NABU-GAP-Ticker: Bericht zum Pflanzenschutz und Ernährungssystem in Europa zeigt den Reformbedarf der EU-Agrarpolitik
Berlin, 19. Mai 2020 – Ein umfassender Bericht zu Pflanzenschutz und Ernährungssystem in Europa zeigt, dass die EU-Agrarpolitik grundlegend reformiert werden muss, um eine dauerhafte Reduktion des Pestizideinsatzes zu ermöglichen.
Der Bericht „Crop Protection & the EU Food System: Where are they going?“ beleuchtet „Nebenwirkungen“, die im Zusammenhang mit dem Schutz landwirtschaftlicher Kulturpflanzen in Europa auftreten. Denn die europäische Landwirtschaft ist in hohem Maße von der Verwendung von Pestiziden abhängig. Um die Bewirtschaftungssysteme aber unabhängiger von chemischen Lösungen zu machen, müssen funktionierende, artenreiche und widerstandsfähige Ökosysteme gefördert werden. Der Bericht macht deutlich, dass obwohl die EU-Verordnung bereits darauf abzielt, das Risiko für die menschliche Gesundheit und die Umwelt durch chemische Pflanzenschutzmethoden zu verringern, verfügbare Daten bisher keine großen Veränderungen in der Verwendung und der damit verbundenen Risiken vermuten lassen.
Der Bericht appelliert deshalb an europäische und nationale Entscheidungsträger Strategien zur Stärkung der Widerstandskraft der Agrarlebensräume gegen so genannte Schadorganismen ambitioniert umzusetzen, um den Pestizideinsatz deutlich und dauerhaft reduzieren zu können. Business as usual“, d. h. intensiver Pestizideinsatz zur Gewinnmaximierung, auf absehbare Zeit darf keine Option sein, weil mit drastischen und unwiederbringlichen Schäden der Umwelt und von Ökosystemleistungen zu rechnen sei.
Morgen, am 20. Mai, will die Europäische Kommission ein Bündel von Maßnahmen für Artenvielfalt und eine nachhaltige Lebensmittelproduktion vorlegen.
Als Teil des so genannten Green Deals setzen die Biodiversitäts-Strategie und die Farm to Fork Strategie bis 2030 EU-Ziele, die Aspekte der ökologischen Landwirtschaft sowie der Anwendung von Pestiziden und Düngemitteln umfassen.
Ebenso wie der heute erschienene Bericht machen beide Strategien deutlich, dass dringender Handlungsbedarf besteht, den alarmierenden Artenverlust an Agrarvögeln und Insekten zu stoppen. Laut durchgesickerter Dokumente würde die Biodiversitäts-Strategie eine Wiederherstellung natürlich vielfältigerer Landschaften auf mindestens zehn Prozent des EU-Ackerlandes mittels Pufferstreifen, Brachland oder Landschaftselementen wie Hecken, Bäumen und Teichen fordern. Zudem solle zur Umsetzung beider Strategien ein größerer Teil der landwirtschaftlich genutzten Fläche Europas innerhalb der nächsten zehn Jahre ökologisch bewirtschaftet werden (laut Biodiversitäts-Strategie auf einem Viertel der Fläche).
Auch der Einsatz und das Risiko von Pestiziden in der Landwirtschaft solle laut beider Strategien reduziert werden. Während die Biodiversitäts-Strategie eine Halbierung der Anwendung sowie der Risiken von chemischen Pestiziden innerhalb der nächsten zehn Jahre vorsieht und auch aus früheren Entwürfen für die Farm to Fork Strategie ein 50 Prozent Reduktionsziel bekannt war, wurde laut letzter Pressemeldungen eine konkrete Zielvorgabe in der Farm to Fork Strategie gestrichen. Letztere stelle zudem Forderungen nach besserer Umsetzung des integrierten Pflanzenschutzes sowie einer besseren Umweltrisikobewertung von Pestiziden.
Der jetzt veröffentlichte Bericht untermauert die Notwendigkeit eines seit langem vom NABU geforderten Systemwandels in der Landwirtschaft. Dazu ist eine grundlegende Reformierung der EU-Agrarpolitik eine der wichtigsten Stellschrauben. Auch ein im Februar veröffentlichter Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofs zur nachhaltigen Verwendung von Pflanzenschutzmitteln legt eine Anpassung der EU-Agrarpolitik nahe, weil diese laut Bericht nur einen geringen Beitrag zur Durchsetzung der Prinzipien des integrierten Pflanzenschutzes, d. h. zur Reduktion des Pestizideinsatzes, leiste. Denn obwohl Landwirte verpflichtet sind, nach integriertem Pflanzenschutz zu wirtschaften und Pestizide erst als „ultima ratio“ einsetzen dürften, stellt die Einhaltung dieser Prinzipien keine Bedingung für pauschale Zahlungen aus dem EU-Agrar-Finanzmitteltopf dar. Eine zentrale Forderung des NABU ist deshalb, dass nicht pauschal Flächen subventioniert, sondern Investitionshilfen und Anreize für pestizidarme Anbauweisen bereitgestellt sowie zehn Prozent jeder Betriebsfläche als Raum für die Natur reserviert werden. Eine so geschaffene grüne Infrastruktur, natürliche Schädlingsbekämpfung, Bestäubung und andere Leistungen der Natur, helfen nicht nur der Artenvielfalt, sondern auch Landwirt*innen dabei, den Pestizideinsatz zu reduzieren.
Selbst der wissenschaftliche Beirat zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) warnte bereits in einer auf März 2019 datierten Stellungnahme zum Thema „Pflanzenschutz und Biodiversität in Agrarökosystemen“ den Rückgang der Biodiversität nicht zu unterschätzen. Unter anderem forderte der Beirat eine deutlich umfangreichere Förderung von vielfältigen Landschaftselementen, Habitaten und in die Produktionsfläche integrierte ökologische Vorrangsflächen und Pufferzonen und drängte auf dringende Umsetzung konkreter Maßnahmen zur Reduzierung von Pestizidanwendungen.
Die konsequente Umsetzung des Aktionsprogramms Insektenschutz, das im September letzten Jahres vorgestellt wurde, könnte nun den Grad der tatsächlichen Ambition der Bundesregierung für mehr Artenschutz unter Beweis stellen. Demnach würde ein für dieses Jahr geplantes Insektenschutzgesetz die Anwendung von Pestiziden (Pflanzenschutzmitteln und Bioziden) mit besonderer Relevanz für Insekten in ökologisch besonders schutzbedürftigen Bereichen ab 2021 verbieten und eine Anwendung auch außerhalb schutzbedürftiger Flächen davon abhängig machen, ob Rückzugsflächen für Insekten auf und angrenzend an Anwendungsflächen vorhanden sind.
Die Zuständigkeiten zur Umsetzung der im Aktionsprogramm verankerten Maßnahmen sind zwischen dem Bundesumweltministerium (BMU) und dem BMEL geteilt. Das BMU leistet seinen Teil zur Umsetzung des Aktionsprogramms beispielsweise durch eine Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes und durch konsequente Anpassung von Regelungen zu Abgabe und Anwendung von Bioziden. Ob ein eingeschränkter Einsatz von Pflanzenschutzmitteln (Pestizide zum Schutz von Kulturpflanzen) in Schutzgebieten sowie das Vorhandensein von Rückzugsflächen als Bedingung für Pflanzenschutzmitteleinsatz hingegen in Gesetztestexte gegossen und zugunsten der Biodiversität Realität werden können, hängt von der Bereitschaft und dem Vorgehen des BMEL ab.
Ob Regelungen zu Einschränkungen von Pflanzenschutzmitteln im Insektenschutzgesetz enthalten sind, wird letztendlich zeigen, wie ernst es der Bundesregierung und dem BMEL ist unsere Landwirtschaft nachhaltiger und zukunftsfähiger zu gestalten und einem Zusammenbruch unserer Artenvielfalt auf Wiesen und Äckern endlich entschlossen entgegenzuwirken.
Der NABU-GAP-Ticker
Was steht auf dem Spiel für Insekten, Bauernhöfe und unsere ländlichen Räume? Was sagt Julia Klöckner in Brüssel? Wie stimmen unsere Abgeordneten ab? Was passiert hinter den Kullissen? Im NABU-GAP-Ticker informieren wir über die Verhandlungen zur künftigen EU-Agrarpolitik – denn wir meinen, die Zeit der Hinterzimmerdeals ist vorbei. Es geht um viel – und die Öffentlichkeit hat ein Recht zu wissen, wie der Milliardenpoker um die Gemeinsame Agrarpolitik der EU abläuft. Abonnieren Sie diesen Blog um auf dem Laufenden zu bleiben, stellen Sie Fragen und diskutieren Sie mit uns über die Kommentarfunktion. Hintergrundinfos auf www.NABU.de/Agrarreform2021. Folgen Sie uns auch auf Twitter: @NABU_biodiv – #FutureOfCAP
Titelfoto: Europäische Union 2013
1 Kommentar
G.W.
19.05.2020, 15:45So wie ich es verstanden hab, tut sich also mittelfristig was in Europa in Sachen Insektenschutz. Was für Landflächen gilt, sollte auch für Gärten gelten, deren Gesamtfläche in Deutschland groß ist. Dort herrscht vorwiegend grüne Kurzrasen-Ödnis und ehem. Beete sind oft mit Matten und Holzspänen/Kiesel obendrauf faktisch tote Flächen in vielen (Vor-)Gärten. Dazu oft nektarlose oder gefüllte Blühpflanzen aus dem Garten-Discounter oder Sorten, mit denen keine Insekten oder Vögel hier was anfangen können. Unterschiedliche Habitate bruachen wir aber überall. Es ist wichtig, dass Politiker und Landwirte einen Sinneswandel bekommen, doch die Gartenbesitzer sehe ich im Sinne der Biodiversität ebenfalls in der Verantwortung. Leider kriegt man letztere nicht mit "Subventionen" geneigter...
Antworten