Endlichkeit
Am Weststrand Süd finde ich eine Silbermöwe. Als das Wasser mit der Tide geht, bleibt sie im Spülsaum sitzen. Ihr Kopf ist auf die Brust gesunken, die Augen geschlossen. Sie ist ganz ruhig. Als ich vorbeigehe, regt sie sich kaum. Nur ganz eben noch bebt ihr Körper im Rhythmus der flachen Atemzüge. Ich gehe leise vorbei, möchte nicht, dass sie in ihren letzten Minuten noch Angst verspürt. Sie soll in Frieden sterben. Es ist ein warmer Tag. Die Sonne scheint auf den Vogel, die zurücklaufenden Wellen rauschen sacht. Ein guter Tod für eine Möwe, denke ich mir.
An einem Tag im August treibt der Wind den Sand in dichten Verwehungen über den Strand. Tanghaufen, Fischernetze, Plastikmüll; alles wird begraben unter dem unerbittlichen Andrängen des Sandes. Wo er Halt findet, bilden sich innerhalb von Minuten kleine Dünen. Neben einer bereits halb verschwundenen Holzpalette kauert dunkelbraun ein Häuflein Federn. Auch die Eiderente ist schon halb versunken im Strand. Als ich mich nähere, blinzelt sie. Dann wirft sie wie wild den Kopf hin und her. Sie hat keine Kraft mehr, aufs Meer zu fliegen. Am nächsten Morgen liegt sie starr unter einer der Sandverwehungen. Kein guter Tod für eine Meeresente, denke ich.
Wie oft habe ich das beobachtet, seit ich hier bin? Ich kann es nicht zählen. Erst heute Morgen schlug ein junger Wanderfalke direkt an der Dünenkante einen anderen Vogel, den ich nicht erkennen konnte. Frühstück für den Falken, Ewigkeit für sein Frühstück. Was ich allerdings zählen kann ist die Anzahl der toten Tiere, die ich gefunden habe: Es sind knapp 500. Den Großteil machen Vögel aus. Darunter sind die meisten wiederum diesjährige Möwen. Eine gewisse Verlustrate ist normal. Diesmal wird die Liste leider ergänzt durch eine erhebliche Anzahl Brandseeschwalben und Eiderenten, die wahrscheinlich an der Vogelgrippe gestorben sind (ich habe nicht alle getestet, einige Stichproben waren aber positiv). Auch ein paar Seehunde und Schweinswale stehen, wie jedes Jahr, auf der Liste. Ihnen gegenüber steht eine lange Liste von Beobachtungen des lebendigen Treibens um mich herum, die unter anderem etliche tausend Gelege und Jungvögel beinhaltet, ganz zu schweigen von den Heerscharen der Insekten, bei denen ich ja nicht einmal gezählt, sondern nur die Anwesenheit einer Art anhand einzelner Exemplare dokumentiert habe. Das ist das Werden und Vergehen auf der Insel Trischen.
Es ist sicherlich nicht die schönste Erzählung, aber sie gehört eben zum Leben dazu. „Leben“ ist ja gar nicht so einfach zu definieren. Es gibt tatsächlich bis heute keine allgemeingültige Definition. Googeln Sie ruhig mal, sie werden unterschiedliche und zum Teil recht interessante Versuche finden. Fest steht aber eines: Es ist endlich. Was lebt, wird auch vergehen. Und ob wir wollen oder nicht, das betrifft nicht nur Silbermöwen und Eiderenten. Über den Tod nachdenken ist unangenehm. Und selbst, wenn man sich mutig mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert – es bleibt doch schwer, darüber nachzudenken. Neben dem inneren Widerwillen besteht gewissermaßen auch eine technische Unmöglichkeit: Das Bewusstsein kann sich nicht vorstellen, nicht zu sein.
Nun endet meine Zeit auf Trischen. In wenigen Tagen werde ich ein letztes Mal in den Sand greifen. Werde den Wiesenpiepern meinen Abschied zuflüstern und den Basstölpeln irgendwo da draußen ein letztes Ahoi zurufen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich in einem Anflug sentimentaler Anwandlungen auch den Wellen, dem Mond und der Salzwiese irgendeine Art von Goodbye sagen werde. Dann steige ich an Bord und es geht los. Natürlich, mein Leben ist dann nicht vorbei. Es wird, so hoffe ich, noch Vieles folgen. Gar so alt bin ich ja noch nicht.
Aber war es nicht auch mit meinem Aufenthalt hier so? Das Gefühl, dass alles neu ist, dass eine ewige Zeit vor mir liegt? Die Löffelkräuter die sagten, dass es gerade eben erst Frühling wird? Die gen Nord ziehenden Gänse, die mir versprachen, dass der Herbst noch unendlich fern ist? Nun kommen sie zurück. In ihren Rufen klingt jetzt eine andere Erzählung. Und so ist meine Zeit hier eben auch ein Leben im Kleinen gewesen, „life in a nutshell“, oder „la vie en miniature“ – in jedem Falle: Endlich.
In mir hat sich viel gesammelt, ist viel gereift, ein bisschen wie die dicken Kürbisse, die ich vor ein paar Tagen an der Nordspitze gefunden habe. Der Herbst und der Tod erzählen eben auch davon, dass Leben war, und dass es wieder sein wird. Am Kadaver der Eiderente fraß wenig später die Mantelmöwe. Noch ein paar Tage später fand ich Käfer wie den Ufer-Totengräber und den Gerippten Totenfreund. Klingt ein bisschen unheimlich, ich weiß. Aber die Lerche ist nicht fern, die sie fressen wird. Am Ende bleibt Gesang im Frühling. Oder, naja, ein Wanderfalke, der die Lerche frisst.
Selbst die Insel ist ja endlich. Wie oft sich wohl ihre Substanz schon erneuert hat? Ob auch nur ein einziges Sandkorn noch vorhanden ist von denen, die sie vor vierhundert Jahren begründet haben? Ich glaube kaum. Und doch ist Trischen immer noch da. Selbst wenn es eines Tages keinen Flecken mehr gibt, den wir so nennen werden, ist er ja nur in etwas anderem aufgegangen.
Ich möchte nicht zu esoterisch werden. Sie wissen, ich bin vom Herzen her Wissenschaftler, und das bleibe ich auch. Das zwingt mich aber noch lange nicht zu intellektueller Borniertheit. Die Grenzen unserer Wahrnehmung sind ziemlich eng gezogen. Ich kann ja nicht einmal die Rufe von Fledermäusen hören, obwohl es sie selbstverständlich gibt. Und in all den Gehirnen, die ich in meiner Zeit in der Neuropathologie seziert habe, habe ich folgendes niemals gefunden: Einen Gedanken. Ein Gefühl. Einen Traum.
Mir hilft das Sein in und mit der Natur, mit der eigenen Endlichkeit umzugehen. Natürlich weiß ich nicht, wie es mir eines Tages ergehen wird. Ich weiß aber, dass es mir gut tut, nicht völlig abgekoppelt zu sein vom Werden und Vergehen, auch zu blühenden Lebzeiten nicht. Es gehört dazu. Es macht uns sogar aus. Und auch das ist ein Grund, warum wir die Natur um uns her respektieren sollten: Sie gibt uns einen Kontext, der die große Sinnfrage vielleicht nicht beantwortet, der aber helfen kann, sie auszuhalten.
Dies war übrigens noch nicht der letzte Eintrag, auch wenn er sich ein bisschen so liest. Ein paar Tage sind mir hier ja noch beschieden – und auch die wollen noch erzählt werden!
Die Bilder: Junger Wanderfalke, heute Morgen an Beute kröpfend. Der dicke Kürbis läutet den Herbst ein. Ein Aaskäfer – der Gerippte Totenfreund hält die Dünen sauber. Und schließlich die Eiderente aus dem Text.