Stadtgeflüster
Liebe Leserin, lieber Leser!
Vor meinem Fenster ruft ein Dompfaff. Es ist schon sonnig heute in Hamburg, und manchmal kitzelt die Frühmärzsonne für einen Moment seine Federn. Dann scheint er sich an etwas zu erinnern: Es mischt sich, ganz eben nur, ein Seufzen und Schnaufen in sein ohnehin schon sehr zurückhaltendes „djüü“, und es wirkt ein bisschen, als wenn er nach den Silben eines vergessenen Liedes sucht.
Gerade sitze ich an meinem Schreibtisch und friere etwas am offenen Fenster. Aber ich lasse es noch einen Moment geöffnet, denn bisweilen mischt sich in das laute Treiben der Kinder auf dem Spielplatz vor meiner Wohnung und das Klackern der Tastatur schon der vorsichtige Versuch eines Vogels, der nach den richtigen Worten für den kommenden Frühling sucht. Und mir scheint, wir haben etwas gemeinsam.
Dem Dompfaff begegnen Sie am besten vor der Tür. Oder in der einschlägigen Bestimmungsliteratur. Mir begegnen Sie hier. Im kommenden Sommer darf ich mit Ihnen teilen, was ich auf der Nordseeinsel Trischen erlebe.
Wenn man Wildnis daran bemisst, wie viele Menschen sich an einem Ort aufhalten, ist Trischen einer der wildesten Orte Mitteleuropas. Hier trotzen Möwen dem Sturm, hier brüten weitgereiste Seeschwalben und Watvögel, hier formen Wind und See ein Stückchen Land, kaum größer als ein kleines Stadtviertel, ohne dass Deiche, Poller und Grenzen ihnen Einhalt gebieten. Ein einziger Mensch sieht zu. Ich habe das große Glück, dieser Mensch zu sein. Nun gehört Glück bekanntlich zu den Dingen, die sich vermehren, wenn man sie teilt. Und deshalb möchte ich Sie einladen, durch meine Augen zu sehen, durch meine Ohren zu hören und durch meine Worte vielleicht ein klein wenig zu fühlen, was diese – wie wir sehen werden, relative – Wildnis ausmacht, bis mich Mitte Oktober das Boot von Axel Rohwedder wieder ans Festland bringt.
Meine Daseinsberechtigung in diesem empfindlichen Stück Natur besteht übrigens in Nichts weiter, als sie zu beobachten und zu dokumentieren – und damit vielleicht ein Stück zum Verständnis der Prozesse, die ihr innewohnen und denen sie ausgesetzt ist, beizutragen. Mir liegt das schon deshalb am Herzen, weil dem eine gewisse biographische Tradition zugrunde liegt. Ich habe 2006/2007 meinen Zivildienst im NABU-Naturzentrum Katinger Watt abgeleistet und bin nach dem Studium prompt zu meiner alten Liebe zurückgekehrt, um für ein weitere Sommersaison die Brutvögel am Eidersperrwerk zu erfassen. Nach fünf Jahren, die ich als Arzt und Wissenschaftler an einer großen Universitätsklinik gearbeitet habe, ruft mich nun wieder die Küste. Mein Leben spielt sich also ohnehin irgendwo zwischen Mikroskop und Fernglas ab.
Sie werden also dabei sein, wenn ich Vögel zähle, die Insel vermesse, wenn ich Wasser und Nahrung vom Boot geliefert bekomme, in die Welt der Nachtfalter eintauche und in der Salzwiese Pflanzen bestimme. Sie werden tosenden Sturm erleben und Sommerhitze, das erste Ei eines Rotschenkels im Frühling und die letzte Feldlerche auf dem Herbstzug, bevor ich die Insel im Oktober wieder verlasse. Und vielleicht werden Sie auch den einen oder anderen einsamen Abend in der Hütte mit mir verbringen. Sie sind deshalb herzlich eingeladen, mir im Kommentarfeld des Blogs zu schreiben: Teilen Sie auch Ihre Naturerlebnisse mit mir! Ich bin gespannt darauf, was Sie dieses Jahr erleben und hoffe, dass Sie mich auf ein paar Schritte am Spülsaum und den einen oder anderen Vogelkiek begleiten werden.
Inzwischen dämmert es. Der Dompfaff hat sich wohl noch einmal zurückgezogen um sich zu überlegen, wie sein Lied weitergeht. Ich bin froh, einige Silben gefunden zu haben. Wir beide haben noch etwas Zeit. Mitte März geht es dann los. Ich steige auf die Planken. Und mein Dompfaff hält die Stellung in Hamburg.
Bis dahin bleibe ich Ihr
Till Holsten