Schutzgebiete ohne Insektenschutz?
Nachdem Forschende lange Alarm geschlagen hatten, sorgte die „Krefelder-Studie” über den jahrzehntelangen Verlust von über 75 Prozent Fluginsektenbiomasse – und das in Schutzgebieten! – 2017 endlich für einen öffentlichen Aufschrei. Landesweit folgten Volksbegehren, Bürgerinitiativen und sogar ein Aktionsprogramm Insektenschutz der Bundesregierung. Sind sieben Jahre später notwendige Schritte umgesetzt? Erholen sich die Insekten und finden sie in Schutzgebieten dringend benötigte Rückzugsräume? Spoiler alert: Nein.
Warum sollten wir uns um Insekten kümmern?
In Deutschland gibt es rund 34.000 heimische Insektenarten. Sie nehmen verschiedenste Rollen in Ökosystemen ein:
- Sie sind neben dem Wind die einzigen Bestäuber in Mitteleuropa,
- sie sorgen für eine bessere Bodenfruchtbarkeit,
- sie halten Populationen von pflanzenfressenden Insekten in einem ausgewogenen Gleichgewicht,
- sie sind wichtige Destruenten,
- sie sind vor allem auch eine der Hauptnahrungsquellen für viele andere Tiergruppen: Ohne Insekten hätten die meisten Vögel, Amphibien, Reptilien und viele kleine Säugetiere keine Nahrungsgrundlage mehr.
Unsere Landwirtschaft und damit unsere Ernährungssicherung sind großenteils von Insektenbestäubung abhängig, vor allem durch Bienen, Schwebfliegen, Schmetterlinge und Käfer.
Ohne sie gäbe es weniger Obst und Gemüse, Kräuter oder Kaffee, aber auch unsere Fleisch- und Milchproduktion würde stark sinken, da gesunde Nutztiere eine ausgewogene Ernährung brauchen. Aufgrund dieser Ökosystemdienstleistungen sind diverse und individuenreiche Insektenpopulationen unabdingbar für eine intakte Natur und für uns Menschen.
Daher ist es naheliegend, dass wir Insekten schützen! Oder?
Tatsächlich sind Insekten wie alle anderen Wildtiere in Deutschland durch § 39 Abs. 1 im Bundesnaturschutzgesetz (BNatschG) geschützt. Dieser Schutzstatus gilt im gesamten Bundesgebiet und ist nicht auf Schutzgebiete beschränkt. Sie dürfen daher landesweit nicht ohne vernünftigen Grund gestört oder getötet werden. Hierbei gibt es nur wenige Ausnahmen, wie zum Beispiel bei Stechmücken, Neozoen (also gebietsfremde Arten) oder Vorrats- und Ernteschädlingen. Auch die Zerstörung ihrer Lebensstätten darf nur mit vernünftigem Grund geschehen. Zusätzlich stehen Wildbienen, die Europäische Hornisse, Waldameisen sowie einige Arten von Käfern, Schmetterlingen, Libellen, Heuschrecken und Netzflüglern unter besonderem Schutz (BNatSchG § 44 Abs 1). Das bedeutet, dass diese Tiere generell nicht gestört oder getötet und deren Lebensstätten nicht beeinträchtigt werden dürfen.
Trotzdem belegen zahlreiche Studien, dass Insektenpopulationen weltweit – und auch in Deutschland – seit Jahrzehnten zurückgehen. Seit langem berichten Forschende über einen anhaltenden Insektenschwund, der auch 2016 in dem IPBES Pollinator Report[1] aufgearbeitet wurde. Erst 2017 schaffte es jedoch eine Studie des entomologischen Vereins Krefeld, die das Ausmaß des langsam fortschreitenden Insektenschwunds aufzeigte, die Aufmerksamkeit der
Gesellschaft und Politik zu erlangen[2]. Sie zeigte, dass die Biomasse von gefangenen Fluginsekten in Schutzgebieten innerhalb von 30 Jahren um über 75 Prozent zurückgegangen ist. Seitdem konnten viele weitere Studien diesen Trend bestätigen[3][4][5][6], wie zum Beispiel die Folgestudie zur Diversität von Insekten in Naturschutzrealen (DINA)[7], die berichtete, dass das niedrige Niveau in den Jahren 2020 und 2021 gehalten wurde. Laut EU-Grassland-Butterfly-Index schwinden auch die Schmetterlingspopulationen. In Deutschland sind beispielsweise etwa 50 Prozent der Bienenarten[8] und etwa 46 Prozent der Steinfliegen[9] bedroht, EU-weit gilt das für fast 40 Prozent aller Schwebfliegenarten[10]. Eine Analyse[11] aller vorliegenden EU-weiten Roten Listen zeigte, dass 19 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht sind, bei den Insektenarten steigt dieser Anteil auf ein Viertel! Der Insektenschwund findet also überall, nicht nur in der nicht-geschützten Agrarlandschaft und in Städten statt, sondern auch in unseren Schutzgebieten, die eigentlich Refugien darstellen sollten.
Was führt zu dieser anhaltend dramatischen Entwicklung?
Insekten sind weltweit bedroht durch Lebensraum- und Nahrungsknappheit, Klimawandel, die starke Verschmutzung der Natur sowie durch die Ausbreitung invasiver Arten. Auch in Deutschland werden Insekten von diesen Stressoren negativ beeinflusst. Rund 50 Prozent der Fläche Deutschlands werden landwirtschaftlich, 30 Prozent forstwirtschaftlich genutzt, weshalb die Agrarlandschaft einen besonderen Einfluss auf unsere heimischen Insekten hat. Sie finden in eintönigen Agrarlandschaften weniger Lebensraum, und auch das Nahrungsangebot ist meist zu gering oder zeitlich stark begrenzt. So braucht die Mohnmauerbiene zum Beispiel ein reiches Angebot an Mohnblumen neben offenen, sandigen Flächen, die aber von Menschen ungestört sein müssen. Heimische Wildpflanzen sind jedoch zwischen großen Bewirtschaftungsflächen mit geringer Strukturvielfalt kaum mehr zu finden und durch den Einsatz von Herbiziden und Düngemitteln seltener vorhanden. Zusätzlich werden Insekten durch Insektizide getötet oder stark negativ beeinflusst. Auch in monotonen Wäldern finden Insekten weniger Lebensraum und Nahrung oder leiden unter dem Einsatz von Pestiziden. Hinzu kommen die zunehmende Flächenversiegelung, die Umnutzung von Flächen sowie die Lichtverschmutzung in Kommunen, die weiter zum Schwund der Insektenpopulationen beitragen. In Kombination mit sich verändernden klimatischen Verhältnissen, zunehmender Nahrungskonkurrenz mit gemanagten Bestäubern (zum Beispiel in der Honigbienenhaltung) sowie invasiven Arten (Einschleppung von Parasiten und Krankheiten) stehen Insektenpopulationen unter hohem Druck.
Auch in vielen Schutzgebieten kann Landwirtschaft uneingeschränkt stattfinden, nur in Naturschutzgebieten gibt es Verbote von bestimmten Pestiziden. Allerdings ist der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in vielen Schutzgebieten (zum Beispiel in FFH- und Vogelschutzgebieten oder Naturparks) praktisch uneingeschränkt erlaubt, und auch in streng geschützten Naturschutzgebieten dürfen trotzdem noch einige Mittel verwendet werden. Auch das nahe Umfeld von Schutzgebieten hat einen großen Einfluss auf deren Insektenvorkommen. Laut einer Studie von Brühl et al.[12] wurden in allen Insektenproben aus Schutzgebieten Pestizidrückstände gefunden, teilweise sogar Spuren von bereits seit Jahrzehnten verbotenen Inhaltsstoffen.
Aber wir haben doch Schutzgebiete, in denen sich Insekten erholen und vermehren können?
Durch die Auflistung schützenswerter Insektenarten zum Beispiel in den Anhängen der Fauna-Flora-Habitat (FFH)-Richtlinie, durch Regelungen im BNatschG oder über das Washingtoner Artenabkommen sollen bestimmte Arten Ziel von Schutzmaßnahmen in Schutzgebieten sein. Für Arten, die in Anhang II der FFH-RL stehen, sollen Schutzgebiete ausgewiesen werden und für die im Anhang IV, sollen generell Maßnahmen ergriffen werden, um deren Bestand zu verbessern. Von den zehntausenden europäischen Insektenarten stehen 32 im Anhang IV, diese sind also generell auf EU Ebene geschützt und es sollten Maßnahmen für sie ergriffen werden (auch außerhalb von Schutzgebieten). Sie zählen lediglich zu drei Ordnungen (Käfer, Schmetterlinge und Libellen), beispielsweise der Alpenbock, der Vierzähnige Mistkäfer, der Große Feuerfalter und die Grüne Keiljungfer. Es könnten also FFH-Gebiete allein für den Schutz zum Beispiel des Alpenbocks ausgewiesen werden. Praktisch ist dies jedoch kaum der Fall und der Erhalt bestimmter Insektenarten zählt meist nicht zu den Schutzzielen der Gebiete. Im Anhang II stehen 25 Arten (teilweise dieselben wie in Anhang IV) auch aus diesen drei Ordnungen. In beiden Anhängen fehlen jedoch wichtige Insektengruppen wie Bienen, Wespen, Schwebfliegen und viele andere.
Obwohl wir also ein nie dagewesenes Insektensterben beobachten, sind Schutzmaßnahmen und Erhaltungsziele in Schutzgebieten nicht auf Insektenschutz ausgerichtet und Insekten deshalb nicht ausreichend geschützt [13][14] [15]. Und dass, obwohl das BfN schon konkrete Maßnahmen und Schritte für schützenswerte Arten und deren Lebensräume aufgezeigt hat[16][17]. Doch meistens stehen solche Maßnahmen für den Insektenschutz nicht in den Managementplänen der Schutzgebiete. Diese umzuschreiben und den Insektenschutz aufzunehmen wäre ausschlaggebend, bedarf aber eines hohen Personalaufwandes.
Fazit und ein vorsichtiger Ausblick
Es ist ein Armutszeugnis, dass wir es nicht schaffen, Insekten in unseren Schutzgebieten ausreichend Schutz zu bieten, obwohl der Rückgang der Bestäuberpopulationen auf allen politischen Ebenen als zentrale Bedrohung für die Funktionsfähigkeit von Ökosystemen und unserer Lebensgrundlage identifiziert wurde. Sie sind ein nicht zu entbehrender Teil der Ökosysteme und dürfen in der Wichtigkeit ihres Schutzes nicht hinter größeren Tieren oder Pflanzen zurückstehen. Wieso gibt es spezifische Maßnahmen für Orchideenschutz in deutschen Schutzgebieten, nicht aber für unsere heimischen Wildbienen, Libellen oder Schmetterlinge? Insekten brauchen Schutzgebiete, in denen spezifische Maßnahmen für dort vorkommende seltene oder besonders ökosystem-relevante Arten in den Managementplänen stehen.
Ein Lichtblick ist die neue Verordnung zur Wiederherstellung der Natur der EU. Diese ist nicht nur ein Meilenstein für den Naturschutz, sondern widmet auch dem Schutz von Bestäubern einen eigenen Artikel. Sie bietet die Chance für ernsthaften Insektenschutz in renaturierten Gebieten sowie solchen, die zukünftig einen Schutzgebietsstatus erhalten könnten. Durch die Wiederherstellung von Lebensräumen, angepasste Managementpläne, Erhaltungsziele und die Erweiterung von Schutzgebietsverordnungen, die auf bestimmte Insektenarten und deren Anforderungsprofile zugeschnitten sind, können wir den Insektenschwund noch stoppen.
Quellen:
[1]https://www.ipbes.net/assessment-reports/pollinators
[2] Hallmann et al. 2017. More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. Plos One 12(10).
[3] Hallmann et al. 2020. Declining abundance of beetles, moths and caddisflies in the Netherlands. Insect Conservation and Diversity 13, pp.127–139.
[4] Seibold et al. 2019. Arthropod decline in grasslands and forests is associated with landscape-level drivers. Nature 574, pp.671-674.
[5] Van Klink et al. 2020. Meta-analysis reveals declines in terrestrial but increases in freshwater insect abundances. Science 368(6489) pp.417-420.
[6] Warren et al. 2021. The decline of butterflies in Europe: Problems,significance, and possible solutions. PNAS 118(2).
[7] Mühlethaler et al. 2024. No recovery in the biomass of flying insects over the last decade in German nature protected areas. Ecology and Evolution
[8] https://www.rote-liste-zentrum.de/de/Neue-Checkliste-fur-deutsche-Wildbienen-erschienen-Artenzahl-jetzt-uber-600-2178.html
[9] https://www.rote-liste-zentrum.de/de/Neue-bundesweite-Rote-Liste-Mehr-als-ein-Viertel-der-Insekten-Arten-bestandsgefahrdet-2099.html
[10] European Commission, Directorate-General for Environment, Vujić, A., Gilbert, F., Flinn, G. et al., Pollinators on the edge – Our European hoverflies – The European red list of hoverflies, Publications Office of the European Union, 2023, https://data.europa.eu/doi/10.2779/359875
[11] Hochkirch et al. 2023. A multi-taxon analysis of European Red Lists reveals major threats to biodiversity. PLOS One 18(11).
[12] Brühl et al. 2021. Direct pesticide exposure of insects in nature conservation areas in Germany. Scientific Reports 11(1).
[13] Chowdhury et al. 2023. Protected areas and the future of insect conservation. Trends in Ecology and Evolution 38(1).
[14] Scott, E. 2023. Protected areas poorly represent insects. Nat Rev Earth Environ 4(358).
[15] Köthe, S. et al. 2023. Recommendations for effective insect conservation in nature protected areas based on a transdisciplinary project in Germany. Environmental Sciences Europe 35(102).
[16] NaBiV Heft 172 (2.2): Das europäische Schutzgebietssystem Natura 2000 | BFN
[17] https://www.bfn.de/artenportraits
- Schutzgebiete ohne Insektenschutz? - 29. Juli 2024
- Das kleine Insektenschutzgesetz - 20. Oktober 2020
3 Kommentare
Anne Runge
29.07.2024, 17:31eine sehr gute schlaglichtartige Zusammenfassung der Problematik von Laura Breitkreuz; nach bald 50 Jahren beruflichem und weiterem Engagement im staatlichen Naturschutz und der Lektüre der neuesten Studie zum Thema Biodiversität des SRU bin ich leider zu der Einsicht gekommen, dass es nicht gelingen kann, die Politiker davon zu überzeugen, dass sie die erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen haben (s. Zukunftskommission Landwirtschaft) und die Wähler, dass sie ihr Anspruchsdenken / Verhalten ändern müssen. Anders geht es in unserem demokratischen System wohl nicht!!
AntwortenKarl-Michael Guensche
29.07.2024, 22:39Es ist nicht fehlendes Wissen , das unsere Politiker zu dieser Ignoranz gegenüber den Insekten und deren Schutzzonen leitet. Es ist purer Lobbyismus mit der Agrarindustrie und die Angst Wähler zu vergraulen . Das , verrückter Weise , schadet genau denen , die unsere Politiker "in Schutz nehmen". Entgegen jeder wissenschaftlichen Erkenntnis - und Viele wählen diese Ignoranten trotzdem. Es ist so traurig und beschämend.
AntwortenHanna
31.07.2024, 07:43Danke für die gute und fundierte Zusammenfassung zu dem Thema :)! Das hilft mir sehr, einen Insektensommer Termin vorzubereiten.
Antworten