Der Greif
Es gibt Naturphänomene, die selbst den zivilisiertesten Menschen nicht kalt lassen: Das kann ein Sonnenaufgang über dem Meer sein, ein rauschender Wasserfall oder ein schweres Sommergewitter. Neben der Begegnung mit der unbelebten Natur ist es aber sicherlich jene mit dem wilden Tier, die am intensivsten, nachhaltigsten und psychologisch am interessantesten ist.
Unter den Tieren wiederum gibt es solche, die eher unter dem Radar laufen und solche, die mit fast jedem „etwas machen“. Ein farbloser, winziger Schmetterling, der nur einen wissenschaftlichen Namen trägt, mag mir ein seliges Lächeln ins Gesicht zaubern; ich erwarte aber nicht, dass das jeder nachvollziehen kann. Ganz anders verhält es sich mit dem Seeadler. Ich möchte anhand seines Beispiels ausloten, was eigentlich passiert, wenn uns das Wilde begegnet.
Vorab müssen Sie wissen, dass Seeadler um die vorletzte Jahrhundertwende in Europa vor allem durch das Sammeln von Eiern und aktive Bejagung ausgerottet waren. Einem zeitweiligen Anstieg der Population folgte in den späten 60er- und 70er Jahren dann der fast komplette Einbruch des Bestands. Schuld war das Insektizid DDT, das sich am Ende der Nahrungskette, also auch in Greifvögeln, anreicherte und die Kalkbildung der Eierschalen störte. Es kam fast kein Jungvogel mehr durch. Umfangreiche Schutzmaßnahmen unter Einsatz vieler Helferinnen und Helfer und ein DDT-Verbot retteten die Art schließlich haarscharf, bevor es zu spät war. Ich finde, das ist eine großartige Erfolgsgeschichte des Naturschutzes, die zeigt, dass wir mit vereinten Kräften wirklich etwas schaffen können. Und sie ermöglicht Begegnungen wie diese:
Es ist Ende März auf Trischen. Der Himmel ist eisgrau. Noch vor wenigen Tagen wehte Schnee in dichten, nassen Fahnen vom Himmel. Jetzt liegen die Sandbänke im Wasser, als müssten sie sich vom Herumwandern unter der Gewalt der Winterfluten ausruhen. Dick eingepackt in meinen Mantel stehe ich auf dem Geländer der Hütte und spähe angestrengt durchs Fernglas, denn draußen auf einer der Bänke sitzen vier junge Seeadler, deren genaues Alter ich zu bestimmen versuche. „Jung“ heißt in diesem Fall nicht älter als fünf Jahre und noch nicht geschlechtsreif. Die Tiere vagabundieren, oft in lockeren Trupps, durch die Lande, gekleidet in ein Gefieder, das dem der Alttiere von Jahr zu Jahr ähnlicher wird. Die vier Gesellen hier sind noch stracciatellafarben; dunkle, schokoladenbraune Federn wechseln sich mit cremefarbenen ab; insgesamt wirken sie etwas unfertig. Aber das kommt noch. Als ich die Beobachtung notiere, schreckt mich das tiefe „Hrott, hrott“ der Ringelgänse auf – ein Blick durchs Fernglas – die Sandbank ist leer. Ein Blick in den Himmel: Vier fliegende Teppiche setzen zum Sturzflug an. Seeadler wirken mit bis zu 2.40 Meter Spannweite (schreiten Sie das mal ab!) von weitem oft etwas schwerfällig, aber als sie nun zum Angriff auf die Ringelgänse ansetzen, käme einem kein Begriff weniger in den Sinn. Während der Schwarm unter lautem Rufen das Weite sucht, jagen die vier Jungadler nun im Verbund eine Ringelgans, die das Tempo nicht halten kann: Neben ihrem panischen Flügelschwirren sehe ich den nächsten Verfolger die Luft mit seinen riesigen Schwingen geradezu schaufeln, jeder Flügelschlag hebelt ihn mehrere Meter näher an seine Beute heran; die ganze Szene scheint nichts als eine Illustration der Natur zum Thema „Tempo“. Es fehlt nur das wilde Getrommel, das solchen Szenen in Naturdokumentationen unterlegt wird. Aber das alles passiert lautlos. Keiner der Vögel ruft jetzt noch. Nur der Wind braust langsam stärker auf. Schließlich landet die erschöpfte Gans im Wasser. Alle paar Sekunden stößt einer der Seeadler nieder und zwingt sie zum Untertauchen. Und dann – lassen die Seeadler von ihr ab. Ich weiß bis heute nicht, was sie dazu bewegte. Sie setzten sich zurück auf die Sandbank und putzten sich in trauter Viersamkeit, während die Ringelgans sich flach aufs Wasser gedrückt trollte, als hätte sie etwas ausgefressen.
Was für ein Naturschauspiel! Ein Eindruck allenfalls weniger Minuten. Aber vergessen werde ich es niemals. Neben der Aufregung, die sich von tausenden panischen Vögeln und der Anspannung der jagenden Adler durch die vibrierende Luft auf den Beobachter übertrug, sind es seltsam widerstreitende Gefühle, die mich bewegten: Man ist hin und hergerissen zwischen der Hoffnung für die Ringelgans, zu entkommen und der für die Adler, Beute zu machen. Diese menschliche Verteilung von Sympathien ist ökologisch natürlich sinnlos, aber sie bleibt eben nicht aus, wenn Menschen Natur betrachten.
Vor einigen Tagen haben Axel Rohwedder und ich eine Kontrollfahrt mit der Luise gemacht. Als wir zurückkamen, saß an der Südspitze der Insel wie in Stein gemeißelt ein Seeadler. Seine neugierigen dunklen Augen verrieten, dass auch er noch nicht ganz ausgewachsen war (dann wären sie heller) – aber das tat der Majestät der Erscheinung keinen Abbruch. Noch kein König, aber ein Thronfolger, den die riesigen Federn bedeckten wir Schuppen einen Märchendrachen. Und tatsächlich wirkte der Vogel fast wie ein Wesen aus der Fantasie, ein Greif, ein Wächter der Insel.
Ich glaube das ist es, was die Begegnung mit dem Wilden mit uns macht: Sie befeuert die Fantasie. Sie trägt uns heraus aus dem Raum, den wir als „natürlich“ empfinden – unsere menschengemachte Umgebung – und spannt uns ein in eine Welt, in der wir nicht das Zentrum sind, in der Ungeheuerliches, Unbekanntes, Wundersames, Nie-Gesehenes wartet, manchmal Schwer-zu Ertragendes, manchmal ein Erlebnis, das sich mit seiner Schönheit für alle Zeit in unsere Träume und Gedanken hineinmalt. Mit dem Schwinden der Wildnis schwindet also auch noch etwas anderes. Ist der Seeadler nicht ein fantastisches Symbol dafür, dass es so weit nicht kommen muss?
Bild 1: Der Greif von Trischen.
Bild 2: Diese Seeadlerfeder habe ich am Strand gefunden. Sie ist länger als mein Unterarm.