Das Geheimnis vom Ring am Vogelfuß
Die Südspitze von Trischen ist bei auflaufendem Wasser einer meiner Lieblingsorte. Wenn die Flut das Watt langsam verschluckt, rücken die riesigen Schwärme von Watvögeln immer näher an die Insel. Dann ist meine Zeit gekommen: Zusammengekauert und gut versteckt sitze ich zwischen Strandhafer und Meersenf, das Spektiv auf die Vögel gerichtet, und warte. Das Wasser steigt, die Vögel rücken näher und scheinen mich in ihrem Drang, den besten Ruheplatz zu ergattern, kaum noch zu bemerken. Genau auf diese Momente hoffe ich, denn sie bieten die beste Gelegenheit für eine ganz besondere Art der Beobachtung: Das Ablesen von Vogelringen.

Gut versteckt und gleichzeitig mit gutem Blick auf die sich nähernden Vogelchwärme
Wie ich in einem früheren Beitrag schon einmal erzählt habe (link) werden viele Vögel mit Farbringen versehen, die wie ein individueller Personalausweis funktionieren. Einen solchen Vogel in einem Schwarm von Tausenden zu finden, ist der erste Schritt. Mit dem Spektiv scanne ich Bein für Bein, immer auf der Suche nach einem Farbtupfer. An manchen Tagen hat man Pech, doch vor ein paar Wochen war das Glück auf meiner Seite. Es schien, als hätte sich eine ganze Reisegruppe beringter Knutts an der Südspitze Trischens versammelt.

Rastende Knutts mit Alpen- und Sichelstrandläufern
Plötzlich blitzt etwas Buntes im Spektiv auf. Ein Knutt mit einer Kombination aus farbigen Ringen an den Beinen. Jetzt beginnt der spannende Teil: Ich muss die Farbkombination ablesen, bevor der Vogel im dichten Schwarm wieder untertaucht oder sich so dreht, dass die Ringe nicht mehr zu sehen sind. Das Herz klopft, ich konzentriere mich, notiere die Farbreihenfolge. Geschafft!
Die Eingabe draußen erfolgt über die BirdRing- App. Später in der Hütte beginnt der zweite Teil der Recherche: Die App ist mit der Website cr-birding.org verknüpft, sodass ich schnell die passenden Beringungsprojekte finde und dem Projektkoordinator meinen Funde zusenden kann. Dieser freut sich natürlich, dass ein von ihm beringter Vogel abgelesen wurde. Im Gegenzug erhalte ich die gesamte Lebensgeschichte in Form des Beringungsdatums und aller Ablesungen mit Ort und Datum.

Farbberingter Knutt
Die Antwort, die ich bekomme lässt mich staunen: Dieser Knutt wurde im Jahr 2003 in Kanada beringt. Zu diesem Zeitpunkt war er, basierend auf seinen Gefiedermerkmalen, bereits mindestens zwei Jahre alt. Eine kurze Rechnung macht klar: Dieser kleine Vogel ist heute, im Jahr 2025, mindestens 24 Jahre alt. Man muss sich das einmal vorstellen: Knutts fliegen von ihren Brut- in ihre Überwinterungsgebiete bis zu 15.000 km, dabei können sie 8.000 km non-stop durchfliegen! Es gibt verschiedene Unterarten: Zwei davon nutzen die ostatlantische Zugroute, auf der das Wattenmeer als wichtiger Zwischenstopp liegt: C.c. canutus brütet im südwesten Russlands, die Überwinterungsgebiete liegen in Süd- und Westafrika, die Brutgebiete von C. c. islandica liegen in Kanada, Grönland und Spitzbergen, den Winter verbringen sie in Westeuropa und dem Mittelmeerraum (Trepte, A., 2024). Unser Knutt gehört der Unterart islandica an, in seinem langen Leben hat er unzählige Gefahren überstanden, Stürme über dem Atlantik überlebt und immer wieder seinen Weg gefunden. Dass ein so kleiner Körper eine solche Leistung über Jahrzehnte vollbringen kann, ist absolut faszinierend. Durch diese eine Ablesung erfahren wir nicht nur, welche Zugrouten er nutzt, sondern auch, welch biblisches Alter diese Weltenbummler erreichen können.
Natürlich hat sich die Technik weiterentwickelt. Heutzutage gibt es winzige, federleichte Sender, die Vögeln aufgesetzt werden können. Sie liefern noch viel detailliertere Daten und zeichnen automatisch auf, wo und wie lange sich ein Vogel aufhält. Doch die klassische Farbberingung ist nach wie vor unersetzlich. Sie ist günstiger, der Aufwand ist geringer und sie ermöglicht es, eine Vielzahl von Vögeln zu markieren.
Und sie hat ihren eigenen Reiz: Dieses geduldige Suchen, die Spannung, ob man einen farbberingten Vogel im Schwarm entdeckt und ob man den Code entziffern kann und die pure Freude, wenn es klappt. Wenn ich da in den Dünen kauer, der Rücken schmerzt und die Beine eingeschlafen sind, vergesse ich alles um mich herum. In diesem Moment zählt nur der Vogel und die Hoffnung, einen kleinen Teil seiner Geschichte zu enthüllen. Und ich weiß: Irgendwo auf der Welt freut sich gerade ein*e Forscher*in riesig über meine Nachricht, denn er oder sie hat nach langer Zeit wieder etwas von „seinem“/“ihrem“ Vogel gehört. Dieser Austausch und das Gefühl etwas zur Forschung beitragen zu können ist einfach schön.
Eure Naturschutzwartin 2025
Mareike Espenschied





