Haaaai!!

Na, Aufmerksamkeit erregt? Offensichtlich, denn Sie haben den Beitrag ja aufgerufen. Ganz ehrlich – hätte ich auch. Ich lese im Internet und in Büchern ALLES, das in irgendeiner Form mit Haien zu tun hat. Meistens funktioniert das ja als reines Clickbaiting à la „Riesiger Weißer Hai taucht plötzlich unter Schwimmerin auf – klicken Sie HIER um zu sehen, was dann geschah!“, und diesen hinterhältigen Mechanismus habe ich gerade ja auch genutzt. Aber: Ich will Sie nicht enttäuschen. In diesem Blog geht es um die Natur auf Trischen. Und deshalb geht es heute um – Haie.

Spätestens ab Juni sind die Zeiten der improvisierten Dusche in der Enge der Hütte vorbei. Das Meer lockt. Und es gibt nichts Schöneres, als morgens direkt aus dem Bett in die Wellen zu laufen, sofern die Nordsee sich denn gerade die Ehre gibt. Erst taufeuchtes Gras, dann den schon warmen Sand unter den Füßen, vorbei an sonnengelb leuchtenden Distelköpfen, spaziere ich über die kleine Düne in die Brandung. Neben mir warnt der Sandregenpfeifer. Über mir rufen Seeschwalben. Als ich wenige Sekunden später auf dem Rücken im Wasser liege, hängen sie über mir im Himmel wie ein Mobilée. Sie steigen in der Luft auf und ab, wie mich die sanfte Dünung auf und ab trägt; manchmal kommen wir uns entgegen, dann entfernen wir uns; aber immer wieder betrachten wir einander, und bisweilen fällt auch ein Kommentar: „Krrriiiiäääh!“ – „Na, Schöne?“ Mehr wird aber nicht geredet. Im Gang der Wellen steigen wie die Seeschwalben auch Gedanken auf, verweilen, versinken wieder. Heute ist einer: Das Wasser ist aber schon ganz schön trübe. So braun. Undurchsichtig. Was mag da unter mir sein? Strandkrabben, Garnelen, Schlick, klar. Vielleicht ja auch eine Flunder? Oder eine große Scholle? Oder…? Was immer da ist, ich würde es nicht sehen.

Vielleicht war es ein Fehler, dass ich am Vorabend etwas über Bullenhaie gelesen habe. Ich hatte mir ein Buch bestellt, das ich als Kind bestimmt hundertmal aus der Stadtbibliothek ausgeliehen hatte: „The Album of Sharks“ von Tom McGowen. Es ist 1978 erschienen, und es ist interessant zu betrachten, wie sich unser Verhältnis zur Natur seitdem gewandelt hat. „Die meisten Haie sind sicherlich extrem gefährlich“ steht da im Vorwort, und es gibt launige Geschichten zum Weißen Hai („besser bekannt als Menschenhai“ – ‚man eater‘ im englischen Original) und eben auch zum Bullenhai. Der, so das Buch, „bekommt, was er verdient“, wenn er zur Beute von Schwertwalen wird. Aber vor allem jagt er gerne in flachem, trübem Wasser und steigt bis weit in Süßwasserflüsse auf. Die Wellen schwappen gemütlich. Mir wird irgendwie etwas mulmig.

Realitätscheck I: Von 500 Haiarten sind etwa zehn potenziell gefährlich. Unfälle mit Haien pro Jahr weltweit: 80 bis 100. Mit Todesfolge: Fünf bis zehn. Tote durch Blitzschlag: Drei bis zehn in Deutschland. Unfälle mit Kühen 2014 in Deutschland: 10200, vier Todesopfer. Bienen, Deutschland: Ungefähr 20 Tote pro Jahr. Ganz zu schweigen von all den Mädels, die ich bei „Zustand nach Pferdetritt“ am Wochenende im Schockraum begrüßen durfte. Passiert etwas mit einem Hai, ist das tragisch, aber zu 100% ist ein Mensch wissentlich in den Lebensraum eines Tieres mit scharfem Gebiss eingedrungen. Meine aus dem trüben Wasser aufsteigenden Gedanken zeigen, wie irrational unser Verhältnis zur Natur oft ist. Denn wenn ich Haaaaai! schreibe, sollte das in erster Linie die Aufmerksamkeit auf eine hochgefährdete Tiergruppe lenken.

Realitätscheck II: Jedes Jahr werden 100 Millionen Haie durch Menschen getötet. Beim Finning schneidet man ihnen lebendig die Rückenflosse ab und wirft sie ins Meer zurück. Soviel dazu. Und überhaupt: Haie in der gemütlich schwappenden Nordsee sind eben Quatsch.

Raus aus den Wellen. Die Füße treten auf festen Sand, Muschelschalen knacken unter den Sohlen – plötzlich stehe ich auf etwas, das sich anders anfühlt. Wie Leder. Ein Stück Tang? Mitnichten. Ich halte das kleine Ding gegen die Sonne. Durch eine derbe Hülle schimmert bräunlich-goldenes Licht. Oben und unten kringeln sich an den Ecken wie Engelshaar kleine Schnüre. Aufgrund der aparten Form nennt der Volksmund dieses seltsame Etwas ein Nixentäschchen: Ich bin auf das Ei eines Katzenhaies getreten. Ein kleiner Witz, den die Natur sich mit mir erlaubt hat.

Katzenhaie kommen in der Nordsee sogar recht häufig vor. Es sind schöne Tiere, gemustert wie ein kunstvoll gewebter Perserteppich. Tief am Grund der Nordsee legen sie ihre Eier in Tangwälder, wo diese mit den langen Schnüren Halt finden. Der kleine Hai kann durch die Hülle atmen und hat einen Dottervorrat, der ihn in etwa einem halben Jahr eine Größe erreichen lässt, die zumindest etwas unwahrscheinlicher macht, dass er direkt nach dem Schlüpfen selbst gefressen wird. Mehr als einen Meter werden Katzenhaie nicht lang. Von ihrem geheimnisvollen Leben sehen wir in der Regel – nichts. Aber hier ist der Beweis, am Strande Trischens: Sie sind da.

Das trübe, braune Wasser verbirgt also doch etwas. Es ist wirklich voller Leben. Wo wir instinktiv Schrecken und Gefahr vermuten – in der Nacht, im Wasser, im Dickicht – verbirgt sich häufig auch das Wunderbare und Schöne. Sehen Sie sich mal die Bilder und das Video an, die ich unten verlinkt habe. Meine Hai-Leidenschaft ist jedenfalls neu entfacht. Und jetzt gehe ich baden!

Achso, und eine Bitte: Meiden Sie Restaurants, in denen Haifischflossensuppe angeboten wird. Ich verstehe nicht, warum der Handel mit Haiflossen nicht längst untersagt ist.

Bild 1: Das Nixentäschchen, das ich am Strand gefunden habe – die Eikapsel eines Katzenhaies, darin etwas Sand.

Bild 2: Embryo des Kleingefleckten Katzenhaies, ebenfalls im Nixentäschchen.

Bild 3: Naturschutzwart bei der Lektüre seines Lieblingskinderbuches.

Und hier noch ein Link: Auf dieser Seite finden Sie ganz rechts (neben dem Stammbaum) ein schönes Video mit sich entwickelnden Katzenhaieembryos: https://de.wikipedia.org/wiki/Katzenhaie

 

 

Bildrechte für das Bild mit dem Katzenhaiembyro:

By © Alice Wiegand, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3316124

 

 

 

 

 

 

Till Holsten

Vogelwart 2022