Invasion der Rotkehlchen II – Die Rückkehr

Sie kommen in der Nacht..

Sie sitzen vor deinem Fenster..

Sie beobachten dich, wenn du schläfst..

Du wirst nicht hören, wenn sie kommen..

Du wirst nicht merken, dass sie dich beobachten..

Sie sehen dich, bevor du sie siehst – und wenn du die Tür öffnest,…!

Ein Mann lebt einsam und zurückgezogen in einer Hütte fernab jeglicher Zivilisation. Es ist ein friedliches Leben. Doch das Unerwartete lauert bereits. Als er eines abends ins Bett geht, ahnt er nicht, dass mit der Nacht etwas über ihn kommen wird, dem er nichts entgegenzusetzen hat. Der Morgen graut. Es geht kein Wind. Die Welt wirkt wie ausgestorben. Doch da ist ein neues Geräusch. Auf dem Dach der Hütte kratzt etwas. Unter den Bodendielen huscht es hin und her. Schemenhafte Gestalten flirren an den Fenstern vorbei. Wendet er den Blick, sind sie verschwunden.. Vorsichtig steht er auf, späht, horcht. Er öffnet die Tür – und dann bricht es über ihn herein! Von allen Seiten schwirrt es, flattert um seinen Kopf, und ehe er sich versieht sind sie bereits in die Hütte eingefallen: Rotkehlchen! Schon sitzt eines im Bett. Ein anderes verrichtet sein Geschäft auf dem Lieblingsbuch. Zwei schwirren im Dachstuhl hin und her. Eines inspiziert die Küche. Etliche sitzen auf dem Geländer der Hütte, im Zwischendeck, im Lockgebüsch und feixen. Bis die Hütte wieder dem Einsiedler alleine gehört, ist ein schweißtreibender Kampf ausgefochten – und der arme Mann fast umgekommen, denn Rotkehlchen sind einfach wirklich zum Sterben niedlich.

Ich kann ich das nicht leugnen. Als das Rotkehlchen letztes Jahr in einer öffentlichen Wahl zum Vogel des Jahres gekürt wurde, hat das bei mir dennoch für etwas Verwunderung gesorgt. Seit 1971 steht dieser Titel einem Vogel zu, der, von einem Expertengremium gewählt, eine im Schwinden begriffene Art oder einen bedrohten Lebensraumes repräsentiert. Selbstverständlich ist auch das Rotkehlchen ein schützenswertes Tier! Überhaupt ist ja der Begriff „schützenswert“ problematisch, da immer aus menschlicher Perspektive gedacht. Aber in einer Reihe mit Wanderfalke und Turteltaube wirkt es doch ein wenig wie der Klassensprecher der 8c auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen – fand ich.

Meine Umfrage unter den Kolleginnen und Kollegen in der Klinik ergab folgendes Bild:

Hanna, grundsätzlich Rotkehlchen-Fan, fand, dass „sie schon genügend Fame haben“. Marcus setzte sich lieber für die Mehlschwalbe ein, „aufgrund ihrer unscheinbaren Schönheit, […] die auch auf Dauer Freude macht“, während Sophie den Wiedehopf bevorzugte. In der Kinderheilkunde also kein eindeutiges Votum für das Rotkehlchen. Und das trotz Kindchenschema!

Woher also die Beliebtheit? Vielleicht schlicht daher, dass Rotkehlchens zurückhaltende Schönheit so zugänglich ist? Ein orange leuchtender Federball auf weißer Schneedecke, der gläsern klare Gesang eines Rotkehlchens an einem sonnigen Wintertag, die Zutraulichkeit des kleinen Wesens beim Gartenumgraben – irgendetwas davon hat jeder schon erlebt. Kein Berg muss erklommen, keine Sturzseen ausgehalten werden, um diesen freundlichen Gast willkommen zu heißen. Dass so viele gleichzeitig auftauchen, ist übrigens dem Drängen des Zuggeschehens geschuldet. Normalerweise sind die so unschuldig dreinschauenden Racker winters wie sommers ziemlich territorial und vertreiben Artgenossen aus ihren Revieren (oder haben Sie schon einmal mehr als zwei Rotkehlchen am Vogelhaus beobachtet?).

Als ich eines der verflogenen Rotkehlchen hinausbrachte, bemerkte ich, dass sein Rücken gar nicht nur graubraun, sondern oliv überhaucht ist. Und das tiefschwarze Perlenauge – das hat eine warme, samtbraune Iris. Das Besondere liegt eben auch im Gewöhnlichen. Es geht wohl eher um die Fähigkeit, es dort sehen, als darum, an irgendeinem Ort etwas Seltenes aufspüren zu können.

Das Rotkehlchen ist also doch ein ziemlich guter Botschafter für die Anliegen der Vogelwelt. Und das bereits zum zweiten Mal, wie ich erstaunt feststelle. 1992 war es nämlich auch schon – durch Expertengremium gewählt – Vogel des Jahres.  Rotkehlchen – die Rückkehr!

(Den Vorgänger dieses todesniedlichen Blog-Schockers aus dem Jahr 2017 finden Sie übrigens hier https://blogs.nabu.de/trischen/invasion-der-rotkehlchen/).

Till Holsten

Vogelwart 2022