Jurassic Trischen
Als Jurassic Park 1993 in die Kinos kam, war ich gerade sechs Jahre alt. Selbstverständlich durfte ich den Film, in dem sich ein buntes Dino-Allerlei an den Parkbesuchern gütlich tut, nicht sehen. Für einen kleinen Jungen, der ganze Herden von Gummidinosauriern hegte und pflegte (und die größeren Exemplare sogar an einer Leine über den Campingplatz zog), bedeutete das eine harte Zumutung, denn ich war wirklich vernarrt in die Biester. Meine Mutter kann heute noch fehlerfrei Namen wie Micropachycephalosaurus aussprechen.
Vor einigen Tagen stehe ich bei der Brutvogelkartierung am Nest einer Mantelmöwe. Plötzlich bin ich in die Zeit meiner Dino-Magazine zurückversetzt: Mir geht schlagartig auf, wie sehr dieses Nest jenen auf den Abbildungen von fossilen Dinosauriernestern, die in der Mongolei oder in Kanada gefunden wurden, ähnelt. Diesen Geistesblitz hatten andere natürlich schon vor mir. Paläontologen haben nachgewiesen, dass Dinosaurier nicht nur Nester bauten, sondern auch Brutpflege betrieben – und es gibt sogar Funde von mit Federn gepolsterten Nestern! Sie haben sicherlich auch schon einmal davon gehört, dass die Vorfahren der heutigen Vögel die Dinosaurier sind. Man kann es auch pointierter ausdrücken: Unsere Vögel sind die direkten Nachfahren der Dinosaurier. Noch mehr: Nach aktuellem Stand der Stammesgeschichte sind Vögel Dinosaurier.
Dass diese in der Folge eines Asteroideneinschlags vor 65 Millionen Jahren sämtlich umkamen, ist nämlich nicht die ganze Wahrheit. Die kurze Erzählung geht so: Aus dem großen Stamm der Dinosaurier gingen irgendwann zweibeinige Raubsaurier, die sogenannten Theropoden hervor. Zu ihnen gehörten so ikonische Arten wie Tyrannosaurus rex und Velociraptor. Einige von ihnen entwickelten in einem Jahrmillionen andauernden Prozess Federn und schließlich die Fähigkeit zu fliegen. Aber er hat sich gelohnt: Während alle ihre Verwandten ausstarben, überlebten genau diese gefiederten Leichtgewichte die ausgeprägten Umweltveränderungen. Genau wie ihre Urgroßeltern legten auch sie weiter Eier. Heute nennen wir sie Vögel. Und nun stehe ich verhinderter Paläontologe hier vor meinem Mantelmöwennest.
Ich werfe also einen vorsichtigen, neuen Blick auf die mich aus sicherer Entfernung skeptisch musternden Möwen. Eine von ihnen, stolze Urururururunekelin von T-Rex, „brüllt“, und ich finde, dass die Ähnlichkeit frappierend ist. Sollten die untenstehenden Bilder Sie nicht überzeugen, sehen Sie sich mal den Fuß eines Huhnes an. Oder, falls Sie gerade keines zur Hand haben, googlen Sie „Kasuar Fuß“. Überzeugt? Mit etwas Gänsehaut und erdgeschichtlich-nostalgischen Gedanken trete ich den Rückzug an.
In Jurassic Park (ich habe dann später heimlich das Buch gelesen) besteht der Witz der Erzählung darin, dass eine Neuzüchtung mithilfe von Dino-Erbmaterial gelingt. In der Geschichte wird dieses aus Mücken gewonnen, die DNA-haltiges Dino-Blut gesaugt hatten und danach in Harz eingeschlossen wurden, das durch Versteinerung zu Bernstein wurde. Bernstein angebohrt, Mücke ausgesaugt – Dino fertig! Aber so einfach ist es in Wirklichkeit nicht. Aus meiner eigenen Laborerfahrung weiß ich, dass DNA selbst aus frischen Biopsien nicht immer gut zu verwerten ist. Geschweige denn, man versucht ein 65 Millionen Jahre altes Molekül zu rekonstruieren und daraus ein Lebewesen zu machen..
Der Gedanke ist ja verführerisch: Wenn so viele Arten aussterben, können wir sie doch später einfach wieder neu erschaffen. Einige Forscher versuchen das gerade mit Mammuts. Ich finde, diese teuren und zeitaufwendigen Bemühungen verkennen, dass wir uns vor allem anstrengen sollten, bestehende Ökosysteme zu erhalten. Übrigens lehrt die Geschichte der Dinos auch, dass Arten sich nicht „mal eben“ anpassen können, auch wenn einige wenige die erdgeschichtlichen Katastrophen überleben. Dass die Möwen mich beim Nestbesuch nicht gefressen haben liegt daran, dass zwischen der Mantelmöwe Larus marinus und Tyrannosaurus rex eben doch ein paar Jahrmillionen liegen. Die vielzitierte Anpassung im evolutionären Sinne braucht Zeiträume, die den Teil der Erdgeschichte, der für den Menschen relevant ist, bei weitem übersteigen, und die bei den schnellen Veränderungen, die wir dem Planeten aufbürden, in der Regel nicht mithalten.
Neben den Vögeln gehören zu Trischen auch Strandfunde. Nun spülte mir der Zufall neulich einen recht großen Bernstein vor die Füße. Ich weiß ja, dass das alles Hirngespinste sind. Aber manchmal, abends, halte ich ihn ins Licht der Lampe und schaue, ob nicht vielleicht doch eine Mücke…nun ja. Aber der kleine Junge in mir hätte so gerne einen Velociraptor!
Im Bild brüllender Tyrannosaurus vs. Heringsmöwe (Stellen Sie sich mal kleine Ärmchen an der Möwe vor! Ein Mantelmöwenbild habe ich leider gerade nicht parat). Darunter rechts Fossilfund eines brütenden Citipati-Dinosauriers auf seinem Nest mit Eiern. Das Fossil heißt „Big Mama“ und ist im American Museum of Natural History in New York ausgestellt. Links das Nest der Mantelmöwe – nebenan waren schon zwei Küken geschlüpft. Ganz unten der Bernstein.
Bildreferenz Dinosauriernest:
By ★Kumiko★ – https://www.flickr.com/photos/kmkmks/6188900283/, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=96895479