Der Hochzeitsfluch der Ameisen
Sind wirklich so viele Fans der Royals unter den Leserinnen und Lesern des Trischen-Blogs? Sie stutzen vielleicht, aber die website-Statistik verrät mir, dass der mit Abstand beliebteste Eintrag fast jeden Tag „Hochzeitsflug der Ameisen“ heißt. Das alljährliche Schwärmen der Königinnen und ihrer zahlreichen Gemahlen generiert jedenfalls jede Menge Klicks. Vielleicht liegt es daran, dass sich zwei Einträge unter gleichem Namen summieren – sowohl Tore als auch Anne haben schon sehr schön über das alljährliche Ereignis geschrieben -, vielleicht aber auch daran, dass es im Internet verhältnismäßig wenig Informationen über das Phänomen gibt. Wer immer im Hochsommer unter hunderten geflügelten Ameisen plötzlich auch ein großes Fragezeichen im Gesicht stehen hat, landet offensichtlich beim Trischen-Blog.
Sei’s drum, da auch meine bescheidene Residenz heute Schauplatz des royalen Großereignisses war, wollen wir der Königin die Ehre erweisen. Aber bevor ich zum literarischen Kratzfuß ansetze noch einmal in aller Kürze: Worum geht es hier nochmal?
Bei Ameisen schreiten nur die Männchen und eine exklusive Auswahl an Weibchen, eben die Königinnen, zur Paarung. Die Arbeiterinnern, also jene Ameisen, die einem in den allermeisten Fällen über den Weg krabbeln, haben zwar kein Recht auf Sex, aber dafür auf lebenslange Arbeit. Sie sind von der Hochzeit also ausgeladen. Königinnen und Männchen tragen als Zeichen ihres Adels Flügel, mit denen sie sich in die Luft schwingen um sich dort zu paaren. Das geschieht synchron bei windstillem, heißen Wetter und sorgt für genetischen Austausch zwischen weit voneinander entfernt liegenden Populationen. Während die befruchteten Königinnen anschließend neue Kolonien gründen können (mit befruchteten Eiern, die zu Männchen und Königinnen, und unbefruchteten, die zu Arbeiterinnen werden), haben die Herren der Ameisenschöpfung nach der Paarung ihr Recht auf Leben verwirkt und müssen sterben. Alles ist eitel.
Aber nun! Wie war die Massenhochzeit der Königinnen? Das Fest begann bereits am früh Morgen, und kaum strahlte das Dach der Hütte etwas Wärme zurück, war der Andrang riesig. Innerhalb zweier Stunden stand über dem First eine schwirrende Wolke aus Abertausenden tanzender Ameisen, die in einer für menschliche Augen vollkommen unkoordinierten Wirrsal versuchten, der Bestimmung allen Lebens nachzugehen. Man hat kaum den Gedanken „Ameise“; die einzelnen Tiere sind als solche kaum zu identifizieren. Es wirkt eher, als würde plötzlich durch eine magische Brille der wilde Tanz der Atome sichtbar werden. So viele Tiere! Jedes einzelne unendlich fragil, mit hauchzarten, gläsernen Flügelchen, haarfeinen Fühlern und vielgliedrigen Beinen, jedes für sich ein vollendetes Wesen, das in seiner Winzigkeit mit allem ausgestattet ist, was es braucht. Hunderttausende dieser kleinen Wunder ziehen wie Rauchschwaden über die Insel, stehen als zitternde Schattenpünktchen in heißer Luft, sausen sonnenbeleuchtet umher wie weiß glühende Lichtsplitter. Hunderttausende verbrauchen sich in einem einzigen großen Fest, steigen hoch auf, erschöpfen sich, fallen schließlich wie ein Regen schwindenden Lebens vom Himmel und sind schon morgen nichts mehr als die Erinnerung eines schreibenden Mannes auf einer einsamen Insel. Der kleine quietschgelbe Fitis, der sich heute die Veranda mit mir teilt, sieht das prosaischer: Er schlägt sich den Wanst voll, für ihn regnet es sozusagen Pommes.
Ich bin einmal mehr beeindruckt davon, wie viel Leben da draußen ist. Denn das, was ich heute gesehen habe ist ja nur ein Tag auf einer Insel irgendwo im Wattenmeer. Für wie viele Wesen hat sich hier heute ihr Leben vollendet? Die menschliche Sprache hat für diese Großereignisse der Natur immer schnell den Begriff der „Verschwendung“ parat. Und der Gedanke mag wirklich aufkommen, schließlich paart sich nur ein Bruchteil der Männchen. Aber genau das ist eben das Prinzip Ameise. Nur der unsagbar produktive Ausstoß möglichst vieler Individuen garantiert den Erhalt der Art. Das geht auch anders: Wale zum Beispiel verfolgen sichtlich ein ganz anderes Konzept und sind damit (wenn der Mensch sie nicht daran hindert) ebenso erfolgreich.
Darüber zu spekulieren, was Natur denn nun eigentlich „will“, also beispielsweise den Erhalt möglichst vieler Individuen oder einer größtmöglichen Anzahl von Arten, ist müßig. Natur ist kein denkendes Subjekt. Es ist unser menschlicher Blick, der diese Schablonen nutzt, um sich dem rätselhaften Phänomen „Leben“ zu nähern. Wir fragen eben gerne, welcher Zweck verfolgt wird, und welche Mittel dazu eingesetzt werden. Aber diese Art zu Denken stammt aus unserer eigenen kleinen Menschen-Lebenswelt. Sie ist nur relevant für uns Menschen. „Das Leben“ fragt sich nicht, warum es da ist – und wenn doch, dann eben nur durch einen seiner allerwinzigsten Bruchteile: Uns.
Zurück zum Fest. Da ich dies schreibe, rieseln noch immer sterbende Ameisen-Galane auf meine Tastatur. Bekanntermaßen bekommt ja auch nicht allen Menschen die Ehe (angeblich verlängert sie das Leben von Männern und verkürzt das von Frauen), für den Ameisenmann aber bedeutet sie den sicheren Tod. Die Liebe ist sein Fluch, sein Leben im Rausch eines Sommertages verblüht. Aber irgendwo draußen im Dunkeln krabbelt es doch noch: Es sind die Ameisenköniginnen, die das Treiben überstanden haben und in ihren kleinen Körpern das Leben ins nächste Jahr tragen werden.
Und deshalb schließe ich heute ausnahmsweise einmal anders, nämlich mit
God save the Queen!