Natura 2000: Warum Vertragsverletzungsverfahren Deutschland antreiben müssen

Wiese, See, Berge

Natura 2000-Gebiet Chiemsee, Foto: Jennifer Krämer

Jedes Jahr findet am 21. Mai der Natura 2000-Tag statt. Dieses Jahr ruft die Europäische Kommission zur Naturbeobachtung in den Natura 2000-Gebeiten auf (Natura 2000 Day – European Commission). 

Im Licht des diesjährigen Natura 2000-Tages wollen wir 32 Jahre nach Inkrafttreten der FFH-Richtlinie und nach 45 Jahren Vogelschutzrichtlinie ein Resümee ziehen: Wie steht es um das Schutzgebiets-Netzwerk und die Vertragsverletzungsverfahren, die wegen der schlechten Umsetzung gegen Deutschland laufen?  Was genau wird im aktuellsten Verfahren angemahnt? Wie reiht sich dieses Verfahren in die vergangenen Verfahren ein? Welche Muster sind zu erkennen und was ist zu tun? 

Kaum 20 Kilometer bis zum nächsten Schutzgebiet

Eigentlich ist der Natura 2000-Tag ein Tag zum Feiern. Denn hier in Europa haben wir mit Natura-2000 das größte Naturschutznetz weltweit. Kaum ein*e EU-Bürger*in wohnt weiter als 20 km vom nächsten Natura 2000-Gebiet entfernt (Karte der Schutzgebiete Deutschlands). Arten wie Kranich, Seeadler und Biber verdanken der Ausweisung von Natura 2000-Gebieten ihr Comeback nach Jahren des besorgniserregenden Bestandsrückgangs.  

Das Natura-2000-Netz besteht aus Vogelschutz- und FFH-Gebieten, welche auf den gleichnamigen europäischen Vogelschutz- und Flora-Fauna-Habitat-Richtlinien beruhen. Die Richtlinien sind dabei keinesfalls neu. Die FFH-Richtlinie (Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie) besteht schon seit 32, die Vogelschutzrichtlinie (Richtlinie 2009/147/EG) sogar schon seit 45 Jahren. Trotzdem setzt Deutschland den im Natura 2000-Netzwerk vorgesehenen Schutz immer noch nicht effektiv um und verstößt damit gegen EU-Recht. Die EU-Kommission hat mehrfach Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, Deutschland riskiert damit letztendlich auch hohe Strafzahlungen.  

Aktuelle EU-Verfahren wegen zu wenig Schutz: Was bisher geschah

Erst im letzten Jahr wurde Deutschland verurteilt. FFH-Gebiete waren unzureichend rechtlich gesichert, die Erhaltungsziele zu unkonkret und rechtlich zu unverbindlich. Auch Erhaltungs- und Entwicklungsmaßnahmen waren nur unzureichend festgelegt – ungenügend, um günstige Erhaltungszustände von geschützten Arten und Lebensräumen sicherzustellen (NABU – Naturschutzbund Deutschland e.V. /). 

Ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wurde 2019 eingeleitet. In deutschen FFH-Gebieten verschwanden 18.000 Hektar artenreiches Grünland. Das liegt an intensiver Nutzung, Umwandlung in Äcker, Überdüngung und Pestizideinsatz (EU verklagt Deutschland wegen Grünlandverlust – NABU). Hier steht das Urteil des Europäischen Gerichtshofes noch aus.  

Und auch dieses Jahr wird Deutschland erneut ermahnt – und weil es aktuell schon ein laufendes und ein abgeschlossenes Verfahren aufgrund von Versäumnissen in FFH- Gebieten gibt, ist es diesmal der unzureichende Schutz in Vogelschutzgebieten, der angemahnt wird. Am 13. März 2024 haben wir über das drohende Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland berichtet: Die EU kritisiert mangelhaften Vogelschutz in Deutschland – NABU. Das im März an Deutschland übermittelte Mahnschreiben wird höchstwahrscheinlich zu einem weiteren Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland führen. Aber noch ist der Europäische Gerichtshof nicht involviert.

Noch kann Deutschland Maßnahmen vorlegen, um eine weitere Verurteilung abzuwenden

Nach einer dreimonatigen Frist muss Deutschland sich äußern. Und worum geht es dieses Mal?  In 220 der 742 existierenden Vogelschutzgebieten fehlen Erhaltungsmaßnahmen und für fünf Vogelarten gibt es nicht ausreichend Schutzgebiete (Vertragsverletzungsverfahren im März: wichtigste Beschlüsse). Außerdem geht es konkret um das Vogelschutzgebiet „Unterer Niederrhein“, in dem der bestehende Schutz nicht ausreicht, um den Rückgang der geschützten Vogelarten aufzuhalten (weitere Informationen: Vogelschutzgebiet Unterer Niederrhein).

Ein erkennbares Muster? 

In den Vertragsverletzungsverfahren im Rahmen der Natura 2000-Gebiete ist ein klares Muster zu sehen: Die rechtliche Sicherung ist nicht ausreichend, um die biologische Vielfalt in den Gebieten zu erhalten. Die rechtliche Sicherung ist zwar von der EU vorgegeben, muss aber in nationales Recht umgesetzt werden und dann natürlich auch durchgesetzt werden. Maßnahmen, mit denen aktiv bestimmte Lebensräume und Arten in den Schutzgebieten erhalten und gefördert werden sollen, werden gar nicht oder nicht konkret und verbindlich genug festgelegt. Die Arten, wie die bunten Wiesenkräuter und angeregt trillernden Feldlerchen werden in den Gebieten, in denen es speziell um ihren Schutz gehen sollte, nicht ausreichend vor negativen Einflüssen geschützt. 

An den sich häufenden Vertragsverletzungsverfahren zeigt sich, dass Deutschland die Natura 2000-Gebiete noch nicht so umsetzt, wie es angedacht und notwendig wäre. Dies wird auch mit Blick auf die Rote Liste der gefährdeten Biotoptypen deutlich (Veröffentlichung der Roten Liste gefährdeter Biotoptypen des BMUV). Besonders im Grünland ist hier eine deutliche Verschlechterung zu sehen. Auch die Rote Liste der Brutvögel sieht nicht besser aus: Jede zweite Brutvogelart ist dort genannt (Rote Liste der Brutvögel Deutschlands 2021 – NABU). Dabei sollten die Vögel im Natura 2000-Netz Rückzugsorte und Schutz finden, um ihre Bestände zu erhalten – das sagt zumindest der Name ”Vogelschutzgebiet ”. 

Fazit 

Die Natura 2000-Gebiete in Deutschland genügen den internationalen Ansprüchen nicht. Sie leisten ihren eigentlich wichtigen Beitrag für den Schutz der Biodiversität aktuell nicht. Sie sollten eigentlich das Herz des internationalen Naturschutzes sein und, ergänzt um nationale Schutzgebiete, ein wirksames Netzwerk auf 30% der deutschen Fläche bilden. So steht es in der EU-Biodiversitätsstrategie 2030 (BMUV: Biologische Vielfalt in Europa) und im Weltnaturabkommen (Die Weltnaturkonferenz 2022 – NABU). In Deutschland müssen wir unsere Schutzgebiete dringend fit machen, damit sie internationalen und nationalen Zielsetzungen entsprechen.  

Was die Schutzgebiete wirklich brauchen

Eine sinnvolle Rechtsgrundlage ist auf europäischer Ebene gegeben, aber wir müssen diese auch national umsetzen und den Naturschutz endlich ernst nehmen. Bund und Länder müssen eng zusammenarbeiten, um den Defiziten entgegenzutreten und Natura 2000 zu dem grün-blauen Lebensnetz zu machen, welches international als Vorbild angesehen werden kann und der Artenvielfalt in Deutschland echte Rückzugsräume bietet. Es braucht eine ausreichende Finanzierung, um dieses Großprojekt stemmen zu können und genug Fachpersonal, von Bundeseben bis in die Kommunen, welches für den Naturschutz brennt aber nicht mit zu viel Arbeit verbrannt wird. Und auch die Landnutzenden müssen mitgedacht werden. Es müssen smarte Lösungen gefunden werden, bei denen Landnutzung und Naturschutz miteinander in Einklang gebracht werden. Dort wo das nicht möglich ist, darf der Naturschutz nicht zur finanziellen Last der Landnutzenden werden, sondern muss zielführend gefördert werden. Damit wir in naher Zukunft am Natura 2000-Tag die europäische Naturvielfalt feiern können ohne Angst vor ihrem Verschwinden.

Übrigens: Das alles können wir am 9. Juni einfordern: Indem wir bei der Europawahl für Natur und Klima wählen!

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