Mein Freund, der Rotschenkel

Langjährige Leserinnen und Leser des Trischenblogs kennen sie inzwischen genau so gut wie der Vogelwart. Man kommt schlichtweg nicht um sie herum – und das meine ich ganz wörtlich, denn seit ich im März den ersten Fuß auf die Treppe der Hütte gesetzt habe, haben mir die Trischener Rotschenkel deutlich gemacht, dass das hier ihr Reich ist: Morgens sitzen sie bereits vor Sonnenaufgang auf dem Geländer, mittags jagen sie sich in wild sausenden Gruppen um den Turm, in der Abenddämmerung schauen sie neugierig zum Fenster herein und beäugen kritisch meine Kochkünste. Alles (!) geschieht unter permanentem, lautem Flöten. Wenn es einen Kommentar der Natur zu meinem Leben hier gibt, dann lautet er: Tü-tü-tü-tü-tü-tü-tüüü!

Ich bilde mir aber ein, dass sich unser Verhältnis zueinander im Laufe der Zeit geändert hat. Anfangs konnte von Freundschaft natürlich keine Rede sein. Im Tü steckte vor allem Protest. „Was willst du hier? Hau ab! Und zu blöd, uns zu fangen, ist er auch noch!“ übersetzte ich im Geiste. Im Mai war vor liebestrunkenem Geflöte kein Halten mehr. Meine Übersetzung erspare ich Ihnen. Ich war völlig abgeschrieben. Doch inzwischen werde ich offensichtlich wieder interessanter.

Da gibt es einen Moment, der mich immer wieder tief berührt: Es ist der Moment, in dem mir bewusst wird, dass ich jetzt von einem Tier wahrgenommen werde. Ich meine damit nicht die Brandgänse, die hoch über mich hinwegfliegen und mich als kleinen Punkt unter vielen am Strand sehen. Und ich meine auch nicht die Mücke, mit der ich nachts einen Kampf um das Blut führe, das sie unter meiner Haut wittert. Ich meine den Moment, in dem man sich gegenseitig ins Auge schaut.

Diese Momente sind selten. Ich erinnere mich an einen Fuchs, der einmal plötzlich wie aus dem Boden gewachsen im Wald vor mir stand. Wie gebannt sahen wir uns vielleicht zehn Sekunden lang an. Dann drehte er sich um und rannte fort. Ich denke an eine Küstenseeschwalbe, die fast eine halbe Minute über mir in der Luft stand. Sie blickte herunter, mir direkt ins Gesicht. Ich blickte hoch. Ich konnte sehen, wie ihre Augen meinen Blick – nicht etwa meinen Körper – fixierten. Wir nahmen uns wahr. Zu spüren, wie sich im tierischen Gegenüber etwas tut, dass man in diesem so unendlich fremden und doch so nahen Bewusstsein in irgendeiner Form in gerade diesem Augenblick präsent ist, macht etwas mit einem. Ich kann es gar nicht so richtig beschreiben, aber ich glaube es hat damit zu tun, dass man sich seiner eigenen Kreatürlichkeit bewusst wird.

Die Rotschenkel liefern mir diesen Moment häufig. Fast jeden Morgen sehen wir uns an. Oft blinzeln wir uns auch zu. Das kurze Schließen der Augen signalisiert: Ich bin nicht zu 100% aufmerksam. Ich will dich nicht fangen und weiß, dass auch du mich nicht fangen willst. Es ist erstaunlich, aber es klappt wirklich. Sie kennen den Effekt vielleicht von Ihrem Hund oder Ihrer Katze. Und der Rotschenkel bleibt sitzen, wenn ich die Treppe hinab gehe.

Was spielt sich da ab? Keine Frage, der Vogel denkt nicht wie ich. Zwar teilen wir bestimmte Formen der Wahrnehmung, aber schon da tun sich Unterschiede auf: Mein Sehvermögen ist viel geringer und mein Abstraktionsvermögen viel ausgeprägter als seines. Und weiß ich auch nur, ob er überhaupt in so etwas wie Begriffen denkt? Habe ich die geringste Ahnung davon, welches Bild er in seinem Köpfchen von mir hat und was er empfindet, wenn sein Gehirn es erzeugt? Ich weiß es nicht. Und hier wird es interessant. Denn streng genommen weiß ich das bei einem menschlichen Gegenüber ja auch nicht. Natürlich können wir darüber reden, wie wir Dinge oder uns gegenseitig wahrnehmen. Aber, um einen ganz einfachen erkenntnistheoretischen Kniff zu nutzen: Ob wir wirklich das Gleiche meinen, wenn wir von „Blau“ oder „Schmerz“ oder gar so komplizierten Begriffen wie „Liebe“ sprechen, können wir niemals wissen, sondern allenfalls hoffen. Und doch fühlen wir uns ja häufig verstanden, oder, im Falle des Rotschenkels und mir, zumindest wahrgenommen. Er ist ein kleiner Spiegel, der mir bestätigt: Du bist da.

Es gibt eine kleine Geschichte, die noch einen neuen Twist in die Angelegenheit bringt. Sie stammt von einem klugen Mann namens Zhuangzhi und ist ungefähr 2400 Jahre alt. Da ich meine Bücher gerade nicht dabei habe, versuche ich sie aus dem Gedächtnis aufzuschreiben:

„Zhuangzhi geht mit einem Freund über eine Brücke. Im sonnendurchfluteten Wasser tummeln sich die Fische. Er sagt: „Schau, wie fröhlich sie spielen, die Fische!“ Sein Freund entgegnet: „Woher willst du denn wissen, dass sie fröhlich sind? Du bist doch gar kein Fisch!“ Darauf Zhuangzhi: „Woher willst du denn wissen, dass ich es nicht weiß? Du bist doch gar nicht ich!“

Da kann man lange drüber nachdenken. Am Ende steht wohl der Gedanke, dass wir uns niemals wirklich sicher sein können, dass wir von anderen verstanden werden. Wir können aber ebenso wenig mit Sicherheit sagen, dass wir nicht verstanden werden. Und darin liegt die Hoffnung.

Was also mag der Rotschenkel über mich denken? Ich weiß es nicht. Ich blinzel ihm einfach zu. Der Rotschenkel blinzelt zurück.

 

Till Holsten

Vogelwart 2022