EU-Artenschutz unter Druck – Einfallstor Wolf?

EU-Artenschutz unter Druck – Einfallstor Wolf?

Über den Schutzstatus des Wolfes wird seit Jahren und auf allen politischen Ebenen diskutiert: mal mehr, oft weniger sachlich. Seit Ende letzten Jahres steht nun in Brüssel die Herabstufung des Wolfes in der Berner Konvention zur Debatte, und als Folge auch eine Anpassung der FFH-Richtlinie – des zentralen Instruments für Artenschutz in der EU. Dabei steht zu befürchten, dass eine Änderung des europäischen Rechtsrahmens nicht nur Folgen für den Wolf, sondern auch alle anderen geschützten Arten haben wird.

Vom Wiederherstellen und Wahren des günstigen Erhaltungszustands

Praktisch gesehen entflammt der Streit um den Schutz des Wolfes meist aufgrund der Frage, ob und wann Ausnahmen vom strengen Schutz der FFH-Richtlinie gemacht werden dürfen. Für das Wolfsmanagement in Deutschland wohl am relevantesten war diesen Sommer das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bzgl. eines Entnahmebescheids in Österreich aus 2022 (nachzulesen hier), da dort der Wolf wie bei uns in Anhang IV der FFH-Richtlinie als streng geschützte Art gilt. Das Gericht befasste sich vor allem mit der Auslegung von § 16 Abs. 1 der FFH-Richtlinie, der Ausnahmen vom strengen Schutz definiert. Neben anderen Fragen der Verhältnismäßigkeit behandelt das Gericht die drei Kriterien, die für eine Ausnahmegenehmigung vom strengen Schutz erfüllt sein müssen:

  1. Die Ausnahme muss aus einem der in Art. 16 Abs 1 genannten Gründe vollständig gerechtfertigt sein (hier zum Beispiel die Verhinderung ernster Schäden an Weidetieren).
  2. Es gibt keine anderweitige zufriedenstellende Lösung (wie zum Beispiel zumutbarer Herdenschutz).
  3. Die Population der betroffenen Art verweilt in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand

Der Fokus besonders auf den dritten Punkt lohnt, da die Formulierung im Urteil des EuGH als auch in der dazugehörigen Pressemitteilung unvollständig gelesen werden könnte. Übergeordnetes Ziel der FFH-Richtlinie ist die Wiederherstellung und Wahrung des günstigen Erhaltungszustands von Arten und Lebensräumen. Im sogenannten „Tapiola“-Urteil des EuGH von 2019, auf das sich auch das aktuelle Urteil immer wieder bezieht, wird das Kriterium des schon erreichten günstigen Erhaltungszustands im Ausnahmefall ergänzt durch den hinreichenden Nachweis, dass eine Entnahme oder Maßnahme nicht dazu führt, dass sich der ungünstige Erhaltungszustand einer Population verschlechtert oder die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustand behindert wird (dort Rn 68, und auch EuGH 2007 342/05, Rn 29).

Aktivistischen Stimmen, die das aktuelle EuGH-Urteil als Anlass sehen, eine generelle Rechtsänderung der FFH-Richtlinie aufgrund zu strenger Kriterien zu fordern, kann hier also der Wind aus den Segeln genommen werden: Auch wenn eine Population noch keinen günstigen Erhaltungszustand erreicht hat, ist im Einzelfall Handlungsfähigkeit zur Vorbeugung ernster Schäden möglich, wenn die Maßnahme das zukünftige Erreichen des günstigen Erhaltungszustandes nicht beeinträchtigt (siehe auch Leitfaden der EU-Kommission Kapitel 3.2.3b (C2021 7301) ) –  und natürlich die anderen oben genannten Kriterien erfüllt sind.

Angriff auf den Europäischen Artenschutz in Brüssel

Fakt ist: Die FFH-Richtlinie ist der Artenschutzpfeiler der EU. Sie ist komplex, aber bei genauer Betrachtung durchdacht und ermöglicht in ernsten Ausnahmefällen Handlungsfähigkeit. Eine Änderung ist bei allem Aufwand, die manche ihrer Regelungen bedeuten, nicht notwendig und könnte weitreichende negative Folgen für den Artenschutz haben. Diese könnten schon demnächst drohen: In Brüssel wird dieser Tage entschieden, ob die EU bei der Ständigen Vertretung der Berner Konvention eine Absenkung des Schutzstatus des Wolfes beantragen wird. Sollte dies geschehen, und der Antrag Ende November angenommen werden, könnte darüber hinaus der Prozess zur Änderung der FFH-Richtlinie angestoßen werden. Und hier wahrscheinlich nicht nur in Bezug auf den Wolf, sondern auch anderer „unbequemer“ Arten wie Fischotter, Biber, Bär etc., wie Mitglieder der EVP (Europäische Volkspartei) schon ankündigten. Damit nicht genug: Auch eine generelle Änderung des Richtlinien-Textes könnte angestrebt werden – unter den aktuellen politischen Mehrheiten in der EU sicherlich nicht zum Wohle des Artenschutzes. Die Causa Wolf könnte sich somit zum Einfallstor einer generellen Abschwächung des Artenschutzes entwickeln.

Auch die NABU-Position zum Wolf stellt fest, dass es Handlungsspielräume geben muss, auch gegenüber geschützten Arten, die trotz alternativer Mittel wie Herdenschutz großen Schaden anrichten. Die Entnahme, das heißt der Abschuss, ist als letztes Mittel anzusehen und die Genehmigung streng zu prüfen. Den rechtlichen Rahmen dafür stellen FFH-Richtlinie und Bundesnaturschutzgesetz (§45a). Nachholbedarf besteht in Form einer klaren Auflistung für die entscheidungsbefugten Behörden, welche Begründungen, Alternativenprüfungen und Folgeabschätzungen die Antragsteller*innen einer Ausnahmegenehmigung vorweisen müssen. Daran scheiterten bisher die meisten Genehmigungen vor Gericht – jedoch nicht an einer grundsätzlichen Unmöglichkeit einer Entnahme. Der sogenannte Praxisleitfaden zur Auslegung des §45a BNatschG kann ein erster Anfang sein, gibt jedoch in den relevanten Punkten kaum Orientierung, zum Beispiel was genau als zumutbar im Herdenschutz gilt.

Neben der politischen Debatte – was braucht die Praxis?

Selbst wenn Wölfe irgendwann aufgrund politischer Veränderungen bejagt oder reguliert werden sollten, kann die grundsätzliche Herausforderung – nämlich ein guter Herdenschutz – dadurch nicht ersetzt werden. Kein Wolf wird durch menschliche Verfolgung lernen, dass er sich von Weiden (die meist ohne Menschen vorgefunden werden), fernhalten soll, denn es sind nicht die Weidetiere, von denen Gefahr für ihn droht. Es herrscht ein grundlegendes verhaltensbiologisches Missverständnis über die Konditionierung bzw. „Erziehung“ von Wölfen durch Bejagung. Unter anderem dieser Trugschluss führt auch heute noch dazu, dass manche Weidetierhaltende auf Herdenschutz verzichten in dem Glauben, ihr Problem erledige sich eh über kurz oder lang durch Abschuss. Die Tatsache, dass auch wenige verbleibende Wölfe unter Umständen großen Schaden an Weidetieren anrichten können, wenn diese nicht mit geeigneten Herdenschutzmaßnahmen gehalten werden, wird oft ignoriert – zum Leidwesen der Weidetiere und ihrer Halter*innen. Ohne Herdenschutz wird es in Zukunft nicht gehen, egal, wie viele Wölfe in Deutschland leben.

So viel auch die Handlungskaskaden in den berechtigten Einzelfällen auffälliger Tiere noch debattiert werden müssen, darf ein Fakt nicht vergessen werden: Die allermeisten Wölfe lassen sich von Herdenschutzmaßnahmen abhalten und ernähren sich zu über 95 Prozent von Wildtieren. Das ist auch besonders den Weidetierhaltenden zu verdanken, die Herdenschutz anwenden und sich dem täglichen Mehraufwand stellen, den dieser bedeutet. Ihre Unterstützung in dieser Herausforderung geht oft unter, wenn viele nur den Abschuss diskutieren und ihn als Allheilmittel anpreisen. Das ist absolut unfair gegenüber der Beweidung, die verglichen mit anderen Landnutzungsformen eher am unteren Rand der Wirtschaftlichkeit arbeitet. Für den NABU ist naturschutzfachliche Beweidung einer der Schlüssel für den Erhalt wichtiger Lebensräume, die elementar für den Fortbestand vieler gefährdeter Arten sind. Deshalb ist es unbedingt notwendig, die Belange der Weidetierhaltung auch abseits der öffentlichkeitswirksamen Wolfsdebatte ins Auge zu nehmen und zu unterstützen.

Der Zielkonflikt zwischen der Anwesenheit großer Beutegreifer und Weidetieren ist real. Die Lösungen dafür sollten zum Wohle beider nicht in vordergründig einfachen, plakativen Antworten wie Abschussquoten gesucht werden, denn das löst das komplexe und vielfältige Problem des Nebeneinanders nicht. Ohne Herdenschutz und wirtschaftlich abgesicherte Betriebe wird es nicht gehen. Wir bleiben daher im Austausch sowohl mit den Weidetierhalter*innen als auch der Politik, um als Vermittler wirklich praktikable Lösungen zu etablieren. Die Absenkung des europäischen Artenschutzes gehört nicht dazu.

Marie Neuwald
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9 Kommentare

Jörg Zidorn

11.09.2024, 20:02

Ein umfassender und sachlicher Artikel - extrem gut! Und ob es mancher Weidetierhalter hören mag oder nicht: es bleibt Fakt, daß nur Herdenschutz hilft. Oder gehört ihr zu denen, die immer noch ohne Gurt fahren? Tip: unbedingt dieses Jahr für Grundschutz sorgen (wird ja hier in Niedersachsen bezahlt!) und ab 2025 die Kopfprämie in Anspruch nehmen, damit die Kosten für Wartung und Pflege gedeckt sind.

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Birgit

12.09.2024, 09:41

Sehr geehrte Frau Neuwald, ich möchte mich über ihren guten und differenzierten Artikel bedanken. Ich kann nur hoffen, das Aufklärung und Naturschutz mehr bedacht und ein Gegenargument; gegen den Abschuß der Wölfe , zur Nutztierhaltung sein wird. Herzlichen Dank Birgit

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Christian Berge

16.09.2024, 19:11

Hallo Marie, genau am 11.09.2024 wurde getagt und nur 13 von 27 der EU Mitgliedstaaten waren für eine Abschwächung. Eine qualifizierte Mehrheit ist aber erforderlich, damit der Antrag der EU Kommission auf Abschwächung zur BK kommt. Sie haben nicht mal eine einfache Mehrheit geschafft. Es wurde zwar versucht, den ein oder anderen Unentschlossenen bis zum 13.09.2024 dazu zu bewegen, ebenfalls für die Abschwächung zu votieren, dieses Ergebnis ist mir nicht bekannt. Eins ist aber ziemlich klar, das im November 2022 der BK mit 80 % eine Abschwächung abgelehnt hat, dass sich daran in nur 2 Jahren nichts ändern wird. Christian

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Marie Neuwald

20.09.2024, 11:18

Hallo Christian, die Abstimmung ist immer noch nicht abgeschlossen, insofern ist noch alles offen. Wir werden sehen, wie sich die Mitgliedsstaaten final entscheiden.

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Dr. Peter Herold

17.09.2024, 17:41

Liebe Marie, vielen Dank für diesen fundierten und sehr klaren Artikel! Es wäre wünschenswert, dass die Politiker und Lobbyisten, die mit dem Thema zu tun haben, ihn gründlich studieren, bevor sie sich das nächste Mal zum Thema Wolf und/oder Herdenschutz äußern! Ergänzen würde ich noch, dass es höchste Zeit wird, dass nicht nur eine bundeseinheitliche Regelung hinsichtlich dessen getroffen wird, wie der Herdenschutz in jeweils vergleichbaren Situationen beschaffen sein muss, sondern dass auch endlich die gesetzliche Pflicht zum Herdenschutz gem. TSchutzNutzV und TSchG ernst genommen und Nicht-Schützen so sanktioniert wird, dass wir auch auf diesem Wege einem präventiven, flächendeckenden ordnungsgemäßen Herdenschutz näher kommen. Beste Grüße, Peter

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Jan Schöne

24.09.2024, 13:09

Das ist ein sehr guter Artikel. Der EuGH steuert in diesem Urteil vom 11.07.2024 klar in Richtung Herdenschutz, indem er zum Merkmal "keine anderweitige zufriedenstellende Lösung" (oben 2.) ausführt: Zu diesem Zweck müssen die zuständigen nationalen Behörden, (...), die Möglichkeit prüfen, nicht tödliche vorbeugende Maßnahmen anzuwenden, die u.a. in der Durchführung von vorbeugenden Maßnahmen gegen Angriffe auf Herden (...) sowie dem Erlass von MASSNAHMEN ZUR WEITESTMÖGLICHEN ANPASSUNG DEN DEN KONFLIKTEN ZUGRUNDELIEGENDEN MENSCHLICHEN PRAKTIKEN bestehen, um eine Kultur der Koexistenz zwischen der Wolfspopulation, den Herden und den Viehzüchtern zu fördern (...) (...) Es kann nämlich nicht zugelassen werden, dass eine anderweitige zufriedenstellende Lösung von vorn herein deshalb verworfen werden kann, weil die wirtschaftlichen Kosten ihrer Durchführung besonders hoch wären (Rn. 81 f). Daraus folgt m.E.: Die Verwaltung darf sich nicht damit abfinden, dass in einigen Regionen (Sachsens) auch nach 24 Jahren Wölfen Schafe und Ziegen un- oder schlecht geschützt gehalten werden, nach dem Motto: Es wird schon nichts passieren. Diese ignorante Bequemlichkeit mancher Tierhalter ist das Zündfeuer für regionale Risshäufungen, die dann nur schwer wieder unter Kontrolle zu bekommen sind. Genau darum wird sich Verwaltung aber kümmern MÜSSEN, um eine Kultur der Koexistenz zu fördern; auch mit Geld (s.o.). Passiert das nicht, ist die Suche nach anderweitigen zufriedenstellenden Lösungen noch nicht erschöpft und es fehlt im Ernstfall, wenn ein Wolf zwecks Herdenschutz abgeschossen werden soll, von vorherein an einer der vielen "Entnahme"-Voraussetzungen. Ich wünsche mir hier Kreativität und Ideenreichtum, wer, wie und womit nachlässige Schaf- und Ziegenhalter ermuntert und motiviert werden können, ihre Tiere besser zu schützen.

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Brita Westerholz

25.09.2024, 08:35

Glänzend argumentiert, liebe Marie! Danke dafür. Ein Text für Vielleser und thematisch Sattelfeste, finde ich. Was unbestritten wichtig ist. Aber notwendig ist auch die Überzeugung der Allgemeinheit. Was wird NABU hier anbieten? Beste Grüße Brita

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Marie Neuwald

25.09.2024, 12:37

Liebe Brita, diese Blogs hier sind natürlich allgemein öffentlich, haben den Fokus jedoch stark auf der politischen Debatte, die in der Tiefe wiederum nicht sehr interessant für große Teile der Allgemeinheit sind. Diese Menschen erreichen wir eher über unsere Pressearbeit, die z.B. heute sehr aktiv läuft. Und man muss aber natürlich auch akzeptieren, dass man nie alle erreichen oder gar "überzeugen" wird. Die Leute "vor Ort" werden am besten durch Positivbeispiele der Koexistenz, d.h. funktionierenden Herdenschutz und wirktschaftlich gefestigte Beweidungen, ins Boot geholt. Da können wir noch so viel schreiben - die Praxis muss klappen.

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Christian Kemnade

25.09.2024, 12:57

Ein sachlicher und informativer Beitrag. Danke dafür!

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