NABU-GAP-Ticker: Neuer EU-Naturzustandsbericht zeigt: Biodiversitätskrise schlimmer denn je, auch in Deutschland

Kehrtwende in der EU-Agrarpolitik unumgänglich

23.10.2020:  Am 19.10.2020 hat die Europäische-Umwelt-Agentur ihren Bericht zur „Lage der Natur“ veröffentlicht. Dieser bestätigt: Die EU hat ihre eigenen Ziele zur Wiederherstellung der Biologischen Vielfalt bis 2020 weit verfehlt. Das Artensterben innerhalb der Europäischen Union ist weiterhin in vollem Gange. Rund ein Drittel der natürlichen Lebensräume und der untersuchten Tier- und Pflanzenarten befinden sich weiterhin in einem schlechten Zustand. Laut der EU-Umweltagentur ist die Landnutzung ein wesentlicher Treiber des dramatischen Verlustes der Biodiversität in Europa.

Ursachen laut EU-Kommission

Die Datenlage in dem neu veröffentlichten Bericht ist klar: eine Kehrtwende in der Agrarpolitik ist dringend nötig, um die Natur in Europa für künftige Generationen zu erhalten. Der EU-Bericht identifiziert die intensive Landwirtschaft als klare Hauptverursacherin des Verlustes der biologischen Vielfalt. Denn diese ist auf Ertragsmaximierung ausgerichtet, weshalb es häufig an Hecken, Feldrainen und Brachen fehlt, der Landschaftswasserhaushalt ist vielerorts stark verändert und Pestizide und erhöhte Düngung rauben vielen Artengruppen Nahrung und Lebensraum.

Das artenreiche Grünland ist laut dem Bericht besonders gefährdet: Düngung, intensive Beweidung, sowie der Verlust von Wiesen- und Weideflächen sind hier die drängendsten Probleme: mit den Insektenpopulationen geht auch die Bestäubungsleistung stark zurück, eine Ökosystemdienstleistung, von der große Teile der Landwirtschaft abhängen.

Zustand der Natur in Deutschland:

Wie der 2019 veröffentlichte Bericht zur Lage der Natur in Deutschland zeigt, (der in den aktuellen EU-Bericht eingeflossen ist) ist es auch hierzulande nicht gut bestellt um die biologische Vielfalt. In einigen Punkten schneidet Deutschland sogar schlechter ab als der EU-Durchschnitt:

  • Besonders schlecht steht es um Lebensräume, insbesondere Grünlandhabitate, die für bestäubende Insekten wichtig sind. In Deutschland sind fast 70 Prozent der von der EU geschützten Lebensraumtypen in einem ungünstigen Zustand (37 Prozent schlecht, 32 Prozent unzureichend).
  • Deutschland befindet sich unter den Schlusslichtern in der EU, was den Zustand von geschützten Arten unter der FFH-Richtlinie (Pflanzen und Tiere außer Vögel) angeht: Nur sieben EU-Staaten haben mehr als 30 Prozent von ihnen in einem schlechten Erhaltungszustand. Der Wert ist in Deutschland verglichen mit dem letzten Bericht von 29 Prozent auf 33 Prozent sogar gestiegen. Hinzu kommen weitere 30 Prozent in einem unzureichenden Erhaltungszustand, nur 25 Prozent weisen den EU-rechtlich vorgesehenen günstigen Zustand auf.
  • Insgesamt 25 von 37 Säugetierarten, die laut FFH-Richtlinie besonders schützenswert sind, befinden sich in einem schlechten oder unzureichenden Erhaltungszustand. Nur acht Arten können derzeit ihren günstigen Zustand halten, dazu gehören unter anderem der Baummarder, die Wasserfledermaus und der Biber (nur in der kontinentalen Region).
  • Bei den Vogelarten haben die Bestandsrückgänge in Deutschland in den letzten zwölf Jahren erheblich beschleunigt. In Deutschland nehmen die Bestände von rund einem Drittel aller Vogelarten ab, bei einem Drittel nehmen die Bestände etwas zu und bei einem weiteren Drittel sind die Bestände relativ stabil. Zu den Verlierer*innen gehören vor allem die Vögel der Agrarlandschaft, wie Rebhuhn und Kiebitz, die seit 1980 rund 90 Prozent ihrer Bestände eingebüßt haben.

Hintergrund: die noch laufende EU-Biodiversitätsstrategie bis 2020

Auf der globalen UN-Biodiversitätskonferenz von Nagoya hatten sich die EU-Staaten 2010 dazu verpflichtet, den Schwund von Tieren, Pflanzen und ihren Lebensräumen in Europa bis 2020 aufzuhalten. In einer eigenen Strategie zum Erhalt der Biologischen Vielfalt legte die EU ein Jahr später konkrete Ziele zur Wiederherstellung der Artenvielfalt fest: Der Anteil der Lebensräume, die als gut oder sich verbessernd bewertet werden, sollte sich verdoppeln, bei den Arten wurde eine Steigerung um 50 Prozent festgelegt. Trotz vieler erfolgreicher Naturschutzprojekte auf lokaler Ebene fehlten am Ende des letzten Jahrzehnts noch bis zu einem Fünftel der angestrebten Verbesserungen.

Die EU-Biodiversitätsziele für 2020 sahen im Einzelnen vor, dass…

  • …für ein Drittel aller EU-Lebensraumtypen ein günstiger oder zumindest ein sich verbessernder Zustand erreicht würde. Erreicht wurde dieses Ziel nur für 22 Prozent. Gleichzeitig haben sich 32 Prozent der Lebensraumtypen in den letzten sechs Jahren weiter verschlechtert. Nur 15 Prozent aller Lebensraumtypen befinden sich in dem gemäß FFH-Richtlinie anzustrebenden „günstigen Erhaltungszustand“. Grünlandhabitate weisen besonders schlechte Bewertungen auf. Die Hälfte von ihnen befindet sich in einem schlechten Erhaltungszustand und von den für Bestäuber wichtigen Grünlandtypen befinden sich überproportional viele in einem besonders schlechten Zustand.
  • …für 80 Prozent aller wildlebenden Vogelarten ein (vom Aussterben) sicherer Zustand, oder zumindest eine deutliche Verbesserung erreicht wird. Realisiert wurde das nur für 60 Prozent der Arten. Insgesamt nehmen aber weiterhin die Bestände von mehr Vogelarten ab als zu. Der Anteil der Arten in einem sicheren Zustand sank in den letzten sechs Jahren von 52 Prozent auf 47 Prozent. Dramatisch ist die Situation für die Vogelarten der Agrarlandschaft: Ihr 25-Jahrestrend (Agrarvogelindex) zeigt einen Rückgang von 32 Prozent, ohne jedes Anzeichen von Erholung.
  • …für 35 Prozent aller anderen von der EU geschützten Tier- und Pflanzenarten ein günstiger oder sich verbessernder Zustand erreicht wird. Dieses Ziel ist nur um zwei Prozent verfehlt worden, was aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass sich gleichzeitig bei 31 Prozent aller untersuchten Arten der Zustand verschlechterte. Nur ein gutes Viertel (27 Prozent) aller Arten befindet sich im angestrebten „günstigen Erhaltungszustand“, dagegen 21 Prozent in einem schlechten und 42 Prozent in einem unzureichenden Erhaltungszustand.

NABU-Forderungen

Der NABU appelliert(e) angesichts der dramatischen Lage bis zuletzt an die zuständigen Abgeordneten im EU-Parlament, die über die EU-Agrarpolitik der nächsten Jahre entscheiden: Sie können mit ihren Stimmen den Biodiversitätsverlust in der Agrarlandschaft aufhalten. Alle Abgeordneten des Europäischen Parlaments haben bei der Abstimmung zur künftigen EU-Agrarpolitik die große Chance, für eine ökologische Wende im Fördersystem zu stimmen. Denn in diesen Tagen fällt die Entscheidung, ob die Agrarpolitik bis 2027 und die Naturzerstörung und die ökonomische Misere der Agrarbetriebe in der EU weiter verstärken oder eine Kehrtwende einleiten. Dabei geht es um die Verteilung von 55 Milliarden Euro an Steuergeldern.

Aktuell werden Betriebe wirtschaftlich benachteiligt, die im Einklang mit Natur und Klima wirtschaften. Der NABU fordert, übereinstimmend mit dem neuen EU-Bericht, einen zehnprozentigen Anteil von nicht-produktiven Flächen und Landschaftselementen in der Agrarlandschaft.

Die Agrarminister jedoch wollen bislang lediglich fünf Prozent Biodiversitätsflächen zustimmen. Diese sollen zudem weiter bewirtschaftet werden können, was zu einem weiteren Rückgang an bestäubenden Insekten und Agrarvögeln führen kann. Am heutigen Freitag stimmt das EU-Parlament final über die EU-Agrarpolitik ab und es drohen weitere Verschlechterungen für Biodiversität und Klima.

Unter dem Motto #VoteDownThisCAPdown rufen Greta Thunberg, Luisa Neubauer, der NABU und viele weitere zur Ablehnung der Beschlüsse auf, um einen Neuanfang in der Agrarpolitik herbeizuführen. Nach Ansicht des NABU muss auch die EU-Kommission darauf bestehen, auch in der Agrarpolitik den Europäischen Green Deal umzusetzen und zur Not den Vorschlag der Juncker-Kommission von 2018 zurückziehen.

NABU-GAP-Ticker

Was steht auf dem Spiel für Insekten, Bauernhöfe und unsere ländlichen Räume? Was sagt Julia Klöckner in Brüssel? Wie stimmen unsere Abgeordneten ab? Was passiert hinter den Kullissen? Im NABU-GAP-Ticker informieren wir über die Verhandlungen zur künftigen EU-Agrarpolitik – denn wir meinen, die Zeit der Hinterzimmerdeals ist vorbei. Es geht um viel – und die Öffentlichkeit hat ein Recht zu wissen, wie der Milliardenpoker um die Gemeinsame Agrarpolitik der EU abläuft. Abonnieren Sie diesen Blog um auf dem Laufenden zu bleiben, stellen Sie Fragen und diskutieren Sie mit uns über die Kommentarfunktion. Hintergrundinfos auf www.NABU.de/Agrarreform2021. Folgen Sie uns auch auf Twitter: @NABU_biodiv#FutureOfCAP

Titelfoto: Europäische Union 2013

2 Kommentare

Ute Hasenbein

23.10.2020, 12:30

Es ist und bleibt unverständlich, wie ein großer Teil der Landwirte den Zusammenhang zwischen der praktizierten Form der Landwirtschaft und dem Wegbrechen der Grundlagen, die sie doch für ihre Existenz eindeutig benötigen, verkennen, ignorieren oder einfach den Agrar-Verband-Sprech nachplappern. Beispiel der Landwirt aus Kupferzell gestern abend in den Tagesthemen, wo er sinngemäß sagte: man solle doch nicht von einem Extrem in das nächste verfallen, man müsse langfristig und in Generationen denken und könne nicht eine Sache gleich wieder verwerfen, bevor sie ihre Wirkung gezeigt habe. Nun, wer in Generationen denkt, muss erst recht schnellstens die Kurve kriegen, sonst war´s das mit den nächsten Generationen. Denn eine Wirkung (hin zum Besseren im Natur- und Artenschutz) wird der derzeitige Vorschlag nicht bringen, er wird das Gegenteil bewirken. Zudem hat die Welt einfach keine Zeit mehr irgendwelche vermeintlichen Wirkungen abzuwarten - JETZT ist der zeitpunkt zu handeln, ansonsten darf ab Morgn mit der Hand bestäubt und sich im Regentanz geübt werden. Bin gespannt, ob das die gewünschte Wirkung hat!

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Bettina Kirschner

25.10.2020, 06:06

...genauso ist es, Frau Hasenbein...die Problematik steht nicht erst seit Kurzem, sondern mindesten seit drei Jahrzehnten und ist stets von der Politik ignoriert und mit Beschwichtigungen und leeren Versprechungen (z.Bsp., dass bis 2020 der Anteil der ökologischen Landwirtschaft erhöht werden soll) abgewimmelt worden. Und auf irgendweine Wirkung braucht man nicht mehr warten, die ist längst eingetreten in jeglicher Form und Ausprägung der Zerstörung der Umwelt (Gewässer, Böden, Flora und Fauna, Ausgeglichenheit der Ökosysteme usw.) Leider ist der politische Wille noch immer nicht da, eine ehrliche Agrarwende zu veranlassen. Dann müssen wir Bürger weiter dafür kämpfen gemeinsam mit der Unterstützung des NABU und sämtlicher Organisationen und Verbände, die sich seit Jahren für Umwelt-und Tierschutz einsetzen.

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