September 2025 Beiträge

Die Wattkartierung: Was lebt in Schlick und Sand?

Die Wattkartierung: Was lebt in Schlick und Sand?

An den meisten Tagen ist mein Blick von der Insel aus auf das weite Watt gerichtet. Ich beobachte die Vögel, die bei Ebbe zur Nahrungssuche auf die Wattflächen fliegen, oder schaue zu, wie die Flut diese langsam zurückerobert. Doch nachdem die meisten Aufgaben auf der Insel erledigt sind, war ich für die jährliche Wattkartierung selbst in dieser unendlich scheinenden Landschaft unterwegs.

Die Wattkartierung wird seit über 30 Jahren durchgeführt, hierbei werden an festgelegten Probepunkten biotische und abiotische Daten herhoben um den Zustand des gesamten Ökosystems Wattenmeer zu dokumentieren. Die Probetransekte, bestehend aus 10-15 Probepunkten, liegen im ganzen Wattenmeer verteilt. Zwei Transekte davon befinden sich in der Nähe von Trischen.

Die Vorbereitung auf die Wattkartierung fühlt sich jedes Mal an, als wenn ich zu einer kleinen Expedition aufbreche. Statt Fernglas und Notizbuch packe ich Spaten, ein spezielles Sieb und eine große Stechröhre ein. Dazu kommen ein GPS-Gerät zur Navigation und ein Maßband, um die 1 m2 großen Probeflächen abzustecken, die untersucht werden sollen. All dieses Material über das Watt zu schleppen, ist eine echte Herausforderung und schränkt die Bewegungsfreiheit ordentlich ein. Ich befestige was möglich ist am Rucksack, in die linke Hand nehme ich den Spaten, unter den rechten Arm klemme ich die Stechröhre und los geht´s!

 

Die Weite des Wattenmeers

 

Besonders tückisch ist der Untergrund selbst, denn das Watt ist nicht einfach nur Schlamm: Es gibt festes Sandwatt, das hauptsächlch aus groben Sandkörnern betseht und kaum unter den Füßen nachgibt und weiches Schlickwatt, in das man bei jedem Schritt einsinkt und die Fortbewegung sehr langsam und beschwehrlich macht. Man weiß vorher nie genau, was einen erwartet. Erst der nächste Schritt verrät, ob der Boden trägt oder nachgibt. Ein ständiges Tasten und Abwägen bis ich an meinem Zielpunkt angelangt bin.

Es ist ungewohnt, die Insel nach so vielen Monaten von dieser Entfernung zu sehen, denn die Probepunkte, zu denen ich mit Hilfe des GPS-Geräts gelange, liegen bis zu 2 km von Trischen entfernt.

 

Die Vogelwärter:innen-Hütte ist nur noch ein kleiner Punkt am Horizont

 

Das GPS-Gerät zeigt an: 0 m bis zum Probepunkt, ich bin angekommen. Jetzt beginnt die eigentliche Arbeit. Ich stecke den Quadratmeter mit dem Maßband ab und inspiziere zunächst die Oberfläche: Welcher Watttyp liegt vor? Ist der Probepunkt von Wasser bedeckt und wie drick ist die Oxidationsschicht? Entdecke ich Strandschnecken auf der Oberfläche? Sehe ich die sternförmigen Spuren der Pfeffermuschel oder den charakteristischen Haufen eines Wattwurms? Alles notiere ich mit schlickigen Händen aber sorgfältig auf dem Datenblatt. Danach kommt die massive Stechröhre zum Einsatz. Mit vollem Körpergewicht drücke ich sie 30 Zentimeter tief in den Boden, um eine exakte Probe zu entnehmen. Der spannendste Teil folgt aber erst danach: Direkt neben der Probestelle grabe ich mit dem Spaten ein tiefes Loch, bis es sich mit Sickerwasser füllt. In diesem Wasser wasche ich nun den Inhalt der Probe durch das Sieb.

 

Das abgesteckte Probequadrat mit Stechröhre und Arbeitsutensilien

 

Langsam, Schicht für Schicht, spült das Wasser den Schlick davon und legt frei, was sonst im Verborgenen lebt. Plötzlich zeigen sich Herzmuscheln in unterschiedlichsten Größen im Sieb, winzige Schneckenhäuser der Wattschnecke tauchen auf und Würmer ringeln sich im restlichen Sediment. Es ist eine faszinierende Welt im Miniaturformat. Jeder Fund wird sorgfältig gezählt und notiert. Nichts wird mitgenommen, alles bleibt vor Ort. Am Ende des Tages übertrage ich die erhobenen Daten von dem, von Schlick und Salzwasser ganz wellig gewordenen Datenblatt, in eine Exceltabelle. Nachdem ich alle Punkte beprobt habe sende ich die Daten an die Schutzstation Wattenmeer, wo sie gesammelt werden um den Zustand des Wattenmeers zu dokumentieren und Veränderungen erkennen zu können.

 

 

Es ist eine anstrengende und schweißtreibende Arbeit. Aber wenn ich danach mit schlickverschmierter Kleidung und schmerzenden Armen zurück auf die Insel komme und den Blick wieder über das, nun von der Flut bedeckte Watt schweifen lasse, sehe ich es mit anderen Augen. Ich weiß jetzt ein bisschen besser, welche Geheimnisse unter der dem Meereswasser verborgen sind und wie viel Leben in diesem scheinbaren Nichts pulsiert.

 

Eure Naturschutzwartin 2025
Mareike Espenschied

 

Vom Staunen zum Handeln: Zwei seltene Entdeckungen und die Artenvielfalt

Vom Staunen zum Handeln: Zwei seltene Entdeckungen und die Artenvielfalt

Oft widme ich meine Blogeinträge ja den gefiederten Freunden um mich herum. Doch diesmal möchte ich von zwei Entdeckungen erzählen, die auch fliegen – aber ohne Federn und was sie mit der Shifting Baseline zu tun haben.

Seltene Bewohnerin der Salzwiesen

Die Strandaster (Aster tripolium) ist eine charakteristische Art der Salzwiesen, die diese im Spätsommer und Frühherbst mit ihren zartlila Blüten schmückt. Ende August suchte ich dichte Bestände der Strandaster gezielt ab, um eine ganz besondere Bewohnerin der Salzwiesen zu finden: Die Strandaster-Seidenbiene (Colletes halophilus). Und schon nach wenigen Minuten hatte ich Glück: Zwei Weibchen dieser seltenen Wildbienenart sammelte emsig Pollen an den vielen Blüten. Was für ein Glück!

Blühende Strandastern (Aster tripolium) auf Trischen

 

Strandaster-Seidenbiene (Colletes halophilus) beim Pollen sammeln

Die Standaster-Seidenbiene wurde 2019 das erste Mal sicher auf Trischen nachgewiesen und 2015 erstmals in Schleswig-Holstein. Eine Bekannte, die sich seit Jahren mit Wildbienen in Schleswig-Holstein beschäftig, erzählte mir noch einige spannende Fakten: In Deutschland ist die Art extrem selten. Das liegt vor allem an ihrem speziellen Lebensraum: Die Strandaster-Seidenbiene gräbt ihre Brutröhren in den Sand, dort legt sie ihre Eier mit einem Vorrat an Pollen der Strandaster als Nahrung für die Larven ab. Da die Gefahr von Überflutungen groß ist, hat die Seidenbiene vorgesorgt: Sie produziert einen polyesterartigen Kokon für ihren Nachwuchs. Wenn das Meer die Brutröhren überspült, sind die Eier bzw. Larven in ihrem Luftsack sicher und ertrinken nicht. Eine geniale Erfindung, finde ich!

Heimliche Hüttengäste

Ein paar andere fliegende Gäste habe ich nicht gezielt aufgesucht. Diese haben sich ein besonders lauschiges Plätzchen, zwischen der Hüttenwand und meinem Duschsack, ausgesucht. Als ich ihn abhängte, um ihn mit Wasser zu befüllen staunte ich nicht schlecht als ich in die Augen von fünf kleinen Fledermäusen schaute. Die Fünf waren mindestens genauso überrascht wie ich, suchten sich aber nach einem kurzen Schock eine andere Bleibe um den Tag zu überdauern. Wie sich abends herausstellte allerdings nicht unbedingt eine geeignete: Als es dunkel wurde flatterte nämlich plötzlich einer der Kollegen in meiner Hütte umher. Wieder einmal waren beide Seiten etwas überrascht und überfordert, doch nach ein wenig Zeit und Überwindung (die Handhabung von Vögeln bin ich durch viele Jahre Vogelberingung gewohnt, aber eine Fledermaus hatte ich noch nie in der Hand) schaffte ich es den armen Irrgast in einem Karton nach draußen zu bringen. Beim Umgang mit Fledermäusen gilt: Immer Handschuhe anziehen! (Hier gibt es mehr Informationen zum Umgang mit verirrten Fledermäusen.)

Meine Recherche ergab, dass es sich vermutlich um Rauhautfledermäuse (Pipistrellus nathusii) handelte. Sie wurden von einigen Vorgänger*innen schon im Frühjahr und Herbst durch Feldermausdetektoren auf Trischen nachgewiesen. Da Fledermäuse viel heimlicher, als die meisten Vogelarten leben, ist es recht unbekannt, dass auch Fledermäuse weite Strecken zwischen Brut- und Winterquartieren zurücklegen – Rauhautfledermäuse sogar bis zu 1.500 km! Sie waren bei mir etwa eine Woche zu Gast, bis ich sie nicht mehr abends um die Hütte jagen sah. Bei der Ansammlung könnte es sich sogar um ein sogenanntes Balzquartier gehandelt haben, denn Rauhautfledermäuse paaren sich in Balzquartieren während des Zuges (Quelle: Bundesamt für Naturschutz).

Potenzielle Rauhautfledermäuse (Pipistrellus nathusii) an der Hütte

 

Artenvielfalt im Rückgang – das Phänomen der Shifting Baseline

Und wieder einmal zeigt es mir wie vielfältig die Natur ist und wie viel es zu entdecken gibt. Neben der Strandaster-Seidenbiene gibt es noch viele andere Wildbienenarten in Deutschland, die teilweise sehr selten geworden sind. Bei den heimischen Fledermäusen sieht es nicht besser aus: Alle in Deutschland vorkommenden Fledermausarten sind stark zurück gegangen und stehen ausnahmslos auf der Roten Liste (Quelle: Landesfachausschuss Fledermausschutz NRW).

Doch das sind nur zwei Beispiele für das was wir Artensterben nennen. Und wir sind mittendrin. Neben dem menschengemachten Klimawandel ist vielen Menschen nicht bewusst, dass dieser Hand in Hand mit dem 6. Artensterben geht – ebenfalls menschengemacht. Dass die Artenvielfalt abnimmt merken wir oft nicht, da solche Prozesse schleichend gehen und sich oft über mehrere Generationen ziehen: Waren für unsere Großeltern Rebhuhn, Kiebitz und Wachtel noch Allerweltsvögel, kennen sie viele junge Menschen gar nicht mehr und dass kaum noch Insekten auf der Autoscheibe kleben ist heute normal, vor 50 Jahren war das anders. Dieser Effekt wird Shifting Baseline genannt. Die Basislinie, also das was wir als „normal“ empfinden, verschiebt sich bei der Artenvielfalt langsam und schleichend nach unten…

„Man kann nur Schützen was man kennt“

Doch wir müssen diesem Prozess nicht hilflos zusehen! Ich bin mir sicher, dass das viele von Euch wissen und schon so handeln, aber ich möchte diesen oft gelesenen und so wahren Satz hier noch einmal zitieren: „Man kann nur schützen was man kennt.“

Deshalb: Lernt die Tieren und Pflanzen in eurer Umgebung kennen, macht Ausflüge in die Natur(schutzgebiete), nehmt an Führungen teil, gebt das Wissen und eure Begeisterung an eure Mitmenschen, eure Kinder, weiter. Der NABU hat eine Plattform entwickelt, auf der man sein Artenwissen kostenlos erweitern kann: Die NABU-Naturgucker-Akademie. Naturschutzzentren bieten Veranstaltungen für Groß und Klein. So können wir dem Gewöhnungseffekt etwas entgegen setzen. Wir profitieren alle davon und es macht sogar Spaß!

 

Dieser Blogartikel ist länger geworden als sonst, aber mir liegt das Thema sehr am Herzen und ich danke Euch, dass ihr in bis zum Ende gelesen habt! 😊

 

Eure Naturschutzwartin 2025
Mareike

 

Hier sind noch einige nützliche links:

Wildbienen helfen im Garten, auf dem Balkon und der Fensterbank: https://www.wildbiene.org/allgemein

Fledermausfreundliches Haus: https://schleswig-holstein.nabu.de/tiere-und-pflanzen/saeugetiere/fledermaeuse/fledermausschutz/ffh/19035.html

Naturnahe Gartengestaltung: https://www.nabu.de/umwelt-und-ressourcen/oekologisch-leben/balkon-und-garten/grundlagen/index.html

Zum Weiterlesen:

https://www.klimawiese.de/artensterben-in-deutschland-das-kannst-du-tun-um-artensterben-zu-verhindern/

https://www.wissenmachtklima.de/shifting-baseline-umweltforschung/

 

Das Geheimnis vom Ring am Vogelfuß

Das Geheimnis vom Ring am Vogelfuß

Die Südspitze von Trischen ist bei auflaufendem Wasser einer meiner Lieblingsorte. Wenn die Flut das Watt langsam verschluckt, rücken die riesigen Schwärme von Watvögeln immer näher an die Insel. Dann ist meine Zeit gekommen: Zusammengekauert und gut versteckt sitze ich zwischen Strandhafer und Meersenf, das Spektiv auf die Vögel gerichtet, und warte. Das Wasser steigt, die Vögel rücken näher und scheinen mich in ihrem Drang, den besten Ruheplatz zu ergattern, kaum noch zu bemerken. Genau auf diese Momente hoffe ich, denn sie bieten die beste Gelegenheit für eine ganz besondere Art der Beobachtung: Das Ablesen von Vogelringen.

Gut versteckt und gleichzeitig mit gutem Blick auf die sich nähernden Vogelchwärme

 

Wie ich in einem früheren Beitrag schon einmal erzählt habe (link) werden viele Vögel mit Farbringen versehen, die wie ein individueller Personalausweis funktionieren. Einen solchen Vogel in einem Schwarm von Tausenden zu finden, ist der erste Schritt. Mit dem Spektiv scanne ich Bein für Bein, immer auf der Suche nach einem Farbtupfer. An manchen Tagen hat man Pech, doch vor ein paar Wochen war das Glück auf meiner Seite. Es schien, als hätte sich eine ganze Reisegruppe beringter Knutts an der Südspitze Trischens versammelt.

Rastende Knutts mit Alpen- udn Sichelstrandläufern

Rastende Knutts mit Alpen- und Sichelstrandläufern

 

Plötzlich blitzt etwas Buntes im Spektiv auf. Ein Knutt mit einer Kombination aus farbigen Ringen an den Beinen. Jetzt beginnt der spannende Teil: Ich muss die Farbkombination ablesen, bevor der Vogel im dichten Schwarm wieder untertaucht oder sich so dreht, dass die Ringe nicht mehr zu sehen sind. Das Herz klopft, ich konzentriere mich, notiere die Farbreihenfolge. Geschafft!

Die Eingabe draußen erfolgt über die BirdRing- App. Später in der Hütte beginnt der zweite Teil der Recherche: Die App ist mit der Website cr-birding.org verknüpft, sodass ich schnell die passenden Beringungsprojekte finde und dem Projektkoordinator meinen Funde zusenden kann. Dieser freut sich natürlich, dass ein von ihm beringter Vogel abgelesen wurde. Im Gegenzug erhalte ich die gesamte Lebensgeschichte in Form des Beringungsdatums und aller Ablesungen mit Ort und Datum.

Farbberingter Knutt

 

Die Antwort, die ich bekomme lässt mich staunen: Dieser Knutt wurde im Jahr 2003 in Kanada beringt. Zu diesem Zeitpunkt war er, basierend auf seinen Gefiedermerkmalen, bereits mindestens zwei Jahre alt. Eine kurze Rechnung macht klar: Dieser kleine Vogel ist heute, im Jahr 2025, mindestens 24 Jahre alt. Man muss sich das einmal vorstellen: Knutts fliegen von ihren Brut- in ihre Überwinterungsgebiete bis zu 15.000 km, dabei können sie 8.000 km non-stop durchfliegen! Es gibt verschiedene Unterarten: Zwei davon nutzen die ostatlantische Zugroute, auf der das Wattenmeer als wichtiger Zwischenstopp liegt: C.c. canutus brütet im südwesten Russlands, die Überwinterungsgebiete liegen in Süd- und Westafrika, die Brutgebiete von C. c. islandica liegen in Kanada, Grönland und Spitzbergen, den Winter verbringen sie in Westeuropa und dem Mittelmeerraum (Trepte, A., 2024). Unser Knutt gehört der Unterart islandica an, in seinem langen Leben hat er unzählige Gefahren überstanden, Stürme über dem Atlantik überlebt und immer wieder seinen Weg gefunden. Dass ein so kleiner Körper eine solche Leistung über Jahrzehnte vollbringen kann, ist absolut faszinierend. Durch diese eine Ablesung erfahren wir nicht nur, welche Zugrouten er nutzt, sondern auch, welch biblisches Alter diese Weltenbummler erreichen können.

Natürlich hat sich die Technik weiterentwickelt. Heutzutage gibt es winzige, federleichte Sender, die Vögeln aufgesetzt werden können. Sie liefern noch viel detailliertere Daten und zeichnen automatisch auf, wo und wie lange sich ein Vogel aufhält. Doch die klassische Farbberingung ist nach wie vor unersetzlich. Sie ist günstiger, der Aufwand ist geringer und sie ermöglicht es, eine Vielzahl von Vögeln zu markieren.

Und sie hat ihren eigenen Reiz: Dieses geduldige Suchen, die Spannung, ob man einen farbberingten Vogel im Schwarm entdeckt und ob man den Code entziffern kann und die pure Freude, wenn es klappt. Wenn ich da in den Dünen kauer, der Rücken schmerzt und die Beine eingeschlafen sind, vergesse ich alles um mich herum. In diesem Moment zählt nur der Vogel und die Hoffnung, einen kleinen Teil seiner Geschichte zu enthüllen. Und ich weiß: Irgendwo auf der Welt freut sich gerade ein*e Forscher*in riesig über meine Nachricht, denn er oder sie hat nach langer Zeit wieder etwas von „seinem“/“ihrem“ Vogel gehört. Dieser Austausch und das Gefühl etwas zur Forschung beitragen zu können ist einfach schön.

 

Eure Naturschutzwartin 2025
Mareike Espenschied