Ob Rotkäppchen gelogen hat, als es vom bösen Wolf sprach, weil er sich ihr Vertrauen erschlichen haben soll, um die Großmutter zu verspeisen, ist eine Frage, die sich heute kaum mehr beantworten lässt. Ob Mowgli wirklich von Wölfen großgezogen wurde, ob sich der Schlittenhund Buck den Wölfen in Alaska angeschlossen hat und ob Kevin Costner leibhaftig mit Wölfen tanzte – vielleicht kommt es gar nicht drauf an, zu wissen, was wahr ist und was nicht, sondern nur darauf: Von Wölfen geht eine heimlich-unheimliche Faszination aus, die uns bei Vollmond nicht ruhig schlafen lässt.
Ein Wolf am frühen Morgen – Foto: Jürgen Borris
Es ist ein anderes Empfinden von Welt, das uns ergreift, wenn wir erfahren, dass einzelne Wölfe durch Hessen streifen. Eine andere Art des Unterwegsseins im Wald, des Spazierengehens in der Dämmerung. Auch wenn unser Verstand uns sagt, dass das Überqueren jeder Straße um vieles gefährlicher ist als der Nachtgang im Wald und dass wir uns mehr vor einem Querschläger eines Jagdgewehrs fürchten müssen als vor der Begegnung mit wilden Tieren, bleibt ein unbestimmtes Bauchgrimmen, eine höhere Spannung, ein unfassbares Dunkles. Wer schon einmal in den Karpaten war, wo Wölfe zum Alltag der Hirten in den Bergen gehören und wo die Herden nachts im Pferch stehen, um von kräftigen Hunden bewacht zu werden, kennt dieses Gefühl.
Jahrzehntelang haben wir es verdrängt, mit dem Abschuss der letzten Wölfe und anderer Beutegreifer den vermeintlichen Sieg der Zivilisation über das Verstörende in der Natur zelebriert. Und nun kehrt es langsam zurück, mit jedem Wolf, der in der Zeitung steht, mit jeder aufgeregten Meldung über mutmaßliche Sichtungen im Taunus, in der Rhön oder im Knüllgebirge, mit jedem verwackelten Foto, mit jeder Empörung von Jägern, dass da noch jemand anders Rehe reißt: das Wilde ist wieder da! Es drängt zurück in unser Bewusstsein. Die geordnete Welt gerät ein wenig ins Wanken. Unbestimmte Ängste brechen sich Bahn. Das Wilde ist deshalb nicht nur schön, wie eine aktuelle Umfrage der Bundesregierung zum Naturbewusstsein zeigt: 41 Prozent der Deutschen finden die Verbreitung des Wolfes derzeit „nicht gut“. Ihnen stehen 44 Prozent gegenüber, denen die Rückkehr gefällt.
Viele NABU-Wolfsbotschafter kennen das, wenn sie Vorträge halten und über den Wolf aufklären wollen. Das „Willkommen Wolf!“ des NABU stößt nicht selten auch auf Ablehnung, Wut und Abwehr. Es wäre falsch, den Skeptischen und Verzagten ihre Ablehnung vorzuwerfen, sie als ewig gestrig abzutun oder gar als „Wolfsfeinde“ zu verurteilen. Wenn wir ehrlich sind, spüren wir die Irritation des Wilden in Gestalt des Wolfes auch in uns selbst. Und das, je näher er uns kommt. Denn der Wolf braucht keine fernen Wildnisse, er kommt ganz gut mit unserer Welt klar und spaziert bis ins die Dörfer hinein. So wie mittlerweile viele wilde Tiere, die aus den lebensfeindlichen industrialisierten Agrarsteppen in den Siedlungsbereich fliehen. Rehe, Füchse und Wildschweine sind im Grüngürtel der Städte längst keine Seltenheit mehr.
In Gestalt des Raubtiers, das dem Menschen gefährlich werden kann, rührt der Wolf aber viel tiefere Schichten in uns an als all die anderen Tiere. Seine unbezähmbare Kraft und Eleganz, sein unbändiger Überlebenswille, sein leidenschaftliches Jagen im Rudel, sein unheimliches Heulen im Dunkeln – all das ist uns Menschen so nah, dass es auch den wilden Steppenwolf in uns erwachen lässt. Der Sehnsucht nach mehr Bewilderung des eigenen Lebens steht dabei die Furcht vor dem Verlust zivilisierter Lebensordnung gegenüber. Es ist die Ambivalenz des Wilden in uns selbst, die wir mit jedem rückkehren-den Wolf aus Neue spüren. Diese Irritation des Gewohnten ist heilsam für eine Gesellschaft, die sich wähnt, die Natur beherrschen und technisch beliebig gestalten zu können. Sie erinnert uns von neuem daran, dass nicht das Wilde uns braucht, sondern wir das Wilde, um auf diesem Planeten zu überleben. Jeder Grashalm, der aus der Ritze sprießt, jeder Hahnenfuß, der über die Beete hinkriecht, ist ein heimlicher Bote des Wilden, dem wir angehören. Nicht wenige übergehen die Botschaft und spritzen sie im Garten mit Glyphosat tot. Dabei wissen wir längst, dass wir unsere Perspektive auf die Natur ändern müssen. Mit den Worten Gerhard Fitzthums: Nach uns kommt nicht die Sintflut, sondern die Wildnis.