Im Sturm
Seit Tagen quillt der Speicherkoog über von Rotfußfalken und Steppenweihen. Der Speicherkoog ist das nächstgelegene Naturschutzgebiet am Festland. Meldung folgt auf Meldung. Tagelang starre ich also Löcher in die Luft, denn auch ich möchte mich am Anblick dieser nicht nur seltenen, sondern auch außergewöhnlich schönen Tiere ergötzen. Aber, aber: Nichts! Der Himmel ist leer! Beide Arten wurden auf Trischen bereits mehrfach beobachtet. Aber dieses Jahr scheint die Mühe, einmal herüberzufliegen, zu groß zu sein. Nicht einmal einen Mäusebussard konnte ich bisher notieren! Es gibt Tage, da treiben mich meine durch Abwesenheit glänzenden gefiederten Freunde zum Wahnsinn.
Aber es gibt auch die anderen Tage. Es sind die Tage, an denen ich nichts mehr hören und durch den schmalen Augenschlitz zwischen Kapuze und Balaclava kaum noch sehen kann – und mich dennoch pudelwohl und ganz in meinem Element fühle. An diesen Tagen ist Sturm.
Ende vergangener Woche hatte ich an drei von vier Tagen Landunter. In peitschenden Schauern stand ich knietief im Wasser unter der Hütte und versuchte eine Reihe Plastikkanister, die ich im Laufe der Zeit am Strande gesammelt hatte, am Wegtreiben zu hindern. Wenn einmal die Sonne durchbrach, sah man im Wasser Heerscharen von Laufkäfern, Spinnen und Weberknechten um ihr schwindendes Leben kämpfen. Der Sommer trieb davon. Innerhalb weniger Minuten umstanden in wechselnder Himmelsrichtung mehrere Regenbögen die Hütte: Rettungsinseln, auf denen sich die Farben zusammengekauert hatten. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich liebe dieses Wetter. Es fühlt sich an, als wenn der Wind direkt durch den Brustkorb ans Herz fasst und es tüchtig durchrüttelt.
An solchen Tagen stehe ich stundenlang Wache. Eingepackt in den dick gefütterten Ledermantel, mit Handschuhen über den steifen Fingern, einem guten Fernglas um den Hals und der tobenden See fest im Blick warte ich auf den einen Moment: Den Moment, in dem ein winziger, rasender Punkt über dem Horizont erscheint und wieder in einem Wellental wegtaucht…aber noch ist das nicht mehr als ein hoffnungsvoller Gedanke. Und der versinkt mit jeder Regenbö weiter im Grau. Doch wer hätte jemals behauptet, dass die Suche nach Sturmtauchern ein Kinderspiel sei? Schließlich tragen sie ihr Wohlfühlwetter im Namen. Aber wo sind sie? Ist da draußen überhaupt irgendetwas? Immerhin wird mir das Warten bald versüßt.
Ich telefoniere gerade mit einem Freund, als ich mich vor Anspannung fast verschlucke: „R-R-RRAUBMÖWEEE!!“ Ich pfeffere das Handy zur Seite (‚tschuldigung, Jan!). Ein schwarzes Etwas saust niedrig unter den Sturmböen den Strand entlang. Ein Blick durchs Fernglas – ein Griff zur Kamera – zack! Weg ist sie! Das Herz pumpt.. Eine Silbermöwe ist ja ein eleganter Vogel. Aber verglichen mit einer Schmarotzerraubmöwe wirkt sie wie ein VW Passat neben einem Lamborghini Diablo. „Schmaros“ sind arktische Brutvögel, die im Herbst weit draußen auf See bis in ihre Winterquartiere im Südatlantik ziehen. Sie sind Meister des Sturms, der Kälte und des Windes, uns es gibt wahrscheinlich kaum einen Vogel der ihre blitzartige Manövrierfähigkeit übertrifft. Besonders toll finde ich, dass sie in verschiedenen Farbvarianten vorkommen: Der von mir zuerst beobachtete Vogel sah wirklich aus wie ein schnittiger schwarzer Teufel. Später folgte noch eine „helle Morphe“. Normalerweise haben alle anderen Möwen panische Angst wenn sie auftauchen, denn Schmarotzerraubmöwen traktieren andere Vögel, bis diese ihre Beute fallen lassen und die Raubmöwe damit abziehen kann. Diese hier stieß nur einmal etwas uninspiriert einer Silbermöwe in den Bauch und flog dann ab. Ein bisschen wie der böse Willi auf dem Schulhof, der das Schubsen dann doch nicht bleiben lassen kann. Obwohl er eigentlich keine Lust hat. Aber natürlich ist das schlichtweg ihre Lebensweise, ihre ökologische Nische. Die Schmarotzerraubmöwe ist genau so wenig „böse“ wie die Nachtigall.
Und dann erfüllt mir der Sturm doch noch meinen Traum. Ich wische mir zweimal die Augen: Doch. Da ist er. In irrsinniger Fahrt rast ein schwarzbrauner Punkt durch die Wellen. Gerade eben erkenne ich einen kleinen Körper, der zwischen zwei ziemlich langen, steifen Flügeln wie aufgehängt wirkt. Das Tier ist wahnsinnig schnell unterwegs. Mehrfach verliere ich den Vogel wieder aus den Augen. Und doch erkenne ich in etwa anderthalb Minuten Beobachtungsdauer keinen einzigen Flügelschlag. Es ist ein Dunkler Sturmtaucher! Falls Sie sich fragen, warum er es so eilig hat: Er kommt gerade aus Südamerika. Und wissen Sie, wo er wieder hin will, um zu brüten? Genau.
Hach! Wer braucht schon Schönwettervögel? Nimm das, Mäusebussard..
Bild 1: Die tosende See vor West. Den Dunklen Sturmtaucher müssen Sie sich leider vorstellen. Bei Windstärke 9 war nicht daran zu denken, ihn mit dem Handy durch das Spektiv zu fotografieren.
Bild 2: Die Schmarotzerraubmöwe. Ich liebe diese Vögel!