Mein Manifesttag

Liebe LeserInnen,

heute gibt es einen Blogeintrag, der vom herkömmlichen Schema abweicht. Ich verrate später, warum ich mir das herausnehme. Den Bogen zu Trischen schlagen Sie wahrscheinlich bereits selbst beim Lesen. Danke für Ihre Geduld!

Ich kann sehr dankbar sein: Seit ich denken kann, habe ich einen Freund. Dieser Freund hat inzwischen einen zweijährigen Sohn. Sie können sich vorstellen, dass das ein gar herziger Bub ist, dessen Gedeihen und Zukunft mir sehr am Herzen liegen. Und dieser Sohn hat ein Gute-Nacht-Buch, in dem allerlei Tiere auftauchen: Da ist die Rede von Elefanten, die sehr schnell laufen, von Löwen, die ganz viel raufen; der Reihe nach hat jede diese berühmt-vertrauten Tiergestalten aus Kindertagen ihren Auftritt und am Ende sagen sich alle Gute Nacht. Schön. Beim Vorlesen ging mir auf, dass der Kleine mit großer Wahrscheinlichkeit in einer Welt leben wird, in der es diese Tiere nicht mehr gibt, wenn er so alt ist wie ich jetzt.

Nun fällt Afrika ja nicht direkt in meinen Zuständigkeitsbereich. Aber die Natur ist weltweit auf dem Rückzug. Irgendwann nach meinem Gutenachtbucherlebnis stieß ich in einem anderen Buch auf ein Kapitel mit dem Namen „Vom Tod der Kindheitstiere“. Ich war wie gebannt: Hier wurde Wort für Wort mit Daten untermauert, was sich in mir als diffuses Gefühl eingestellt hatte. Unter Verweis auf etliche Quellen tauchen sie alle wieder auf: Afrikanische Elefanten (Noch 1.7 Millionen in den 70er Jahren, aktuell etwa 350.000), Tiger (97% Verlust im vergangenen Jahrhundert), Löwen (96% Verlust, gleicher Zeitraum). Aber es trifft auch die bei uns lebenden Tiere: Bestände von ehemaligen Allerweltsarten wie Feldlerche, Rebhuhn, Kiebitz und Star befinden sich seit Jahren im freien Fall. Und die Liste lässt sich beliebig verlängern.

Das Buch heißt „Das Ende der Evolution“ und wurde von Matthias Glaubrecht verfasst. Glaubrecht ist Direktor des Zentrums für Naturkunde in Hamburg (Cenak). Sein Buch wirkt wie in Wut geschrieben. Den Titel verdankt es der erschreckenden Tatsache, dass neben dem Verlust der Arten auch die Gesamtzahlen der Wildtiere rapide abnehmen. Seit 1970 hat sich der Gesamtbestand wildlebender Tiere um durchschnittlich 68% verringert. Wissen Sie, wie groß der Anteil von Haustieren, also Rindern, Schweinen, Hühnern usw. an allen Tieren dieser Welt ist? Schätzen Sie mal. Es sind, je nach Studie, ungefähr 95%. Von hundert Tieren dienen 95 der Ernährung von Menschen. Der Rest ist das, was von Natur bleibt.

Teuflisch, dass uns das meist nicht einmal bewusst ist. Denn die jeweils nächste Generation kennt ja bereits nur eine noch arten-, tier- und pflanzenärmere Welt. Das Problem nennt man generation shift. Für mich ist es schon Normalzustand, dass keine Zwergseeschwalben mehr entlang unserer binnenländischen Flüsse brüten, dass der Schlangenadler in Deutschland ausgestorben ist und dass ich erst mit Mitte zwanzig das erste Mal einem Feuersalamander begegnet bin. Die nächste Generation wird in einer Welt ohne Kiebitz und Feldlerche leben. Und die übernächste? Bleiben irgendwann nur noch Menschen, irgendwo zwischen Autobahnen und in glattgeschliffenen Städten, sich selbst das Maß aller Dinge?

Diese Vision verkennt, dass wir als Menschheit ohne Natur nicht überlebensfähig sind. Eine Welt „nur mit Menschen“ würde nicht funktionieren. Wenn ich Schwebegarnele und Goldregenpfeifer für unser Überleben verantwortlich mache, klingt das zunächst weit hergeholt. Aber wer – jüngst so gelesen und hier sinngemäß wiedergegeben – moniert, dass „da ja nur wieder irgendwelche Naturschützer ihre [!] dreifach gefleckte Tümpelunke“ bewahren wollen, hat offensichtlich immer noch nicht verstanden, dass wir Teil eines Netzwerkes sind. „Mein“ Goldregenpfeifer ist eben nicht vergleichbar mit irgendeinem persönlichen Hobby wie, sagen wir, einer Modelleisenbahn im Keller. Ein Netz mit nur einer Masche ist kein Netz mehr.

Trischen ist seit mehreren Jahrzehnten sich selbst überlassen. Ich habe das riesige Privileg, wenigstens einmal in meinem Leben weitestgehend (sieht man von Plastikmüll, Ölbohrinsel in Sichtweite usw. ab) intakte Natur zu erleben und Ihnen davon berichten zu dürfen. Es ist wundervoll, dass es diesen Ort gibt. Aber Trischen wird nicht reichen. Experten gehen davon aus, dass bis zu 30% der Fläche aller Ozeane und Landmassen unter Schutz gestellt werden müssen, damit die Natur dauerhaft eine Chance hat – und wir mit ihr. Es wird viel Engagements und vieler kluger Köpfe bedürfen, um dies mit den Bedürfnissen einer weiterhin wachsenden Weltbevölkerung in Einklang zu bringen.

Deshalb bitte ich Sie heute: Engagieren Sie sich. Engagieren Sie sich in den Naturschutzverbänden für den Erhalt von Lebensräumen und Artenfvielfalt. Engagieren Sie sich gegen Armut. Menschen müssen eine Chance zum Überleben haben, ohne gezwungen zu sein Natur zu zerstören. Engagieren Sie sich gegen die absurden Auswüchse von zu viel Reichtum mit all den sinnlosen, ressourcenfressenden und zerstörerischen Ansprüchen, die er mit sich bringt. Oder teilen Sie diesen Blog oder diesen Eintrag.

Nun bin ich heute 35 Jahre alt geworden. In diesen 35 Jahren sind knapp 30 Vogelarten ausgestorben und ein erheblicher Prozentsatz des wilden Lebens auf der Erde verschwunden. Das darf nicht so weitergehen. Der Zufall bringt es mit sich, dass ich gerade einige Menschen mit meinen Gedanken erreichen kann – sehen Sie mir bitte nach, wenn ich Ihnen diese nun aufbürde. Es ist mir eine Herzensangelegenheit.

Zu guter Letzt: Ich schreibe Ihnen das nicht nur als Naturschützer (Sie wissen, der mit „seiner“ Irgendwaskröte). Ich schreibe Ihnen das auch als Kinderarzt. Mein Projekt wird sinnlos, wenn ich die Kinder nicht in eine Welt entlassen kann, die ihnen eine lebenswerte Zukunft bietet. Für die Generation nach mir wünsche ich mir eine Welt mit Kiebitzen. Mit Feldlerchen. Und mit Löwen nicht nur im Bilderbuch!

Ich danke Ihnen, wirklich, sehr, sehr für’s Lesen. Und ich verspreche Ihnen, dass es das nächste Mal wieder etwas Schönes gibt. Denn ich will nicht müde werden von dem zu erzählen, was wir verlieren, wenn wir uns nicht verdammt anstrengen.

Herzlichst,

Ihr

Till Holsten

Zum Weiterlesen: Matthias Glaubrecht, Das Ende der Evolution, Pantheon, ISBN 3570102416

(genauere Quellenangaben zu den Zahlen folgen!)

Unten ein Kleinod, das bald verloren gehen könnte: Die wunderschöne Zwergseeschwalbe, die in Deutschland als vom Aussterben bedroht gilt. Mit etwa dreißig bis vierzig Brutpaaren darf ich die Insel teilen.

Till Holsten

Vogelwart 2022