Ein letztes Geschenk vom Meer
Ich sitze auf gepackten Koffern. Die meisten Klamotten werde ich erst am Festland wieder tragen, nur eine letzte Garnitur ist noch parat für die Insel. Vieles hängt lediglich noch an ein paar Fäden, mancher Knopf ist auf Nimmerwiedersehen verschwunden und meine Brille sieht aus wie mit dem Sandstrahler bearbeitet. Meine Lieblingsmütze hat das Meer sogar mit sich genommen, sie ist mir irgendwann bei Windstärke 8 vom Kopf geflogen, ohne dass ich es gemerkt habe, und wohl mit dem Landunter davongeschwommen. Auch fast alle Bücher sind bereits verstaut. Ich schleppe jedes Mal viel mehr davon mit mir herum als ich müsste; sie geben mir das Gefühl von Geborgenheit. Wo Bücher sind, ist die Welt für mich ein kleines Stück in Ordnung. Eine Mauer aus Gedanken kluger Menschen gegen die Unbilden des Lebens. Und auch all die kleinen Gegenstände, die das Leben hier annehmlich machten, haben einen Platz gefunden, irgendwo zwischen „European Seabirds“, „Die Grabwespen Deutschlands“ und Georg Forsters „Reise um die Welt“.
Aber es ist nicht nur Dingliches, das ich verstauen muss. Manches Gefühl, mancher liebgewonnene Gedanke hat nun seinen letzten Auftritt. Ich wandere, in Gedanken versunken, noch einmal den Nordstrand entlang. Neben mir huschen Alpenstrandläufer und Sanderlinge, die – wie ich – auch bald die Insel verlassen werden. Ich werde es nur nach Hamburg schaffen, einige der kleinen Gefährten aber werden es bis Guinea oder Mauretanien bringen. Gemeinsam drücken wir noch einmal unsere Spuren in den Sand.
Einer der Alpenstrandläufer sieht ein wenig, hm, heruntergekommen aus, denke ich. Ein bisschen düsterer, ein bisschen plusteriger, dicker. Und er hat eine noch viel geringere Fluchtdistanz als die anderen Vögel neben mir. Das ist normalerweise nur so, wenn die Vögel geschwächt sind, und ich bekomme ein bisschen Mitleid. Ob er es nach Afrika schafft? Ich sehe den Vogel im Weitergehen nur aus dem Augenwinkel, die Gedanken spielen sich eher halbbewusst ab – bis er einschwenkt und direkt vor mir herläuft – und ich seine Beine sehe. Sie sind orange. Das ist kein „Alpi“ und auch kein Sanderling. Der will auch nicht nach Afrika. Das ist ein Meerstrandläufer!
Ich weiß ja, dass die Namen manchmal etwas beliebig klingen, deshalb muss ich Ihnen einmal erklären, was es mit diesem Vogel auf sich hat: Meerstrandläufer kommen aus dem hohen Norden: Grönland, Spitzbergen, Nordnorwegen, Island. Sie lieben Felsküsten, das Kalte, Wilde, und treten allenfalls auf Helgoland regelmäßig, manchmal auch auf Sylt oder Amrum, sehr selten an anderen Stellen der deutschen Küste auf. Weiter gen Süd zieht dieser kleine, rauhe Geselle nicht. Mich erinnert er an einen alten Fischer: Etwas untersetzt, unter der dicken Weste ein klein bisschen pummelig, immer ein wenig ölverschmiert und mit einem seegrauen Schatten, das ihm nie ganz von der Seite weicht, völlig egal, wo er gerade ist. Vielleicht hat er trotzdem stets einen knappen, guten Spruch auf den salzigen Lippen. Und dazu trägt er orange Gummistiefel!
Zuletzt hat Peter Todt 1999 hier einen Meerstrandläufer beobachtet. Da war ich zwölf. In der Freude über die für Trischen seltene Beobachtung vergesse ich völlig, dass ich die große Kamera im Rucksack habe. Meine zittriges Handybild zeugt davon, dass ich mich wirklich wahnsinnig über diesen Vogel gefreut habe.
Manche Dinge kann man ja mit Worten wunderbar veranschaulichen. „Lesen ist gelenktes Schaffen“ wird Sartre zitiert. Sie hätten also auch ein Bild im Kopf, wenn mein Handy es nicht getan hätte. Ich möchte Ihnen heute aber trotzdem noch ein schöneres Bild zeigen. Es ist in Norwegen entstanden. Gemacht hat es mein Freund Jan. Ein gutes Foto gibt einer weiteren Dimension der Vorstellung und Teilhabe an einem Erlebnis Raum. Und durch dieses Bild bekommt man nicht nur einen Eindruck von der Fluffigkeit des Gefieders, von den zarten Farbverläufen im festen Keratin, sondern auch vom Charakter der Bewegung, die diesen Vogel ausmacht. Können Sie sich nun vorstellen, wie ein Meerstrandläufer ist?
Bild und Wort können also eine wunderschöne Liaison eingehen. Und weil mir das Erzählen und Jan das Fotografieren Freude macht, haben wir beschlossen, dass es damit weitergehen soll. Wenn also alle Gedanken, Gefühle und Bücher gepackt sind, wenn die Sanderlinge in Mauretanien sind und der Meerstrandläufer seinen emsigen Geschäften im Felswatt nachgeht, dann wird es an anderer Stelle weitergehen mit dem Erzählen von Natur. Von ihrer Fragilität und ihrer Macht auf uns, und von Gedanken, die sich mal fester, mal loser an das Naturerlebnis knüpfen. Das Fotografieren überlasse ich dann aber Jan. Vielleicht haben Sie ja Lust, weiter mit auf die Reise zu gehen. Ich verrate Ihnen später, wo Sie einsteigen können.
Für mich heißt es jetzt Abschied nehmen. Übermorgen geht es los. Ein letztes Mal also: Alles Gute von der Insel. Die Dünen, die Wellen, die Vögel sagen auf Wiedersehen. Von mir hören Sie noch einmal, wenn ich wieder am Festland bin.
Bis dahin wünsche ich Ihnen, trotz allem Chaos in der Welt, großartige Naturerlebnisse und einen schönen Herbst!
Ihr
Till Holsten
Bild oben: Der Meerstrandläufer am Nordstrand.
Bild unten: Ein Meerstrandläufer in Norwegen.