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Schöner wohnen mit den Möwen – Homestory III

Diesem dritten und letzten Teil der Möwen-Homestory muss ich voranstellen: Natürlich darf man nicht einfach so bei jemandem einsteigen und sich mal umsehen. Ihre Nachbarn würden Ihnen zurecht was husten, wenn Sie das täten. Das ist bei mir nicht anders. Zum einen sind meine gefiederten Inselmitbewohner mindestens ebenso empört, wenn ich ihre Privatsphäre strapaziere, zum anderen darf man auch eine Vogelkolonie nur mit gutem Grund betreten. Und den hat in der Regel nur ein Feldbiologe oder ein Wissenschaftler (mit entsprechender Genehmigung). Auch ich bin nicht einfach für diese Reportage mal eben gucken gegangen. Die Bilder, die Sie unten sehen, sind bei Begehungen entstanden, die zum Beispiel im Rahmen der Brutvogelkartierung ohnehin vonnöten waren.

Wie sieht es also aus in so einer Kolonie? Wir stehen auf der Dünenkante. Seegrünes Gras wächst bis zu den Knien, dazwischen blendet weißer Sand. Quadratmeterweise bedeckt silbrig schimmernder Strandwermut die Fläche, und die Luft ist erfüllt vom Jaulen der Silbermöwen. Wie ein Körper gewordener Schatten stößt eine Heringsmöwe sausend herab, täuscht an, dreht mit kehligem Ruf wieder ab, nicht ohne einen deftigen Gruß da zulassen: Laut klatscht es auf den Boden! …knapp daneben! Es ist deutlich: Wir sind nicht erwünscht. Halten wir unseren Besuch also kurz. Aber bevor es weiter geht, schnuppern Sie bitte einmal!

Kennen Sie das Phänomen, dass jede Wohnung einen besonderen Geruch hat, der sich mit den Bewohnern auch ändern kann? Ich hatte diese Empfindung immer, wenn wir früher aus dem Urlaub zurück in unser Haus gekommen sind und fand es angenehm vertraut. Bei den Möwen riecht es auch immer gleich und, sagen wir, speziell. Ein Freund prägte den wundervoll euphemistischen Ausdruck „Odeur de mouette“. Die Ingredienzien des Möwenparfüms sind eine ordentliche Portion dicke Luft aus dem Hühnerstall und ein Hauch von Fischmarkt in der Mittagssonne. Und in diesem Dunst liegen, wie vom Himmel gefallen, alle paar Meter die Nester der Möwen. Wir müssen gut aufpassen, wohin wir den Fuß setzen.

Das Nest ist einfach. Der Standard ist ein Häufchen locker zusammengescharrtes trockenes Seegras, halb ordentlich, halb lässig um eine kleine Mulde im Sand drapiert. Ein so kunstvolles Nest wie es etwa der Zaunkönig baut oder einen tonnenschweren Horst wie beim Seeadler darf man also nicht erwarten. Die wären im Wind aber auch fehl am Platze. Und ich finde es immer wieder witzig, welche Variationen dieses Eigenheimstandards es dann doch gibt. Eine kleine Auswahl finden Sie unten:

Das Nest ganz oben entspricht in etwa der Norm. Darunter brütet man mit vorzüglichem Seeblick, aber nicht ganz ohne Risiko direkt an der Abbruchkante. Dann sehen Sie die ganz minimalistische Marie-Kondo-Version, hier wurde alles weggeräumt, was man nicht zwangsläufig braucht (sehen Sie die Spuren ums Nest?). Es folgt mein diesjähriges Lieblingsnest, das irgendwie an ein altes Fischerhäuschen mit rosenumranktem Vorgarten erinnert. Und ganz unten? Tja..

…wenn man ganz genau hinsieht, findet man in einigen Nestern bereits frisch geschlüpfte Küken. Die Warnrufe der Alttiere sorgen in den ersten Stunden nach dem Schlupf dafür, dass sie sich tief ins Nest drücken und durch ihr tarnendes Gefieder mit der Umgebung verschmelzen. Haben sie das Nest aber bereits verlassen, rennen die Küken auf den Ruf hin zur nächsten Deckung. Das kann durchaus einmal der Mensch sein, vor dem da gewarnt wird…

Aber jetzt soll es gut sein. Lassen wir die Tiere wieder in Ruhe. Mit einem ganzen Kopf (und einer Nase) voll Eindrücken von einem Ort, der den Vögeln vorbehalten bleiben soll, geht es entlang des Strandes zurück zur Hütte. Die letzten Sanderlinge des Frühjahrszuges flitzen den Spülsaum entlang. Über uns kreischen klirrend einige Küstenseeschwalben. Es riecht nach Tang in der Nachmittagswärme, und am Horizont ballen sich riesige, blaubeerblaue Gewitterwolken. Ein Junitag auf Trischen und die Möwenhomestory gehen zu Ende.

Unter Möwen – Die Homestory I

Wenn ich hier eines lerne dann, dass ich Möwen unterschätzt habe. Wie Krähen und Tauben genießen diese Vögel ja bei vielen Menschen einen eher zweifelhaften Ruf. Das gilt seltsamerweise sogar für Ornithologen. Ein Beispiel ist der US-amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen – ein exzellenter und sehr engagierter Ornithologe! – der sich angeblich weigert, Möwen zu bestimmen, wenn sie noch nicht ausgewachsen und damit schwer zu identifizieren sind. Aber ich wette, dass weder der enttäuscht seinen in die Lüfte entschwindenden Pommes hinterdreinblickende Strandurlauber noch der von Art zu Art eilende Vogelenthusiast jemals in der Situation waren, mit Möwen zu leben. Und das ist ja gerade sozusagen mein Beruf. Dazu gehört auch, Ihnen davon zu erzählen! Weil es da eine ganze Menge interessante, lustige und überraschende Angelegenheiten gibt, kommt nun die Möwen-Homestory in drei Teilen, und wir beginnen heute mit der Vorstellung der Protagonisten:

Trischen ist eigentlich eine riesige Möwenkolonie. Mittendrin steht meine Hütte. Die meisten meiner Nachbarn sind Herings- und Silbermöwen, die Sie sicherlich am Strand schon einmal beobachtet haben (und von denen Sie im Gegenzug sicherlich am Strand schon einmal beobachtet worden sind). Ich muss sagen, dass ich ihre Schönheit gerade ganz neu kennen lerne. Ich kann keine treffenderen Worte für die Silbermöwe finden, als der Altvater der deutschen Ornithologie, Johann Friedrich Naumann, sie nach einem Besuch an der Nordsee aufgeschrieben hat (Danke an Bernd Hälterlein für den Hinweis auf diesen Text!):

„Nicht leicht möchte es unter den einfach gezeichneten, mit gar nicht prunkenden Farben gezierten Vögeln einen geben, welcher diese Meve überträfe. Unbeschreiblich schön waren sie, wenn sie so paarweis vor uns standen, das stets größere Männchen dann seinen Hals ausdehnte und seine Stimme hören ließ u.s.w. Das blendendste, reinste Weiß, als Hauptfarbe, mit dem angenehmen leichten Aschblau des Rückens sanft in einander verschmolzen, die sammetschwarzen Enden der großen Schwungfedern mit ihren schnee-weißen Spitzchen, der goldgelbe Schnabel mit dem prächtig rothen Fleck, das liebliche gelbe Auge, alles zusammen macht ein vortreffliches Ganzes.“

Schön, oder? Ich finde, diese Worte machen Lust darauf, einer Alltagserscheinung wie der Silbermöwe noch einmal mit ganz neuem Blick zu begegnen. In einer kleinen Abstimmung gefiel den meisten meiner ornithologischen Kolleginnen und Kollegen allerdings die Heringsmöwe noch besser (die war hier zu Naumanns Zeiten aber auch noch nicht häufig zu sehen). Ihr dunkles Deckgefieder, das im Ton sehr variabel ist und sozusagen 50 shades of grey annehmen kann, passt so stimmig zum Lufthansagelb von Schnabel und Beinen. Gemeinsam mit der schlanken Gestalt ergibt das einen wirklich ausgesprochen eleganten Vogel, und ich finde mit ihrem Schwung und dem stolzen Blick strahlt sie immer so eine Art Mantel-und-Degen-Verwegenheit aus. Dazu passt auch, dass die Heringsmöwe ein Langstreckenzieher ist, den es im Winter häufig bis ins ferne Westafrika zieht, während Silbermöwen eher kleinräumig allenfalls einmal zwischen Nord- und Ostsee pendeln.

Jetzt sind beide Arten hier vor Ort. Und zwar mit jeweils mehreren Tausend Individuen. Ich kann Ihnen sagen, wir kennen uns inzwischen ziemlich gut. Ich habe jede Menge Möwisch gelernt, weiß, was „hehehe“, „kjaauauaauauaua“, „mhwow“ und „ga-ga-ga“ bedeuten, und ich bilde mir ein, dass mein gefiedertes Gegenüber mich auch ganz gut einschätzen kann.

Aber nur ich habe einen Fotoapparat. Und deswegen kann ich Ihnen in den kommenden Folgen der Möwen-Homestory zeigen, was sich in der Kolonie neben meiner Hütte alles ereignet. Kleiner Teaser: Morgen Abend wissen Sie, woher die kleinen Möwen kommen.

Gute Nacht und bis morgen!

Oben Silber- unten Heringsmöwe. Finden Sie die Unterschiede?

Trutz, blanke Hans?

Vergangenen Samstag ist eine Kolonie von Lachmöwen und Flussseeschwalben untergegangen. Das ist kein ungewöhnliches Phänomen (auch Anne Evers berichtete hier https://blogs.nabu.de/trischen/tag/hochwasser/ darüber). Aber die Szenen, die sich abspielten, waren schon herzzerreißend, auch für einen abgebrühten Naturkundler. Man kann anhand eines solchen Ereignisses allerdings einiges erklären. Und deshalb versuche ich Sie nun durch meinen Augen den Nachmittag des 21. Mai 2022 erleben zu lassen. Also – Katastrophenfilm ab!

Den ganzen Tag schon hatten starke Westwinde geweht. Gerade hatte ich mich noch gefreut, denn auf ihren wilden Lüften waren zwei Basstölpel, im Synchronflug wie mit unsichtbaren Fäden verknüpft, den Strand entlang gesaust. Des einen Freud, des andren Leid: Als ich mich umdrehte, bot sich mir ein Bild der Panik.

Etwa hundert Meter südlich der Hütte hat sich in der Salzwiese eine Brutgemeinschaft aus Lachmöwen und Flussseeschwalben angesiedelt. In ihrem Umfeld versuchen auch einige Paare Austernfischer und Rotschenkel ihr Glück. Die Kolonie schmiegt sich in die Südostbucht, ihr äußerster Rand schließt ziemlich genau mit der Vegetationskante ab, bevor kurz darauf das Watt beginnt. Von dieser Kante war aber nichts mehr zu sehen. Sie stand bereits tief unter Wasser – darüber kreischten in heller Aufregung hunderte Vögel, deren Gelege im Begriff waren, unterzugehen. Und es war noch eine Stunde bis Hochwasser…Flussseeschwalben sausten hin und her, völlig unfähig, den vordringenden Fluten mit ihren aufgeregten Schreien Einhalt zu gebieten; dazwischen flatterten wie große weiße Schmetterlinge Lachmöwen auf der Stelle und blickten ängstlich auf das untergehende Nest zu ihren Füßen. Besonders gerührt hat mich ein Paar Austernfischer, das sich schließlich eng aneinander kuschelte, als die Flut immer näher rückte. Sie hielten auf ihrem Gelege aus, bis das Wasser ihnen fast bist zum Bauch stand. Der menschliche Blick mag da einiges verklären, aber ich glaube es ist nicht zu weit hergeholt, zu vermuten, dass sie angesichts der Gefahr das Bedürfnis nach Geborgenheit und Halt verspürten.

Ich konnte noch eine weitere Beobachtung machen, die ich verhaltensbiologisch sehr interessant fand: Einige Lachmöwen begannen nämlich plötzlich, mitten im Chaos, Nistmaterial einzutragen. Natürlich stellt sich sofort der Gedanke ein: Na klar, die wollen schnell ihr Nest ein Stück höher bauen! Und wirklich ist bei Zwergseeschwalben beschrieben worden, dass sie ihr Gelege innerhalb kürzester Zeit bis zu 10 Zentimeter „hochbuddeln“ können, wenn Flugsand es zu begraben droht. Aber ganz so einfach ist es nicht. Denn „Nestbauaktivitäten“ beobachtet man bei Vögeln (und sogar Fischen!) auch als sogenannte Übersprungshandlung, wenn sie, zum Beispiel in einem Kampf an der Grenze ihres Reviers, nicht so recht wissen, ob sie fliehen oder angreifen sollen. Dann gähnen sie plötzlich, putzen sich oder picken nach Gras, ganz als würden sie ein Nest bauen, scheinbar völlig aus dem Kontext gegriffen. Das ist besonders gut für Silbermöwen und Dreistachlige Stichlinge beschrieben, und Niko Tinbergen hat sogar einen Nobelpreis, unter anderem für diese Beobachtungen, erhalten. Wenn Menschen trippeln, pfeifen usw. ist das vielleicht nichts so viel anderes. Ich bin mir also nicht ganz sicher, was die Lachmöwen wirklich dazu trieb, aber sie können es sich unten auf den Fotos einmal ansehen. Gerettet hat es sie nicht.

Als das Wasser wieder ablief, kehrte schließlich Ruhe ein und ich war ein bisschen traurig. Allerdings sind die meisten Küstenvögel an solche Ereignisse angepasst. Viele können ein zweites Gelege beginnen, manche wechseln dafür den Koloniestandort (ich habe am Folgetag gesehen, dass auch eine ganze Reihe übrig geblieben sind). Aber warum brüten sie denn überhaupt an so einer riskanten Stelle? Einfache Antwort: Weil es auch Vorteile hat. Trischen mag gelegentliche Sommerhochwasser erleben, aber dafür gibt es hier keinen Fuchs. Und warum dann nicht wenigstens ein bisschen höher auf dem Dünenkamm? Auch nicht so klug – denn da sitzen die Großmöwen, die nur allzu gerne Eier und Küken fressen würden. Die Stelle „auf der Kante“ ist also gar nicht so unklug gewählt. Unnötig zu erwähnen, dass klimawandelbedingt immer häufigere und höhere Hochwasser – und vor allem mangelnde Ausweichmöglichkeiten – schließlich doch limitierend für den Erhalt einer Art werden. Deshalb ist ein Raum wie Trischen so wichtig!

Übrigens – wir Menschen machen es nicht anders. Schließlich siedeln auch wir an der Küste. Vorteile bringt es ja auch für uns mit sich: Fruchtbare Böden, Handelsmöglichkeiten, Fischreichtum – und auch wir müssen gelegentlich einen Preis dafür zahlen. Nur ein Beispiel:

Mitte des vierzehnten Jahrhunderts lief es ohnehin nicht so gut für die Menschen in Mitteleuropa. In die Häuser der durch eine kleines Eiszeit mit Ernteausfällen geschwächten Bevölkerung kroch der schwarze Tod. Und nachdem die Pest überstanden war, brach 1362 schließlich eine Sturmflut nie dagewesenen Ausmaßes (der „blanke Hans“) über die „Uthlande“ der Nordsee herein. Etliche tausend Menschen kamen  in der „groten Mandränke“ um; übrig blieb das, was wir heute als die nordfriesischen Inseln kennen. Umsiedeln? Ausweichen? Nicht immer möglich. Und was hier bei mir Lachmöwen erleben, passiert den Menschen in Bangladesch und Ozeanien schon heute. In Detlev von Liliencrons berühmtem Gedicht wird aus dem allzu selbstbewussten „Trutz, blanke Hans!“ in der letzten Zeile eine Frage.

 

Bild 1: Kolonie in Panik. Zwischen den Grasbulten steht gewöhnlich auch bei Flut kein Wasser. An diesem Tag ist es etwa 50 cm höher als sonst angestiegen.

Bild 2: Lachmöwen tragen Nistmaterial ein.

Bild 3: Rat- und hilflose Austernfischer, darüber warnende Flussseeschwalbe.

Jurassic Trischen

Als Jurassic Park 1993 in die Kinos kam, war ich gerade sechs Jahre alt. Selbstverständlich durfte ich den Film, in dem sich ein buntes Dino-Allerlei an den Parkbesuchern gütlich tut, nicht sehen. Für einen kleinen Jungen, der ganze Herden von Gummidinosauriern hegte und pflegte (und die größeren Exemplare sogar an einer Leine über den Campingplatz zog), bedeutete das eine harte Zumutung, denn ich war wirklich vernarrt in die Biester. Meine Mutter kann heute noch fehlerfrei Namen wie Micropachycephalosaurus aussprechen.

Vor einigen Tagen stehe ich bei der Brutvogelkartierung am Nest einer Mantelmöwe. Plötzlich bin ich in die Zeit meiner Dino-Magazine zurückversetzt: Mir geht schlagartig auf, wie sehr dieses Nest jenen auf den Abbildungen von fossilen Dinosauriernestern, die in der Mongolei oder in Kanada gefunden wurden, ähnelt. Diesen Geistesblitz hatten andere natürlich schon vor mir. Paläontologen haben nachgewiesen, dass Dinosaurier nicht nur Nester bauten, sondern auch Brutpflege betrieben – und es gibt sogar Funde von mit Federn gepolsterten Nestern! Sie haben sicherlich auch schon einmal davon gehört, dass die Vorfahren der heutigen Vögel die Dinosaurier sind. Man kann es auch pointierter ausdrücken: Unsere Vögel sind die direkten Nachfahren der Dinosaurier. Noch mehr: Nach aktuellem Stand der Stammesgeschichte sind Vögel Dinosaurier.

Dass diese in der Folge eines Asteroideneinschlags vor 65 Millionen Jahren sämtlich umkamen, ist nämlich nicht die ganze Wahrheit. Die kurze Erzählung geht so: Aus dem großen Stamm der Dinosaurier gingen irgendwann zweibeinige Raubsaurier, die sogenannten Theropoden hervor. Zu ihnen gehörten so ikonische Arten wie Tyrannosaurus rex und Velociraptor. Einige von ihnen entwickelten in einem Jahrmillionen andauernden Prozess Federn und schließlich die Fähigkeit zu fliegen. Aber er hat sich gelohnt: Während alle ihre Verwandten ausstarben, überlebten genau diese gefiederten Leichtgewichte die ausgeprägten Umweltveränderungen. Genau wie ihre Urgroßeltern legten auch sie weiter Eier. Heute nennen wir sie Vögel. Und nun stehe ich verhinderter Paläontologe hier vor meinem Mantelmöwennest.

Ich werfe also einen vorsichtigen, neuen Blick auf die mich aus sicherer Entfernung skeptisch musternden Möwen. Eine von ihnen, stolze Urururururunekelin von T-Rex, „brüllt“, und ich finde, dass die Ähnlichkeit frappierend ist. Sollten die untenstehenden Bilder Sie nicht überzeugen, sehen Sie sich mal den Fuß eines Huhnes an. Oder, falls Sie gerade keines zur Hand haben, googlen Sie „Kasuar Fuß“. Überzeugt? Mit etwas Gänsehaut und erdgeschichtlich-nostalgischen Gedanken trete ich den Rückzug an.

In Jurassic Park (ich habe dann später heimlich das Buch gelesen) besteht der Witz der Erzählung darin, dass eine Neuzüchtung mithilfe von Dino-Erbmaterial gelingt. In der Geschichte wird dieses aus Mücken gewonnen, die DNA-haltiges Dino-Blut gesaugt hatten und danach in Harz eingeschlossen wurden, das durch Versteinerung zu Bernstein wurde. Bernstein angebohrt, Mücke ausgesaugt – Dino fertig! Aber so einfach ist es in Wirklichkeit nicht. Aus meiner eigenen Laborerfahrung weiß ich, dass DNA selbst aus frischen Biopsien nicht immer gut zu verwerten ist. Geschweige denn, man versucht ein 65 Millionen Jahre altes Molekül zu rekonstruieren und daraus ein Lebewesen zu machen..

Der Gedanke ist ja verführerisch: Wenn so viele Arten aussterben, können wir sie doch später einfach wieder neu erschaffen. Einige Forscher versuchen das gerade mit Mammuts. Ich finde, diese teuren und zeitaufwendigen Bemühungen verkennen, dass wir uns vor allem anstrengen sollten, bestehende Ökosysteme zu erhalten. Übrigens lehrt die Geschichte der Dinos auch, dass Arten sich nicht „mal eben“ anpassen können, auch wenn einige wenige die erdgeschichtlichen Katastrophen überleben. Dass die Möwen mich beim Nestbesuch nicht gefressen haben liegt daran, dass zwischen der Mantelmöwe Larus marinus und Tyrannosaurus rex eben doch ein paar Jahrmillionen liegen. Die vielzitierte Anpassung im evolutionären Sinne braucht Zeiträume, die den Teil der Erdgeschichte, der für den Menschen relevant ist, bei weitem übersteigen, und die bei den schnellen Veränderungen, die wir dem Planeten aufbürden, in der Regel nicht mithalten.

Neben den Vögeln gehören zu Trischen auch Strandfunde. Nun spülte mir der Zufall neulich einen recht großen Bernstein vor die Füße. Ich weiß ja, dass das alles Hirngespinste sind. Aber manchmal, abends, halte ich ihn ins Licht der Lampe und schaue, ob nicht vielleicht doch eine Mücke…nun ja. Aber der kleine Junge in mir hätte so gerne einen Velociraptor!

 

Im Bild brüllender Tyrannosaurus vs. Heringsmöwe (Stellen Sie sich mal kleine Ärmchen an der Möwe vor! Ein Mantelmöwenbild habe ich leider gerade nicht parat). Darunter rechts Fossilfund eines brütenden Citipati-Dinosauriers auf seinem Nest mit Eiern. Das Fossil heißt „Big Mama“ und ist im American Museum of Natural History in New York ausgestellt. Links das Nest der Mantelmöwe – nebenan waren schon zwei Küken geschlüpft. Ganz unten der Bernstein.

 

Bildreferenz Dinosauriernest:

By ★Kumiko★ – https://www.flickr.com/photos/kmkmks/6188900283/, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=96895479

 

 

 

 

 

 

 

Im ornithologischen Süßwarenladen

Wie erkläre ich Ihnen das Birdrace?

Stellen Sie sich ein durchschnittliches sechsjähriges Kind vor. Nehmen Sie das Kind an die Hand, führen es vor die frischbestückte Süßwarenabteilung eines riesigen Kaufhauses und sagen Sie ihm: „Du hast 24 Stunden Zeit. Iss, so viel du kannst.“

Und nun tauschen Sie bitte das Kind gegen einen (Hobby-)Ornithologen und die Süßigkeiten gegen möglichst viele Arten Vögel in einem interessanten Revier aus. So funktioniert das Birdrace.

Seit 2004 hat sich in Deutschland der Brauch etabliert, am ersten Maiwochenende gemeinsam mit Freunden in die Natur zu gehen und zu versuchen, innerhalb von 24 Stunden möglichst viele verschiedene Vogelarten zu beobachten. Ich weiß, das klingt etwas nerdig, aber gewisse andere sich im Mai abspielende Bräuche mit gemeinsam losziehenden Freunden sind ja nicht minder seltsam. Und abgesehen vom schönen Erlebnis ergeben sich aus den Beobachtungen auf lange Sicht Daten, die man wissenschaftlich verwerten kann: Wenn fünfzehn Jahre lang jedes Jahr zum gleichen Zeitpunkt 100 Gruppen mit fünf Beobachtern losziehen und im Laufe der Zeit immer weniger davon einen Kuckuck oder Star auf ihrer Liste abhaken können, hat das etwas zu bedeuten.

Ehrensache, dass auch Trischen mit dabei ist! Im Vorfeld macht es mir immer besonderen Spaß, einen möglichst albernen Teamnamen zu entwerfen. Nachdem wir in den Vorjahren auf der Halbinsel Eiderstedt radelnd als „Easy Eider“ unterwegs waren (und coronabedingt virtuelle Gruppen erlaubt sind), firmieren wir diesmal unter „Easy Eider & Insulaner-Jones: Jäger des verlorenen Spatzes“. Allerdings gibt es heute auch noch andere Programmpunkte. Mein Versorger Axel kommt mit Frischwasser und Post, und der Festlandtrupp muss einen guten halben Tag in offizieller Funktion Brutvögel kartieren. Es bleibt also bei einer lockeren Telefonverbindung.  Aber kommen Sie einfach mal mit:

00:00 Uhr: Noch einmal kurz vor die Tür und die Ohren gespitzt: Ich höre die Rufe von Austernfischer, Ringelgans, Rotschenkel, Flussseeschwalbe, Lach-, Sturm-, Silber- und Heringsmöwe, einen flötenden Kiebitzregenpfeifer und das Trillern des Großen Brachvogels. Notiert. Und nun ab in die Federn, es geht früh raus!

04:55 Uhr: Erster Blick vor die Tür: Nebel und Nieselregen. Das erste Mal seit über vier Wochen. Ausgerechnet heute! An der Hütte rasten genau zwei Vögel: Ein Rotkehlchen (danke, auf dich ist Verlass!) und ein Zilpzalp. Keine Spur von Singdrosseln, die sonst jeden Morgen ihre Vertreter entsenden, geschweige denn von ungewöhnlicheren Gästen. Beim Kaffee werden die Wiesenpieper munter. Wenig später singt die erste Feldlerche. Kormorane und Löffler in der Kolonie, beim Blick über die Insel Brand- und Graugans.

05:45 Uhr: Das rauhe „Kärrick“ zweier Brandseeschwalben klingt wie Musik in meinen Ohren. Klasse! Im trüben Morgenlicht schnell die Wasserkante abgescannt: Sanderling, Sandregenpfeifer, Alpenstrandläufer, Steinwälzer, Eiderente. Vier Stockenten fliegen über die Hütte. Ein ziehender Trupp Nonnengänse weit draußen.

06:30h Uhr: Eine Gebirgsstelze zieht gen Nord! Immerhin, die taucht nicht jeden Tag auf. Die Welt liegt Grau in Grau. Passenderweise finde ich noch einen Dunklen Wasserläufer. Und am Strand bekrächzen zwei Rabenkrähen begeistert einen Seehundskadaver. Huh!

07:15h: Nun schnell zur Südspitze, denn Axel ist mit seiner Luise ist bereits früh morgens vor Anker gegangen. Außerdem habe ich dort dieses Jahr schon Fischadler ziehen sehen. Wer weiß? Meinen Weg am Strand kreuzt aber der Wanderfalke. Danke für’s Erscheinen, treuer Geselle! An Bord gibt es dann erstmal ein gemütliches Frühstück und heißen Kaffee, bevor ich die schweren Wasserkanister mit dem Handwagen zur Hütte ziehe und im zunehmenden Regen ziemlich durchnässt werde. Der Nebel wird immer dichter. Die Sicht beträgt vielleicht noch hundert Meter. Irgendwo über mir balzen trotzdem Zwergseeschwalben, und auch ein Paar Küstenseeschwalben gibt sich die Ehre.

10:00 Uhr: Kontakt zum Festland: Holger hat „eine finnische Spezialität“ entdeckt – den Terekwasserläufer, einen sehr, sehr seltenen Durchzügler! Im ornithologischen Süßwarenladen wäre das eine ziemlich dicke Marzipan-Nougat-Praline. Gehört sich auch so – Holger hat mir einst die Grundzüge der Ornithologie beigebracht. Ein anderer Freund, der in einem Team am Bodensee mitmacht, erzählt mir von seiner Schwarzspechtsichtung. Auf den kann ich hier lange warten…An der Hütte rutsche ich erstmal tüchtig aus und schlage mir den Kopf an, bevor ich weiter in den Nebel starre.

12:15 Uhr: Zwei Bachstelzen, und, immerhin, ein Gartenrotschwanz, haben den Weg durch die dicke Suppe gefunden. Langsam klart es auf. Ich beschließe, den Strand abzusuchen, denn die Luft um die Hütte wirkt wie ausgestorben. Ah, doch, da rufen die Schwarzkopfmöwen!

13:30 Uhr: In weiter Ferne ein Seeadler auf der Sandbank. Eine Trauerente, wo ich vor einer Woche noch 500 zählte. Keine Spur von Sterntauchern, sie sind wie von der Meeresoberfläche verschluckt – abgezogen!

14:25 Uhr: Ganz im Norden sehe ich unter jagenden Flussseeschwalben eine Zwergmöwe im Wind tanzen. Ich tanze auch. Auf dem Rückweg zur Hütte begleitet mich ein hübscher Steinschmätzer.

15:10 Uhr: Eine Hohltaube saust über die Insel, gefolgt von fünf Regenbrachvögeln.

18:25 Uhr: Nichts tut sich. Es ist im Wind schon wieder so kalt, dass ich mit zwei Pullovern, Handschuhen und Mantel Wache schiebe. Es is doch zum..! Schließlich donnern wie die Feuerwehr mit Tatütata als Retter in der Not zehn feuerrote Knutts über die Südostbucht. Eine halbe Stunde später kann ich noch eine Pfuhlschnepfe „rausarbeiten“. Keine Spur von Zwergstrandläufer, Grünschenkel, Schnatterente…die alle gestern noch da waren.

19:00 Uhr: Im Abendlicht stolziert eine vorjährige Steppenmöwe am Strand. Und dann, bis zum Sonnenuntergang – nichts.

Mit einer eher mageren Ausbeute von 46 Arten und einer größer werdenden Beule am Kopf beschließe ich um 21:00 Uhr den Tag. Immerhin kann ich Wanderfalke, Zwergmöwe und Steppenmöwe zu den Funden der Truppe am Festland beisteuern; sie wurden heute nur hier beobachtet. So kommen wir insgesamt auf über 140 verschiedene Vogelarten. Viele Winterarten waren bereits abgezogen, viele Sommerarten noch nicht anwesend. Vor allem fehlte der Singvogelzug fast völlig: Bei über 16 Stunden Beobachtungszeit hat nicht eine einzige Schwalbe sich meiner erbarmt (heute balzen sie an der Hütte). Ich muss mir also sagen, was ich so vielen erlebnishungrigen Leuten auf so vielen Führungen schon gepredigt habe, wenn der erhoffte Vogel sich nicht einstellen wollte: Die Natur ist kein Zoo. Und genau darin besteht der Reiz.

Auch wenn ich es schon ziemlich frech vom Fischadler fand, dass er am nächsten Abend im schönsten Licht über der Hütte kreiste. Er saß bestimmt die ganze Zeit im Nebel auf dem Dach, der Schelm!

Bild 1 – Birdrace: Vögel im Nebel

Bild 2 – Kein Birdrace: Fischadler in der Sonne