beitrag wirklich dem Frühling die Tür öffnen.

Trischen wird hauptsächlich von Möwen besiedelt. Den M(L)öwenanteil daran stellen die sattgrauen Heringsmöwen und die hellgrau gefiederten Silbermöwen, die Sie vielleicht auch von der Hafenpromenade ganz gut kennen. Beim Blick über den weiten Nordstrand fiel mir unter ihren Schwärmen aber etwas auf, das das Auge irritierte. Vielleicht haben Sie das schon einmal erlebt: Man hat sich an ein Muster gewöhnt, und plötzlich stimmt irgendetwas darin nicht. Oft kann man es zunächst gar nicht genau benennen. Aber in diesem Fall war unter hunderten Vögeln irgendwie zu viel Weiß im Bild. Als das auflaufende Wasser die Tiere nach und nach auffliegen ließ, gab es den Blick frei auf einige sehr große Möwen, die einen ziemlich alten Kadaver – vielleicht ein Seehund? – umstanden, von dem bald nur noch die Rippen aus dem Wasser ragten. Drei von ihnen trugen einen anthrazitenen Federmantel – das waren Mantelmöwen. Die vierte aber war ganz und gar crèmeweiß. Ich hatte eine Eismöwe entdeckt.

Eismöwen leben, der Name lässt es ahnen, im höchsten Norden. Sehr selten zieht es eine von ihnen bis zu uns in die südliche Nordsee. Unten finden Sie ein Bild des Exemplars – eine im letzten Jahr geborene Möwe – das ich erleben durfte, durchs Spektiv fotografiert. Eismöwen sind ziemlich groß, größer als die ja schon recht beeindruckenden Silbermöwen vom Badestrand. Kennzeichnend ist, dass sie, anders als fast alle anderen Möwen, keine schwarzen Flecken in den Handschwingen (etwas vereinfacht: Den Flügelspitzen) aufweisen. Schauen Sie mal auf die Möwen, die Ihnen begegnen, Sie werden keine ohne Schwarz finden. Falls nicht, schreiben Sie mir bitte.. Das Weiß sticht also hervor; man sieht in heimischen Gefilden selten Tiere, die ganz weiß, aber kein Albino sind. Daher meine Irritation beim Beobachten. Es war aber gar nicht die besondere Färbung, die mich am meisten beeindruckt hat, sondern – wie soll ich es sagen? Ihr Ausdruck! Ihre Bulligkeit, die voluminöse Brust, die aussieht, als wäre sie extra gepolstert gegen Nordwind von vorne, der lange, kantige, wie mit einem Keil gehauene Kopf, der kurze Schwanz; alles wirkt hier in der Sonne Trischens etwas fehl am Platze und erzählt von endlosen Winterstürmen, von rauhen Felsklippen über eisiger See und davon, dass so ein gammeliger Seehundskadaver (den die waffeleisverwöhnten Silbermöwen verschmähen) doch echt ein verdammt leckerer Happen ist. Und doch wirkte sie irgendwie zurückhaltend. Sie wird wohl bald wieder gen Norden fliegen.

Im Spülsaum, im trocken raschelnden Treibsel, war auf meinem Rückweg dann noch ein viel, viel kleinereres, unauffälliges Vögelchen unterwegs, das sich nur durch einen ganz weichen Pfiff verriet: Eine winzige Schneeammer. Auch sie brütet in arktischen Gefilden und ist nur im Winter zu Gast. Mit etwas Glück erleben Sie sie beim Spazierengehen am Winterstrand, wenn sie in weiß blinkenden Trupps auffliegen. Sie war ganz alleine, wie die Eismöwe; ihre Gefährten sind wohl schon weiter gezogen. Und so turnte sie durch den Spülsaum, klein, hurtig, und wirklich – ziemlich niedlich.

Ob also bärbeißig wie eine Eismöwe oder fix wie die kleine Schneeammer – ich hoffe, Sie sind gut durch den Winter gekommen. Wir winken den Wintervögeln. Der Frühling kann kommen!

 

 

Papiervögel

 

 

Wege über das Meer sind mit Unsicherheiten behaftet.

Ich finde, das wäre auch ein ganz treffender Schlusssatz für Homers Odyssee gewesen – dort werden ja bekanntlich die endlosen Irrfahrten des namensgebenden Helden geschildert. Der Held dieser Erzählung führt, ich muss das leider zugeben, bisher ein etwas weniger episches Leben als der edle Laertid. Aber ich arbeite daran, das zu ändern.

Und dafür steht der Wind gut – morgen geht die große Reise los! Das ist gar nicht so selbstverständlich, denn nach Trischen kann man nicht einfach mal eben übersetzen. Oft gelingt es sogar erst Ende März oder gar Anfang April. Zu dieser Jahreszeit muss Poseidon einem schon sehr gewogen ein, damit ein sicherer Weg durch die Untiefen des Wattenmeeres möglich ist. Denn die Stürme des Winterhalbjahres verändern es gewaltig. Ich bin aber zuversichtlich, dass Axel Rohwedder uns sicher an den Nordsee-Äquivalenten der homerischen Seeungeheuer Scylla und Charybdis vorbeisteuern wird. Axel fährt schon sehr lange zur See; ich traue ihm fast wirklich zu, dass er mich in einer ruhigen Minute vor Zyklopen, Sirenen oder anderen vergessen geglaubten Fabelwesen warnen wird. Letztere sind laut Odyssee übrigens Σειρήν: Vögel mit Frauenköpfen – und fallen also zumindest teilweise in meinen ornithologischen Fachbereich. Sollten wir welchen begegnen verspreche ich, Ihnen eine Aufnahme anzufertigen.

Bei aller Liebe zum Märchen: Das Packen der Kisten in den letzten Tagen war begleitet von Gedanken, die dann doch sehr in der Realität verhaftet waren. Ich kann angesichts der Nachrichtenlage nicht umhin, immer wieder daran zu denken, was für ein unschätzbar wertvolles Privileg es ist, freiwillig die sieben Sachen packen und in voller Sicherheit an den Ort gehen zu dürfen, der mir behagt. Niemand treibt mich; kein Zwang und keine Drohung, keine Gefahr an Leib und Leben hatte Anteil an meiner Entscheidung. Über den größten Teil der Menschheitsgeschichte teilen die Wenigsten diese Erfahrung.

Als nun das klare Wetter letzte Woche die ersten Kranichschwärme mit sich brachte, musste ich also auch daran denken, dass diese Tiere keine Grenzen in unserem Sinne kennen. Ein Vergleich zwischen Mensch und Tier hat immer seine Tücken. Aber vielleicht geht es auch weniger um einen Vergleich als um eine Art Erinnerung daran, ein Symbol dafür, dass eine stacheldraht- und minenbewährte Grenze – anders als eine natürliche, wie etwa ein hoher Gebirgszug oder ein Fluss – zunächst einmal im Kopf eines Menschen entsteht, bevor sie konkret wird. Sie, und im schlimmsten Falle der Tod an oder wegen ihr, ist keine natürliche Notwendigkeit.

Zugvögel sind wohl schon immer ein Symbol für Freiheit gewesen, vor allem für die Freiheit dorthin zu gehen, wohin es einen treibt. Dabei stellt sich häufig ein Gefühl von Hoffnung und Sehnsucht ein, denn die  Begegnung mit ihnen verleitet zum Aufschauen und lenkt den Blick für einen kurzen Moment aus den irdischen Verhältnissen heraus. An meinen Ausführungen weiter oben haben Sie schon gemerkt, dass Sie bei mir an einen Bibliomanen geraten sind. Ich habe in Ermangelung echter Vögel einmal zwei, drei Stücke Literatur aus meinem Bücherregal gesucht, in denen Menschen in Gefangenschaft oder Gefahr ihrer Begegnung mit Zugvögeln Ausdruck verliehen haben:

Der Schriftsteller Ernst Toller hatte während seiner Gefangenschaft im Festungsgefängnis Niederschönenfeld Besuch von einem Schwalbenpaar, das sich seine Zelle aussuchte, um darin ein Nest zu bauen.

Von den Ufern des Senegal, vom See Omandaba

Kommt Ihr, meine Schwalben,

Von Afrikas heiliger Landschaft.

Was trieb euch zum kalten April des kalten Deutschland?

Wo soll ich euch eine Stätte bereiten, Vögel der Freiheit?

Ein anhaltender Kampf zwischen nestzerstörenden Gefängniswärtern und nestschützenden Häftlingen entspann sich mit wechselnden Erfolgen. Die heimlich geschriebenen Zeilen konnten schließlich aus dem Gefängnis herausgeschmuggelt werden und liegen heute als „Das Schwalbenbuch“  vor.

Walter Flex gehörte 1914, heute kaum noch nachvollziehbar, zur großen Schar der Kriegsbegeisterten. 1916 schrieb er im Schützengraben:

Wildgänse rauschen durch die Nacht

Mit schrillem Schrei nach Norden

Unstete Fahrt, habt Acht, habt Acht

Die Welt ist voller Morden.

Schon 1917 war er tot. Während die Gänse im nächsten Jahr sicherlich den gleichen Weg zurück genommen haben, war Flex als Teil des „Mordens“ schnell Opfer seiner eigenen Kriegslust geworden. Dass auch in diesen Tagen Menschen ihr Leben lassen müssen, während am Himmel Vögel dem Leben entgegen ziehen, macht mich unendlich traurig.

Die Literatur ist voll von solchen Beispielen. Rosa Luxemburg freut sich in ihren Gefängnisbriefen, dass sie den Ruf des Wendehals (das ist eine ziehende Spechtart) gehört und erkannt hat: „Mir ist, als hätte ich ein Geschenk gekriegt, seit ich weiß, wer der Vogel mit der klagenden Stimme ist.“ Und Dante besingt seine Kraniche sogar im Inferno, also in der Hölle.

E come i gru van cantando lor lai, facendo in aere di sé lunga riga…

Und wie die Kraniche mit Klagetönen die Lüfte rasch durchziehen in langen Fahnen…

Ich bin voll Dankbarkeit, dass ich mich den Vögeln nun wirklich anschließen darf. Kraniche werde ich auf Trischen eher nicht begegnen, ihre Zugrouten verlaufen weiter östlich. Aber sie führen mich gen Norden, aus Hamburg heraus. Und deshalb möchte ich mit ein paar Zeilen schließen, die Ihnen gewissermaßen an die Flügel geheftet – und von einem sehr bekannten Freiheitsapostel geschrieben worden sind:

Seid mir gegrüßt, befreundte Scharen!

Die mir zur See Begleiter waren.

Zum guten Zeichen nehm ich euch,

mein Los, es ist dem euren gleich!

Vielleicht kennt das ja noch jemand von Ihnen aus der Schule!

 

Sie hören von mir, sobald ich Inselboden unter den Füßen habe.

Bis dahin  bleibe ich Ihr

Till Holsten

PS: Vielen Dank für den zahlreichen Zuspruch für meine Anfänge hier!

 

 

stimmungsvoller Herbst

Liebe LeserInnen,

auf Trischen ist es herbstlich geworden. Die Gräser der oberen Salzwiesen färben sich gelblich, Strandsode und Queller werden rot, da sie über den Sommer immer mehr Salz in ihren Blättern eingelagert haben und die späten Strandastern zeigen ihre violetten Blüten.

Auch in der Vogelwelt bemerkt man den Wechsel der Jahreszeiten deutlich – der Herbstzug hat begonnen. Die Vögel, welche hier bei uns oder noch viel weiter im Norden ihre Küken großgezogen haben, ziehen nun in ihre südlichen Winterquartiere, wo sie von den dort lebenden Menschen schon erwartet werden. Dort freut man sich bestimmt genauso über die ersten Schwalben die „nach Hause“ kommen, wie wir uns im April über ihre Ankunft bei uns freuen.

Vögel die an der Hütte Rast machen:

Hier auf Trischen habe ich am 18. September die letzten Schwalben gesehen. In diesen Tagen kommen dafür viele Wiesenpieper und Schafstelzen durchgeflogen. Plötzlich tauchen auf den Wasserflächen kleinere Gruppen von Spieß- und Pfeifenten auf, Bläß- Ringel- und Weißwangengänse ziehen über die Insel hinweg.

In den ersten Morgenstunden wird der Vogelzug systematisch erfasst. Ich schaue und lausche also gespannt Richtung Norden. Größere Arten kann ich gut mit den Augen bestimmen. Bei den kleinen Arten benötige ich zusätzlich meine Ohren. Die verschiedenen Zugrufe der Kleinvögel zu unterscheiden ist für mich eine gewaltige Herausforderung. Damit ich möglichst nichts verpasse lasse ich ein Aufnahmegerät mitlaufen, welches an einen Parabolspiegel angeschlossen ist. So kann ich hinterher die Zugrufe am Computer noch einmal anhören und mir die Sonagramme ansehen. Lange Zeit war es für mich ein Mysterium wie Menschen Vogelrufe zuordnen können. Für mich klang das immer alles gleich. Aber so langsam verändert sich das und ich bemerke die Unterschiede. Als Eindruck kommen hier drei Tonmitschnitte aus dem September:

Wiesenpieper mit einem kurzen lauten Ruf eines Steinwälzers (ziemlich am Anfang der Aufnahme)
Wiesen_Steinw
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Graugänse im Hintergrund mit langgezogenem Ruf von Goldregenpfeifer
Goldregenpfeifer
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Mornellregenpfeifer mit Wiesenpiepern in Hintergrund
Mornellregenpfeifer
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