Frühling lässt sein graues Band…
Es war genau 11:50h, als ich in flirrender Hitze von meinem Buch aufsah. Vor meinen Augen tanzten die Buchstaben am Himmel Ringelreihen, bevor sie sich mitten über dem Meer zerstreuten wie ein kleiner Schwarm auseinanderstiebender Vögel. Vielleicht war mir die Hitze zu Kopf gestiegen. An der Südseite der Veranda wird es bei Windstille nämlich inzwischen so warm, dass die Holzplanken diesen sommerlichen Geruch von Bohlen in den Dünen an einem Ferienbadetag im Juli ausströmen. Aber alles Augenreiben half nichts: Da standen immer noch vier Buchstaben am Himmel.
Nun muss man wissen, dass meine Augen erst jüngst daran gescheitert waren, zuverlässig ein C von einem O und all seinen weiteren Verwandten zu unterscheiden, die einem vorgesetzt werden, wenn man eine neue Brille benötigt. Ich war also skeptisch. Vier wechselweise nach unten und oben geöffnete Cs, wie ich sie nun sah, hätten meine Optikerin sicherlich in diesen Skeptizismus einstimmen lassen, aber in meiner Sonnendösigkeit begann mir langsam doch zu dämmern, dass die seltsamen Lettern nicht etwa die Fortsetzung meiner Lektüre, sondern die sich nach oben und unten öffnenden Schwingen einiger ziemlich großer Vögel waren, die direkt auf mich zukamen. Und dann war ich plötzlich doch ziemlich wach.
Das ist immer ein spannender Moment: Da fliegt etwas, es ist ungewöhnlich, es kommt in deine Richtung. Dreht es vielleicht doch ab? Lässt sich irgendetwas aus Haltung oder Frequenz der Flügelschläge ableiten? Ruft der Vogel womöglich gar seinen Namen? – Nach Verstreichen einiger Minuten, viel Flimmern über dem Meer, stummen Vögeln und einer gepfefferten Mischung fluchender und flehender Worte vom Vogelwart war dann aber doch klar, dass ich heute Glück hatte: Es waren vier Kraniche – die Vögel, die seit etlichen Menschenaltern und in verschiedensten Kulturen als Sonnen-, Frühlings-, Glücks- und Liebesboten verehrt werden. Das hängt sicher damit zusammen, dass sie nicht nur die majestätischsten, sondern auch die lautesten Künder der neuen Jahreszeit, von mildem Wetter und wieder erblühendem Leben sind. Und sie zogen direkt über meine Hütte hinweg.
Sie haben bestimmt auch schon einmal Kraniche gesehen. Wahrscheinlich sogar eher, als wenn Sie auf Trischen wohnen würden, denn diese Vögel ziehen zu Frühlingsbeginn auf breiter Front von Südwesten nach Nordosten und im Herbst andersherum über Deutschland hinweg. Trischen liegt fast am äußersten Rand der traditionellen Flugwege, die diese langlebigen Vögel von ihren Eltern erlernen wie Menschenkinder den Schulweg von den ihren. Und während über meiner Heimatstadt Hamburg alljährlich große Formationen ihre lauten Krrru-Krrru!-Rufe hören lassen, werden sie auf Trischen, wenn überhaupt, nur in geringer Anzahl beobachtet.
In Hamburg blühen inzwischen die Kirschen. Hier auf der Insel passiert alles etwas später, bisher streckt nur ein kleines Löffelkraut die weißen Blüten schüchtern in den Himmel. Aber nun weiß ich ja doch: Der Frühling kommt, die Glücksvögel können nicht lügen. Als sie schon weit entfernt über der Nordspitze Trischens sind, blicke ich ihnen noch immer nach. Sie hängen nun wie ein feines graues Band in der hellblauen Luft und ich denke „Frühling lässt sein graues Band wieder flattern durch die Lüfte…“..oder erinnere ich mich etwa falsch an die Zeilen des alten Mörike? Ich muss in der Hitze wohl ein paar Buchstaben vertauscht haben.