Nicht durch weniger, sondern nur durch mehr Umwelt- und Sozialstandards sowie demokratischere Prozesse hat die EU die Chance, wieder für Bürgerinnen und Bürger attraktiv zu werden
Der Union Jack, Flagge Großbritanniens
Sie kommt wie ein Donnerschlag daher, die heutige Entscheidung der Briten, die Europäische Union verlassen zu wollen, und noch bis gestern Abend wollte dies niemand wirklich wahrhaben. Unklar ist zum jetzigen Zeitpunkt, wie der Austrittsprozess – jenseits der in Artikel 50 des EU-Vertrags festgelegten Vorgaben – im Einzelnen ablaufen wird und welche Konsequenzen die Entscheidung für die Briten selbst sowie für Europa hat. Ungeachtet verschiedener Differenzen, die es auch in der Vergangenheit schon zwischen der britischen und etwa der deutschen Sichtweise auf Europa gab, steht fest: Dieser Austritt ist – genauso wie es im Übrigen ein Grexit gewesen wäre – ein herber Verlust für die Europäische Idee.
Briten müssen sich über Verhältnis zur Europäischen Union klar werden
Zunächst müssen sich die Briten nun selbst darüber klar werden, in welchem Maße sie der Europäischen Union verbunden bleiben wollen. Vorstellbar ist auf der einen Seite ein kooperatives Modell nach norwegischem Vorbild. Durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) ist das Königreich Norwegen Teil des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), also einer vertieften Freihandelszone, in der die Regeln des Europäischen Binnenmarkts gelten. Da Norwegen auch das Schengener Abkommen unterzeichnet hat, bestehen außerdem Kooperationen im Bereich der Zoll- und Grenzkontrollen. Auf der anderen Seite vorstellbar ist demgegenüber auch ein weniger kooperatives Modell, bei dem das Vereinigte Königreich zurückfällt in Zeiten, wie sie unter Margaret Thatcher herrschten. Staatliche Regulierung würde dabei weiter zurückgefahren, bestehende Schutzstandards möglicherweise abgesenkt, die Insel drohte zum Steuerparadies à la Panama zu verkommen.
Diskussion über Zukunft Europas der Bürgerinnen und Bürger erforderlich
Berlaymont-Gebäude in Brüssel, Sitz der Europäischen Kommission (© Europäische Union 2015 / Foto: Lieven Creemers)
Die übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und die Europäische Kommission sollten sich in der Zwischenzeit nicht mit der – durchaus Ressourcen bindenden – Verwaltung der Austrittsverhandlungen zufrieden geben. Damit nicht Andere dem Beispiel der Briten folgen ist nun vielmehr die Diskussion über die Zukunft eines Europas der Bürgerinnen und Bürger wiederzubeleben, die in ansatzweise systematischer und gebündelter Weise zuletzt beim Europäischen Konvent unter dessen Präsident Giscard d’Estaing zwischen 2000 und 2003 geführt wurde. Im Grunde ist Europa nämlich immer noch stehen geblieben bei der sich aus der historischen Tradition der verschiedenen Europäischen Gemeinschaften erklärenden Union, die sich primär um wirtschaftliche Belange kümmert. Kaum im Fokus stehen bisher Umwelt- oder soziale Aspekte, obgleich gerade auch diese den Bürgerinnen und Bürgern ein Anliegen sind.