Am Nabel meiner Welt

Ich habe Ihnen etwas vorenthalten. An einem windigen Märztag, bereits einen Tag nach meiner Ankunft, stand ich plötzlich vor einem Graugansnest. Drei Eier waren bereits gelegt. Die Tiere hatten einfach ohne mich angefangen.

Nach der Anreise hatte ich zunächst einmal meine Rucksäcke ausgepackt und mir sozusagen das eigene Nest bereitet. Schließlich ist jeder Gang in die Natur noch schöner, wenn eine behagliche Heimstatt wartet. Trotzdem wollte ich mir gerne zügig einen Überblick über mein neues Revier verschaffen. Einmal die Insel komplett gesehen haben, auch in der Fläche der ausgedehnten Salzwiesen, bevor die Brutsaison beginnt und ich jede Störung vermeiden möchte – das war mein Plan. Zu wissen, wie das Gelände strukturiert ist, welche Bodensenken gut einsehbar sind und wo sich hinter einer Prielkante oder etwas höherer Vegetation vielleicht eine Überraschung verbergen kann, ist Gold wert, wenn später im Jahr tausende Vögel schwärmen und man auf große Entfernung versucht festzustellen, wer denn da in welcher Anzahl was genau tut.

Ich hatte bereits ein gutes Stück der Insel durchwandert, als sich plötzlich zwei braungraue Hälse aus den trockenen Pflanzen reckten: Ein Grauganspaar. Ich konnte ihnen an der Schnabelspitze ansehen, dass da im Wortsinne etwas im Busch war; man kriegt so ein Gefühl dafür. Kaum eine Sekunde später flogen sie mit rauhkehligem Schrei auf. Und zwischen den strohfarbenen Halmen der vorjährigen Salzwiese schimmerten in einer flachen Mulde mattweiß drei wunderschöne Eier.

Ich war etwas überrascht. Nun ist Mitte März für Graugänse zwar gar nicht besonders zeitig, zumal das Gelege noch nicht vollständig war und vor dem Beginn des eigentlichen Brütens weitere Eier hinzukommen würden. Ich hatte in all meiner Ankunftsaufregung aber nicht mehr bedacht, dass mein Beginn auf dieser Insel nicht der Nabel ist, um den sich alles dreht und ich nicht die Person, auf die alles wartet. Man fällt leicht immer wieder darauf herein, insbesondere, wenn man die einzige Hütte auf einem ansonsten menschenleeren Eiland bewohnt (vielleicht aber sogar noch eher als Einwohner einer großen Stadt, die gar keine nicht-menschlichen Bezugspunkte mehr bietet). Aber die Prozesse hier laufen auch ohne mich ab. Die Vögel werden balzen und ihre Eier legen, die Seeschwalben zurückkehren. Die Salzwiese wird blühen, der Herbst den Queller rot färben. Die Nordsee wird die Insel weiter formen. Und selbstverständlich hat auch keine Graugans auf den Vogelwart gewartet, bis sie geruhte ihr Nest zu bauen.

Selbstverständlich hieß es nun schnell den Rückzug antreten. Genau das hatte ich ja vermeiden wollen; und Störungen an Nestern gilt es, wenn sie denn überhaupt nötig sind – und diese Notwendigkeit dürfen allenfalls gelegentlich einmal Feldbiologen und Wissenschaftler für sich in Anspruch nehmen – so kurz wie möglich zu halten. Das Gelege darf nicht auskühlen, und viele hungrige Schnäbel warten nur auf einen bloß liegenden Leckerbissen. Aber ich war seltsam berührt. Ein Nest finden ist ein bisschen, als hätte man versehentlich ein schönes Geheimnis erfahren.

Ich habe dann aus der Entfernung noch beobachten können, wie die beiden Grauganseltern wieder zurückgekehrt sind. Mit etwas Glück gibt es dann in ein paar Tagen die ersten gebürtigen „Trischener“ zu bestaunen. Ich bin gespannt, mit wem ich die Insel bald teilen darf. Denn der Nabel der Welt, das ist, für die Graugänse genau wie für mich, nun eben für einen Sommer lang – Trischen!

 

Till Holsten

Vogelwart 2022