Europa tritt beim Flächenschutz auf der Stelle – wie weit sind wir auf dem Weg zum 30-Prozent-Ziel?

Europa tritt beim Flächenschutz auf der Stelle – wie weit sind wir auf dem Weg zum 30-Prozent-Ziel?

Deutschland tut sich schwer, die selbstgesteckten Ziele im Gebietsschutz und beim Arten- und Biotopschutz zu erreichen. Dennoch war die Stimmung beim Treffen mit der EU-Kommission erstaunlich gut. Es besteht die Gefahr, dass wir das Scheitern im Naturschutz als neues Normal akzeptieren.

Rückblick – Deutschland mit vollmundigen Ansagen beim Gebietsschutz

Wie wir im März in unserem Blogeintrag „Wie wird der Schutz von 30 Prozent der Fläche in Deutschland umgesetzt?“ berichteten, hat sich Deutschland in den letzten Jahren mehrfach international dazu bekannt, 30 Prozent seiner Land- und Meeresfläche unter Schutz zu stellen. Die deutsche Bundesregierung hat dem sogenannten “30×30”-Ziel 2019 im Europäischen Rat als Bestandteil der „EU-Biodiversitätsstrategie bis 2030“ zugestimmt, hat sich 2021 als Mitglied der „High Ambition Coalition for Nature and People“ explizit diesem Ziel verschrieben und es im Dezember 2022 als „Target 3“ des neuen Weltnaturabkommens gefeiert. Anlass genug zu fragen, wie es heute um die Umsetzung des Gebietsschutz-Ziels in Deutschland bestellt ist.

Mit Spannung wurde daher das „4. Atlantische Biogeografische Seminar“ erwartet, dass vom 4. bis 6. September in Hannover stattfand. Die biogeografischen Seminare werden von der EU-Kommission organisiert. Sie bringen jeweils die Mitgliedsstaaten zusammen, die sich in der EU eine biogeografische Region teilen. (Im Falle der atlantischen Region sind dies Irland, Dänemark, Deutschland, die Niederlande, Belgien, Frankreich, Spanien und Portugal.) Die Seminare dienen dazu, den Umsetzungsstand von EU-Naturschutzrecht und –politik, insbesondere in Bezug auf den Gebietsschutz und die Erhaltungszustände geschützter Arten und Lebensräumen zu besprechen. Sie bieten EU-Kommission, Mitgliedstaaten und Nichtregierungsorganisationen die Gelegenheit, sich über Probleme auszutauschen, Lösungen zu diskutieren und nächste Schritte zu planen.

Zunächst ein kurzer Rückblick darauf, was die Ziele und Herausforderungen der EU-Biodiversitätsstrategie in Bezug zum Gebietsschutz in Deutschland sind. Obwohl das EU-Schutzgebietsnetzwerk Natura 2000 in Deutschland – zumindest an Land – als weitgehend vollständig erachtet wird, zeigt der letzte EU-Bericht über den Zustand der Natur von 2020, dass viele geschützte Lebensräume und Arten, insbesondere im Grünland, in Dünen, Mooren und anderen Offenlandtypen, weiterhin schlechte bzw. sich verschlechternde Erhaltungszustände zeigen. Was also stimmt nicht im Gebietsschutz in Deutschland?

Der stärkste Treiber der Verschlechterung der biologischen Vielfalt im Offenland ist bekanntlich die fortschreitende Landnutzungsintensivierung, insbesondere in der Landwirtschaft. Und da viele Schutzgebiete hierzulande sehr klein sind (Deutschland hat von allen EU-Mitgliedstaaten im Durchschnitt die kleinsten Natura-2000-Gebiete), aus mehreren Teilflächen bestehen oder die darin geschützten Lebensraumtypen nur geringe Flächenanteile einnehmen, sind die Gebiete in ihrem derzeitigen Zuschnitt, Management und ihrer Ausdehnung schlicht unzureichend, um sensible Lebensräume und Arten vor Beeinträchtigungen zu bewahren. Deshalb muss im deutschen Gebietsschutz noch viel passieren, soll der Verlust der biologischen Vielfalt aufgehalten und eine Trendumkehr erreicht werden.

Neben dem „30×30“-Ziel enthält die EU-Biodiversitätsstrategie nämlich zwei weitere wichtige Ziele: Zum einen die Vorgabe, 10 Prozent der Fläche (also ein Drittel der Schutzgebiete) unter strikten Schutz zu stellen. Zum Zweiten sollen die Mitgliedstaaten für mindestens 30 Prozent der gemäß der EU-Naturschutzrichtlinien meldepflichtigen Lebensraumtypen und Arten, die sich derzeit nicht in einem guten Erhaltungszustand befinden oder deren Zustand sich verschlechtert, angeben, wie die Verschlechterung gestoppt oder ein positiver Trend erreicht bzw. ein guter Erhaltungszustand erreicht werden kann.

Die Europäische Kommission hat für diese Ziele detaillierte Anleitungen publiziert. Demnach sollten die EU-Mitgliedsstaaten bis Ende 2022 Selbstverpflichtungen – sogenannte „pledges“ – einreichen, die der EU-Kommission eine Überprüfung der Zielerreichung – den sogenannten „review“ – auf biogeografischer Ebene ermöglichen. Daher spricht man bei den Zielen im Rahmen der EU-Biodiversitätsstrategie von den „pledge and review“-Prozessen. (Flächen, die im „pledge and review“-Prozess gemeldet werden, zählen auch für die Gebietsschutz-Ziele des Weltnaturabkommens.)

Grundsätzlich sollen die 30×30- und 10×30-Flächenziele nicht auf Ebene der Mitgliedsstaaten, sondern auf Ebene der biogeographischen Regionen erreicht werden. Ein Mitgliedland könnte also innerhalb einer biogeographischen Region weniger als 30 Prozent der Fläche unter Schutz stellen, wenn ein anderer mehr als 30 Prozent unter Schutz stellt und damit diese numerische Lücke schließt. Das gleiche gilt für streng geschützte Gebiete. Allerdings geht es in diesem Prozess auch darum, ein echtes transeuropäisches Naturnetz zu schaffen. In diesem sollen wichtige Lebensräume und Arten nicht nur verinselt geschützt, sondern auch eine funktionelle Konnektivität zwischen den Gebieten, Populationen und Habitaten hergestellt werden. Somit kann Deutschland, wie auch die anderen EU-Mitgliedsstaaten, sich nicht darauf verlassen, dass andere die eigenen Versäumnisse kompensieren, sondern muss 30 Prozent des eigenen Territoriums unter effektiven Schutz stellen. Interessanterweise nehmen Schutzgebiete in den verschiedenen biogeographischen Regionen der EU sehr unterschiedliche Flächenanteile ein. So besteht derzeit insbesondere in der atlantischen Region weiterer Meldebedarf – ein Grund mehr für Deutschland seine Hausaufgaben zu machen. Auch die 10 Prozent strikter Schutz sollten sich nicht nur in wenig besiedelten Randgebieten von Europa wiederfinden, sondern Lebensräume und Arten, die von Prozessschutz abhängig sind, in ihrem gesamten aktuellen oder potentiellen Verbreitungsgebiet schützen.

Wo stehen wir also im September 2023?

Flächenziele – seit März kaum Fortschritte

Deutschland hat Mitte März erste Meldungen für das Flächenziel abgegeben, als einer von nur drei Mitgliedstaaten der atlantischen Region bislang. Für das 30×30-Ziel hat Deutschland allerdings keine Einzelgebiete, sondern gesamte Schutzgebietskategorien gemeldet, die nach Auffassung der Bundesregierung schon heute den qualitativen Vorgaben der EU-Kommission entsprechen. Dazu gehören alle Natura-2000-Gebiete (also FFH- und Vogelschutzgebiete), Nationalparke, Nationale Naturmonumente, Naturschutzgebiete sowie die Kernzonen von Biosphärenreservaten. Zusammen umfassen diese Gebiete rund 17 Prozent der Landesfläche. Die Kernzonen der Nationalparke wurden bereits für das 10-Prozent-Ziel angemeldet, diese machen jedoch weniger als 1 Prozent der Landesfläche aus.

Die eingereichten „pledges“ werden von der Europäischen Umweltagentur sukzessive publiziert und sind dann hier zu finden.

Deutschland ist demnach noch weit von der Erfüllung seiner selbstgesteckten Gebietsschutzziele entfernt. Doch selbst bei den gemeldeten Gebieten gibt es noch einiges zu tun, denn Voraussetzung für ihre Anerkennung als Teil der 30×30-Kulisse ist, dass für jedes Gebiet Erhaltungs- und Entwicklungsziele festgelegt sowie Managementpläne erstellt werden. Das dies nicht einmal für alle deutschen Natura-2000-Gebiete der Fall ist, rügt die EU-Kommission derzeit in einem  gegen Deutschland. Auch für viele Naturschutzgebiete gibt es keine Managementplanung.

Es besteht also sowohl quantitativ als auch qualitativ noch viel Nachholbedarf.

Für die Meldung strikt geschützter Gebiete plant Deutschland zusätzlich, Kernzonen von Biosphärenreservaten, Wildnisgebiete, Wälder mit natürlicher Waldentwicklung, nach Forstrecht geschützte und ungenutzte Wälder, besonders geschützte Biotope sowie manche Natura-2000-Gebiete zu melden. Um welche Gebiete es sich genau handeln soll, steht allerdings noch nicht fest. Für die Meldung weiterer Gebiete zum 30×30-Ziel sieht Deutschland vor, zunächst einen Prüfauftrag an die Länder zu geben, welche Landschaftsschutzgebiete wie aufgewertet werden könnten, dass sie die Vorgabe der EU-Kommission zum Gebietsschutz erfüllen. Im Wesentlichen gilt zu klären, ob einzelne Landschaftsschutzgebiete schon heute in ihrer Verordnung den Schutz biotischer Schutzgüter vorsehen bzw. ob die Verordnungen in ihren Zielen sowie Ver- und Geboten dahingehend ergänzt werden könnten. Dafür hat das BMUV eine “Richtschnur” entwickelt, die mit den Ländern auf der nächsten Sitzung der Länderarbeitsgemeinschaft Naturschutz (LANA) abgestimmt werden soll. Ob nach der Meldung einzelner Landschaftsschutzgebiete tatsächlich die angestrebten 30-Prozent-Schutzgebiete erreicht sein sollten ist ebenso unklar wie die Frage, wie die dann noch vorhandene Lücke durch die Neuausweisung und Meldung weiterer Gebiete geschlossen werden könnte.

Deutschland braucht also noch Zeit, um die Flächenkulisse fertig zu stellen. Wichtig ist, dass hierbei nicht nur daran gearbeitet wird wo, sondern auch wie der Schutz auf diesen Flächen umgesetzt werden soll. Denn es geht nicht nur darum, der EU 30 Prozent der Fläche Deutschlands zu melden, auf der sich dann nichts zum Guten verändert, sondern bis 2030 ein effektives Netz an Naturschutzflächen in der ganzen EU zu knüpfen, welches auf allen Ebenen funktionstüchtig ist, für das Ressourcen gezielt eingesetzt werden und das somit einen messbaren Mehrwert für die Natur Europas bringt.

Schlechte Erhaltungszustände von Lebensraumtypen und Arten – noch kein Plan für Verbesserungen

Beim zweiten „pledge and review“-Ziel geht es darum bis 2030 sicherzustellen, dass sich die Erhaltungszustände der in der EU geschützten Arten und Lebensraumtypen nicht mehr verschlechtern und mindestens 30 Prozent der gemeldeten Arten und Lebensraumtypen, die sich aktuell in einem schlechten Erhaltungszustand befinden, in einem günstigen Erhaltungszustand übergehen oder zumindest einen positiven Trend aufweisen. Im Gegensatz zu den Flächenzielen gelten die Ziele zu den Erhaltungszuständen für jeden Mitgliedsstaat einzeln.

Die atlantische und die kontinentale Region haben EU-weit den größten Anteil an Arten und Lebensraumtypen in unzureichenden und schlechten Erhaltungszuständen. Deutschland liegt neben der alpinen in diesen beiden Regionen, der größte Teil Deutschlands liegt in der kontinentalen Region.

Deutschland hat Ende Mai eine Liste von Lebensraumtypen und Arten übermittelt, für die Maßnahmen zur Verbesserung der Erhaltungszustände geplant sind. Allerdings wurden in der Meldung noch keine Maßnahmen angegeben und auch kein weiterer Ablaufplan dazu aufgezeigt, wie die Verbesserung der Erhaltungszustände in Deutschland erreicht werden soll. Hier muss Deutschland dringend einen Plan vorstellen und auch bald schon beginnen diesen umzusetzen, wenn er bis 2030 sichtbare Fortschritte erzielen will.

Fazit: Besser als nichts, aber nicht genug

Dass sich Deutschland wegen seiner unzureichenden Bemühungen, den Verlust an biologischer Vielfalt aufzuhalten und seine international eingegangenen Verpflichtungen im Naturschutz einzuhalten, nicht vollständig blamiert, liegt allein daran, dass es die meisten anderen EU-Mitgliedstaaten bislang nicht besser machen. Neben Deutschland haben bisher nur Spanien, Schweden, Luxembourg, Zypern und Dänemark (unvollständige) „pledges“ eingereicht. So hinken die „pledge and reivew“-Prozesse mittlerweile heillos ihrem Zeitplan hinterher. Dennoch sind von der EU-Kommission bislang keine kritischen Töne zu vernehmen. Im Gegenteil: Unliebsame Themen wie die Erfüllung des 10-Prozent-Ziels sowie die Frage der Managementeffektivität in Schutzgebieten wurden beim 4. atlantischen biogeographischen Seminar von vornherein weitgehend ausgeklammert.

Zufriedenstellen kann einen diese Erkenntnis nicht. Insofern ist die konfliktscheue Duldsamkeit, mit der die EU-Kommission dem allgemeinen Schlendrian der Mitgliedstaaten im Naturschutz zusieht, nur dadurch zu erklären, dass auch auf EU-Ebene die mit der Umsetzung, Koordination und Überwachung der vereinbarten Ziele betraute Verwaltung von der politischen Leitung ausgebremst wird. Dabei läuft den handelnden Personen die Zeit davon.

2024 will die EU-Kommission zwar den bisherigen Fortschritt der EU-Biodiversitätsstrategie überprüfen und, falls der Fortschritt nicht ausreicht, gesetzliche Vorgaben erlassen. Umweltkommissar Sinkevičius ist wie der Rest der Kommission jedoch nicht mehr lange im Amt, denn Mitte nächsten Jahres wird ein neues EU-Parlament gewählt. Ob die neue Kommission endlich ehrgeizigeren Naturschutz und ein höheres Tempo bei der Umsetzung der EU-Biodiversitätsstrategie zur Priorität machen wird, ist angesichts derzeitiger Wahlprognosen zu bezweifeln. Es ist zu wünschen, dass Umweltkommissar Sinkevičius bald den nötigen Mut findet, von den EU-Mitgliedstaaten nachdrücklicher als bislang die Erfüllung ihrer eigenen Versprechung zu einzufordern.

Autoren: Jennifer Krämer und Dr. Tillmann Disselhoff

Keine Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

Bitte bleibe höflich.
Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht und Pflichtfelder sind markiert.