Ice, Ice, Baby!

Nun ist es so weit, der Winter verabschiedet sich endgültig. Aber er hat einen verdammt festen Händedruck! Das habe ich Sonntag spüren müssen, als ich die Tür kaum gegen den eisigen Ostwind aufstemmen konnte. Bei Böen bis 60 km/h muss ich (so stelle ich mir das zumindest in meiner wilden Fantasie vor) ausgesehen haben wie ein Polarforscher, als ich in eine Art Roald-Amundsen-Gedächtnismantel gehüllt und mit  einer dicken Pelzmütze auf dem Kopf am Strand nach Treibholz für den Ofen gesucht habe. Glücklicherweise hatte das Meer mir genug vor die Tür gelegt, sodass abends schließlich ein lustiges Feuer im Kamin knisterte.

Als letzte Boten hat der Winter mir zwei besondere gefiederte Gäste geschickt, von denen ich noch einmal erzählen möchte, bevor wir dann im nächsten Beitrag wirklich dem Frühling die Tür öffnen.

Trischen wird hauptsächlich von Möwen besiedelt. Den M(L)öwenanteil daran stellen die sattgrauen Heringsmöwen und die hellgrau gefiederten Silbermöwen, die Sie vielleicht auch von der Hafenpromenade ganz gut kennen. Beim Blick über den weiten Nordstrand fiel mir unter ihren Schwärmen aber etwas auf, das das Auge irritierte. Vielleicht haben Sie das schon einmal erlebt: Man hat sich an ein Muster gewöhnt, und plötzlich stimmt irgendetwas darin nicht. Oft kann man es zunächst gar nicht genau benennen. Aber in diesem Fall war unter hunderten Vögeln irgendwie zu viel Weiß im Bild. Als das auflaufende Wasser die Tiere nach und nach auffliegen ließ, gab es den Blick frei auf einige sehr große Möwen, die einen ziemlich alten Kadaver – vielleicht ein Seehund? – umstanden, von dem bald nur noch die Rippen aus dem Wasser ragten. Drei von ihnen trugen einen anthrazitenen Federmantel – das waren Mantelmöwen. Die vierte aber war ganz und gar crèmeweiß. Ich hatte eine Eismöwe entdeckt.

Eismöwen leben, der Name lässt es ahnen, im höchsten Norden. Sehr selten zieht es eine von ihnen bis zu uns in die südliche Nordsee. Unten finden Sie ein Bild des Exemplars – eine im letzten Jahr geborene Möwe – das ich erleben durfte, durchs Spektiv fotografiert. Eismöwen sind ziemlich groß, größer als die ja schon recht beeindruckenden Silbermöwen vom Badestrand. Kennzeichnend ist, dass sie, anders als fast alle anderen Möwen, keine schwarzen Flecken in den Handschwingen (etwas vereinfacht: Den Flügelspitzen) aufweisen. Schauen Sie mal auf die Möwen, die Ihnen begegnen, Sie werden keine ohne Schwarz finden. Falls nicht, schreiben Sie mir bitte.. Das Weiß sticht also hervor; man sieht in heimischen Gefilden selten Tiere, die ganz weiß, aber kein Albino sind. Daher meine Irritation beim Beobachten. Es war aber gar nicht die besondere Färbung, die mich am meisten beeindruckt hat, sondern – wie soll ich es sagen? Ihr Ausdruck! Ihre Bulligkeit, die voluminöse Brust, die aussieht, als wäre sie extra gepolstert gegen Nordwind von vorne, der lange, kantige, wie mit einem Keil gehauene Kopf, der kurze Schwanz; alles wirkt hier in der Sonne Trischens etwas fehl am Platze und erzählt von endlosen Winterstürmen, von rauhen Felsklippen über eisiger See und davon, dass so ein gammeliger Seehundskadaver (den die waffeleisverwöhnten Silbermöwen verschmähen) doch echt ein verdammt leckerer Happen ist. Und doch wirkte sie irgendwie zurückhaltend. Sie wird wohl bald wieder gen Norden fliegen.

Im Spülsaum, im trocken raschelnden Treibsel, war auf meinem Rückweg dann noch ein viel, viel kleinereres, unauffälliges Vögelchen unterwegs, das sich nur durch einen ganz weichen Pfiff verriet: Eine winzige Schneeammer. Auch sie brütet in arktischen Gefilden und ist nur im Winter zu Gast. Mit etwas Glück erleben Sie sie beim Spazierengehen am Winterstrand, wenn sie in weiß blinkenden Trupps auffliegen. Sie war ganz alleine, wie die Eismöwe; ihre Gefährten sind wohl schon weiter gezogen. Und so turnte sie durch den Spülsaum, klein, hurtig, und wirklich – ziemlich niedlich.

Ob also bärbeißig wie eine Eismöwe oder fix wie die kleine Schneeammer – ich hoffe, Sie sind gut durch den Winter gekommen. Wir winken den Wintervögeln. Der Frühling kann kommen!

 

 

Till Holsten

Vogelwart 2022